Umsteuern der Gesellschaft

Umsteuern der Gesellschaft


von Heiko Kleve


 


Das Thema der Wachstumsreflexion, insbesondere des Wirtschaftssystems, verlässt uns nicht. Bereits Birger Priddat hat das (zumindest implizit) adressiert. Ganz explizit ist es von André Reichel angesprochen worden. Und auch unsere heutige Zwischenruferin, Prof. Dr. Claudia Kemfert, die bekannteste deutsche Wissenschaftlerin für Energie- und Klimaökonomie, mahnt genau dies an: Wir sollten die Chance der Stunde, den besonderen Moment der angehaltenen Welt nutzen, um die Gesellschaft auf Nachhaltigkeit hin umzusteuern. Sie zählt zahlreiche Bereiche auf, in denen dies passieren müsste.


Niklas Luhmann hat 1986 in seinem Buch „Ökologische Kommunikation“ (Opladen: Westdeutscher Verlag) die Frage reflektiert, ob sich die moderne Gesellschaft auf die ökologischen Gefährdungen einstellen kann und ernüchternde Beschreibungen und Erklärungen geliefert. An den Eigendynamiken der gesellschaftlichen Systeme prallt zunächst das ab, was etwa moralisch an diese herangetragen wird. Auch das, was die Politik an Veränderungsimpulsen in Richtung dieser Systeme, etwa bezüglich der Wirtschaft, kommuniziert, kann die adressierten systemischen Prozesse nicht zielgerichtet verändern, sondern nur zur Selbstveränderung anregen. Das scheint mir eine Grunderkenntnis der Systemtheorie zu sein.


Daher stellt sich die Frage, die ich an unsere Protagonisten, Steffen Roth und Fritz Simon, weitergeben möchte, wie die von Claudia Kemfert angemahnten Transformationen in demokratischen Prozessen so aufbereitet, entschieden und ordnungspolitisch implementiert werden können, damit sie tatsächlich in nachhaltiger Weise das entschleunigen, was als zentrales Problem diagnostiziert wird: die Wachstumsdynamik des wirtschaftlichen Systems.


Gerade die Suche nach Antworten auf die Frage, wie ein Umsteuern gesellschaftlicher Dynamiken gelingen kann, ist bei Beachtung der gegebenen sozialen Komplexität wohl die schwierigste Herausforderung, mit der wir uns befassen können. Wenn wir die systemtheoretische Bewertung akzeptieren, dass wir in einer polyzentrischen Gesellschaft leben, dann könnte es sein, dass das System, das wir bisher als Steuerungszentrum identifizieren, nämlich die staatliche Politik, dafür nur bedingt infrage kommt.


Oder zeigt uns die aktuelle Krise, dass die Systemtheorie hier falsch gelegen hat?


Haben nicht die politischen Entscheidungen genau das bewirkt: ein Aus-den-Angeln-heben gesellschaftlicher Dynamiken? Ist jetzt tatsächlich der Zeitpunkt gekommen, der weiter dafür genutzt werden sollte? Stehen wir am Beginn dessen, was alle Gesellschaftsverbesserer der letzten Jahrzehnte erträumt haben? Können wir die sozialen Systeme nun endlich so umgestalten, dass diese sich in die menschlichen und ökologischen Bedürfnislagen passender als bisher einbetten?


Oder spricht aus solchen Ansinnen die menschliche Hybris der Gesellschaftskonstruktion, die auch den Sozialismus mit seiner staatlich zentrierten Gesellschaftsplanung charakterisiert und die zumindest in der konsequent liberalen Sozialphilosophie etwa eines Friedrich August von Hayek in der Mitte des 20. Jahrhunderts als ein sicherer „Weg zur Knechtschaft“ (München: Olzog, 2011) kritisiert wird?


 


 


Das Problem des ungezügelten Wachstums


von Claudia Kemfert


 


In der Corona Krise werden viele Dinge hinterfragt: Immer schneller, immer weiter, immer mehr, kann das gehen? Brauchen wir überhaupt Wirtschaftswachstum? Müssen wir nicht weg vom Konsumwahn? Es ist gut und richtig, dass wir im jetzigen Stadium alles hinterfragen. 
Zum Wirtschaftswachstum: Wachstum ist eigentlich etwas Wunderbares – nicht nur in der Kindheit wachsen wir, sondern unser ganzes Leben lang. Menschen, Tiere und Pflanzen sind Teil eines ewigen Kreislaufes aus Werden und Vergehen. Leben ist Wachstum. Die Erde ist über Milliarden von Jahren zu dem gewachsen, was sie heute ist. Und sie dreht sich immer weiter. Wäre das Wirtschaftswachstum ähnlich organisiert, würden wir uns darüber freuen. 



Problematisch ist ein ungezügeltes Wirtschaftswachstum, das den Planeten zerstört statt ihn zu beleben. Wir müssen das Wirtschaftswachstum vom fossilen Energieverbrauch entkoppeln. Und wir müssen uns abgewöhnen, das Wirtschaftswachstum als Maßstab für Wohlstand zu definieren. Statt vor der Tagesschau Börsenkurse zu zeigen, sollten wir lieber die Indikatoren der Nachhaltigkeit unseres Planeten erfahren: Ressourcenverbrauch, die Sauberkeit der Luft oder den Anteil erneuerbarer Energien. 



Wachsender Umweltschutz, wachsende Gesundheit, wachsender Zugang zu sauberem Trinkwasser und sauberer Energie hingegen sind wünschenswert. Der wachsende Einsatz von beispielsweise erneuerbaren Energien, klimaschonender Mobilität, steigender Gesundheitsvorsorge sowie Techniken zur Herstellung von sauberem Trinkwasser kann für wachsenden Wohlstand sorgen. Dann wäre Wirtschaftswachstum nicht die Ursache eines globalen Klimawandels, sondern dessen Lösung. 
Aber sind die Klimaschutzziele und uneingeschränkter Konsum miteinander vereinbar? Sollten wir unseren jetzigen Konsum einschränken? Auch hier ist die Frage: Konsum von was? Konsum, der zu Überfischung, Vermüllung und Zerstörung der Erde führt, muss natürlich aufhören, und zwar sofort! Aber wir werden die Treibhausgase nicht allein über Verzicht um 95% reduzieren. Ein solches Ziel scheint unerreichbar fern. Wir müssen den Menschen einen machbaren Weg zeigen und dafür auch politisch die Weichen stellen. Statt Askese zu predigen und zu üben, sollten wir uns freuen: Mit Klimaschutz bleibt die Welt lebenswert. Klimaschutz macht Spaß. Und nachhaltig konsumieren ist einfach. 
Es bedarf aber eines kompletten Umsteuerns in allen Bereichen: Ab sofort muss jede Investition statt in fossile in erneuerbare Energien fließen. Das Motto lautet: „Renewables First“!  Also Schluss mit Subventionen für fossile oder atomare Energien. Stattdessen müssen die Folgeschäden endlich eingepreist werden. Wenn Öl, Gas und Kohle so teuer wären, wie sie es in Wahrheit sind, werden die Leute mit großer Begeisterung auf Wind, Wasser, Sonne und Geothermie umsteigen. Wir brauchen eine Regulierung der Finanzmärkte für attraktive Investitionen in die globale Energiewende. Das ist der Anfang und mit dem entsprechenden politischen Willen leicht umzusetzen. Dann geht’s weiter mit dem nächsten Schritt: Alle Produkte müssen nachhaltig und recycelbar sein. Die Mobilität sollte öko-elektrisch und klimaneutral sein. Auch das kann man durch entsprechende Rahmenbedingungen ermöglichen und einen Wettbewerb klimabewusster Ökonomie in Gang setzen. 
Effizienz, Suffizienz, Konsistenz: was denn nun? Das Problem an solchen Begriffen ist leider immer, dass man sich erstmal verständigen muss, was damit gemeint ist. Dabei ist doch klar, dass wir – nach über 40 Jahren Diskussion über die Grenzen des Wachstums, über Umwelt- und Klimaschäden als Folge unseres Wirtschaftens – jetzt endlich handeln müssen. 



Effizienz, die Vermeidung von Verschwendung, also mit möglichst wenig Ressourcenverbrauch ans Ziel zu kommen, ist dabei natürlich wichtig. Andererseits neigt der Mensch dazu, ständig mehr zu wollen. Das führt zu sogenannten Rebound-Effekten. Autos beispielsweise verbrauchen heute theoretisch weniger Sprit als früher, tatsächlich aber verbrauchen sie mehr, weil sie größer und schwerer geworden sind und mit Klimaanlage und elektronischem Service unterm Strich einen höheren Energieverbrauch haben als die Spritfresser früherer Jahrzehnte. 
Suffizienz, Genügsamkeit, ist deswegen der logische nächste Schritt. Oder anders gesagt: Verzicht scheint unverzichtbar. Wir brauchen ein Konsumbewusstsein, das den realen Bedarf hinterfragt und vor allem die jeweiligen Folgen eines bestimmten Konsumverhaltens einbezieht. Wenn wir nicht von selbst aufhören, immer mehr zu brauchen, müssen wir eine klimaverträgliche Obergrenze definieren. Eine Art CO2-Budget ist sinnvoll: Wenn jeder Mensch nur noch 6,5 Kilogramm CO2 pro Tag ausstoßen darf, dann wird er lernen, wie er mit weniger zurechtkommt. Jedes Land ist gefordert, dass dieses Klima-Budget nicht überschritten wird und muss dies mit entsprechenden Maßnahmen umsetzen. 



Konsistenz, Kreislaufwirtschaft, also eine Welt ohne Abfälle, in der alles wiederverwertet wird, ist ein verlockender Gedanke. Die Natur macht es uns in wunderbarer Weise vor. Bislang gelingt es uns nur, die Lebensdauer von Rohstoffen im Verwertungsprozess zu verlängern, von echten Kreisläufen kann kaum die Rede sein. Es wird zwar viel von „Re-Cycling“ gesprochen, aber vollkommene Kreisläufe sind noch Utopie. 
Deswegen ist die Strategie-Diskussion nicht hilfreich, erst recht nicht die Frage, welche der Strategien die beste ist. Derzeit sollten wir alle drei Wege beschreiten, gleichzeitig nebeneinander oder am besten miteinander verzahnt. Hauptsache, wir kommen endlich mit großen Schritten weiter! 
Die Verantwortlichen in der Politik sind genauso gefragt wie jeder einzelne Mensch. Es geht vor allem darum, jegliches Wirtschaften komplett auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz auszurichten. Dies braucht einen bunten Strauß an Instrumenten aus Ordnungsrecht und ökonomischen Rahmenbedingungen. Die Politik muss die Instrumente bauen und zur Verfügung stellen; die Menschen müssen dann verantwortungsbewusst, kreativ und harmonisch auf ihnen spielen. 


 


 


Das Problem der ungezügelten Verwechslung von Umwelt mit Natur


von Steffen Roth


 


Im Unterschied zu André Reichels ausdrücklicher Polemik liest sich Claudia Kemferts Beitrag eindrücklich eingängig. Man ist geneigt, Zeile für Zeile abzunicken. «Wachsender Umweltschutz» gepaart mit «Effizienz, Suffizienz, Konsistenz». Wenn man sich einlässt, dann scheint es in der Tat glasklar, dass wir nach der gefühlt ewigen Diskussion über Wachstumsgrenzen und Umweltschäden nun endlich handeln müssen.


Wie also kann man als Systemtheoretiker, dem die Umwelt nicht nur theoretisch am Herzen liegt, ernste Bedenken haben, wenn man einen derart wohlformulierten und wohlmeinenden Beitrag liest?


Die Antwort ist einfach: Weil man als Systemtheoretiker ein anderes Verständnis von Umwelt hat. Umwelt ist dem Systemtheoretiker alles, was nicht das System ist. Umwelt ist demnach kein System. Auch kein Ökosystem.¹


Eine grundlegende Fehlannahme der anderweitig durchweg systemtheoretisch fundierten «Diskussion über die Grenzen des Wachstums, über Umwelt- und Klimaschäden als Folge unseres Wirtschaftens» ist damit bereits genannt: Man diskutiert über die Umwelt, als sei sie ein System, das man als solches beobachten, kontrollieren oder eben schützen kann.


Jede Umwelt ist komplexer als ihr System. Dass die Umwelt zu komplex ist, um von einer einzelnen Person vollständig erfasst zu werden, ist sicherlich unstrittig. Aber selbst das umfassendste Sozialsystem, Gesellschaft, vermag nicht die komplette Komplexität seiner Umwelt zu erfassen. Entsprechend muss bei der gesellschaftlichen Umweltbeobachtung erheblich Komplexität reduziert werden. Seit der Entdeckung der Grenzen des Wachstums geschieht das auf eine zweifach problematische Weise.


Zum einen glaubt man zu wissen, dass wirtschaftliches Wachstum ursächlich für unsere Umweltprobleme verantwortlich ist, und nicht etwa eine opulente Wohlfahrtspolitik wirtschaftliches Wachstum notwendig macht. Mehr Politik gilt gemeinhin als Lösung und nicht als Problem, und das obwohl sich auch die inhaltlich fantasievollste grüne, blaue oder andersfarbige Wohlfahrtspolitik formal zumeist ganz fantasiearm auf Umverteilung allenfalls immer knapperer wirtschaftlicher Ressourcen beschränkt.


Zum anderen erhebt man die Umwelt zur Richtschnur aller wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen, und denkt dabei doch nur an «Natur». Natur aber ist nur eine Umwelt unter vielen. Genauer gesagt handelt es sich bei Natur um nichts anderes als das Umweltkonzept der Naturwissenschaften.


Nun ist es erst mal kein Fehler, Wirtschaft und Politik auf das Umweltverständnis eines bestimmten Wissenschaftszweigs einzuschiessen. Auch können die Naturwissenschaften auf eine lange, erfolgreiche und folgenreiche Kooperationsgesichte zurückblicken, die weit über die Zeit hinausreicht, in der Naturforscher als zunehmend nützlicher Ballast von Kanonenbooten und Handelsschiffen die Welt entdeckten und vermassen. Die Triple Helix aus Politik, Wirtschaft und Naturwissenschaft hat sich als äusserst tragfähig erwiesen. Wer eine Weltsicht, die im Kern um Macht, Geld und Natur kreist, allerdings mit Wissen über die Umwelt verwechselt, der bewegt sich in einem intellektuellen Bermudadreieck.


Entsprechend folgenreich ist der eigentlich triviale Hinweis, dass es neben der Natur- auch noch die Geistes- und die Gesellschaftswissenschaften gibt. Wenn dem so ist, dann stellt sich tatsächlich die Frage, warum sich die Gesellschaftswissenschaften am Umweltkonzept der Naturwissenschaften orientieren sollen statt an dem der Geisteswissenschaften oder, Gott behüte, an ihrem eigenen. Warum also sollten die Naturwissenschaften im Allgemeinen und die Lebenswissenschaften im Besonderen den Takt angeben, wenn Menschen eben nicht nur Organismen sind, und wenn man nahezu alles, was man über Organismen, Viren, Menschen, Epidemien und menschgemachtes Klima weiss, nur durch gesellschaftliche Filter beobachten kann?


Dass sich die folgenschwere Reduktion von Umwelt auf Natur so konsequent vollziehen konnte, ist dabei sicher auch und vor allem Verdienst jener dominanten sozialwissenschaftlichen Traditionen, die alteuropäisches Gedankengut auch und gerade dann fortschreiben, wenn es naturwissenschaftlicher Fortschritt es schon längst aus den Angeln gehoben hat.


Im Resultat ist unser sozialwissenschaftliches Wissen über die inneren und äusseren Umwelten der Gesellschaft allen warmen Wortneuschöpfungen zum Trotz nicht auf der Höhe der Zeit, und hinterlässt Lücken, die das Wissen der Naturwissenschaften natürlich nicht schliessen kann.


So stossen dann naturwissenschaftliche Umweltrisiken des 21. Jahrhunderts nahezu ungebremst auf allenfalls verzeitgeistigte sozialwissenschaftliche Konzepte der frühen Neuzeit. Die Epidemiologie etwa, die sicher nicht keine Sozialwissenschaft sein kann, scheint sich seit dem Mittelalter nicht recht weiterentwickelt zu haben. Aber auch wer sich daran stört, dass uns selbst die wahrhaftig schauerlichsten Erzählungen von Klimawandel und Weltuntergang nicht läutern, verfällt auf konfrontative Moralkommunikation («How dare you!»), betreibt Ablasshandel (Carbon Offsetting) oder bedeckt zunehmend offenherzig, doch leider mit Maske, die endlich wieder sichtbare staatliche Hand mit Küssen, die uns die Coronakrise gnädig hingehalten hat. An all diese überholt geglaubten Muster scheinen wir uns im Krisenfall immer wieder zu klammern, und wenden sich die Fundstücke aus der Mottenkiste der Stratifikation noch so oft gegen ihre Funktion.


Ob Viren, Klimawandel, digitale Transformation. Die eigentlichen Herausforderungen unserer Zeit sind sozialwissenschaftlicher Natur. Das hat man inzwischen selbst in Nature zumindest ansatzweise verstanden. Entsprechend sicher bin ich mir, dass man den gesellschaftlichen Kompass nicht ungestraft vorrangig an der natürlichen Umwelt ausrichten kann.


Weiterführende Literatur:


Roth S. and Valentinov V. (in press), East of nature. Accounting for the environments of social sciences, Ecological Economics, 10.1016/j.ecolecon.2020.106734.


Roth S. (2019), Heal the world. A solution-focused systems therapy approach to environmental problems, Journal of Cleaner Production, Vol. 216 No. April, pp. 504-510.


 


¹ Wer Ökosysteme beobachtet, der beobachtet Systeme (von Systemen) in der Umwelt von Systemen.


 


 


»Ich möchte lieber nicht...«


von Fritz B. Simon


Wie mein geschätzter Sparrings-Partner kann ich den Ausführungen von Claudia Kemfert nahezu vorbehaltslos zustimmen. Und ich gebe ihm auch recht, dass aus systemtheoretischer Sicht „die Natur“ nur eine Umwelt unter vielen ist, und selbstverständlich stimme ich auch zu, dass wir sie durch sozial definierte Brillen (die wir gelegentlich wechseln sollten) betrachten. Und ich gebe ihm auch, um die Menge meiner Beifallskundgebungen ins wahrscheinlich Unerträgliche zu steigern, darin recht, dass es noch viele andere relevante Umwelten gibt, die es in die Überlegungen einzubeziehen gilt, angesichts der Komplexität der Welt. Daher könnten und sollten auch Geistes- und Sozialwissenschaftler die Diskussion nicht allein den Naturwissenschaftlern überlassen.


Allerdings würde ich, und da scheinen wir verschiedener Meinung zu sein, der Natur – aber keineswegs generell den Naturwissenschaften und Naturwissenschaftlern - einen besonderen Status zubilligen. Mit scheint in der Hinsicht die Sache immer noch durch die weiland in „Welt im Spiegel“ publizierte, erkenntnistheoretische Frage am besten auf den Punkt gebracht: »Wussten Sie, dass die Alpen gar nichts Besonderes sind, wenn man sich die Berge wegdenkt?!« Wie alles, was als „selbstverständlich“ gegeben vorausgesetzt wird, laufen wir Gefahr, die Natur in ihrer spezifischen Formation als relevante Umwelt von Gesellschaft „wegzudenken“. Das ist es, glaube ich, was durch die Corona-Pandemie ein wenig verändert worden ist – und zwar für eine breitere Öffentlichkeit. Claudia Kemfert und viele andere weisen nicht erst jetzt darauf hin, dass diese Grundlagen schon lange bedroht sind. Und – da unterscheidet sie sich von allen, die mit moralischen Appellen arbeiten oder freitags auf die Straße gehen – sie argumentiert wirtschaftswissenschaftlich (und die Wirtschaftswissenschaften sind Sozialwissenschaften, auch wenn das Wirtschaftswissenschaftler gelegentlich nicht zu wissen scheinen).


Das führt zu der Frage von Heiko Kleve, ob bzw. wie denn Gesellschaft umgesteuert werden kann. Er scheint dabei ja in den Raum zu stellen, dass dies aus systemtheoretischer Perspektive nicht geht. Und, auch auf die Gefahr hin, dass dies hier zu einer Zustimmungsorgie verkommt, ich denke, dass er recht hat, wenn er Weltverbesserungsideologien als Hybris bewertet. Aber – so wie ich Systemtheorie verstehe – bedeutet „Strukturdeterminiertheit autopoietischer Systeme“ (also auch einer wachsenden Wirtschaft oder einer sich spaltenden Gesellschaft) zwar, dass man nicht linear kausal steuernd von außen eingreifen kann, aber es heißt nicht, dass man nicht Einfluss nehmen könnte oder es beliebig wäre, was man – z.B. als Staat, aber auch als einzelner Bürger – tut. Da solche autonomen Systeme füreinander Umwelten (im Sinne von Steffen Roth) bilden, sind sie in der Lage sich gegenseitig zu irritieren, vor allem aber: sich gegenseitig in ihrem Freiraum zu begrenzen.


Wenn die Frage nach den Möglichkeiten der Umsteuerung von Gesellschaft gestellt wird, kann m.E. aus systemtheoretischer Sich die Frage nicht lauten: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?, sondern sie muss lauten: In welcher Gesellschaft wollen wir auf keinen Fall leben?


Positiv definierte Utopien, das zeigt die Geschichte, führen stets zu totalitären Systemen – und die müssen früher oder später aufgrund der Unmöglichkeit der instruktiven Interaktion (= der geradlinig-kausalen Steuerung) von lebenden und Leben voraussetzenden Systemen scheitern – leider meist erst nach langer Leidenszeit der Bevölkerung. Negativ definierte („worst-case“-) Szenarien helfen hingegen, sich immer dann einzumischen oder Grenzen zu setzen, wenn gesellschaftliche Entwicklungen drohen, die möglichst zu vermeiden sind - die „positive Kraft des negativen Denkens“. Daher sind negativ definierte Klima-Ziele sinnvoll, weil die Folgen des steigenden Meeresspiegels etc. durchaus mit großer Wahrscheinlichkeit im voraus berechenbar sind; der Corona-Lockdown war sinnvoll, um die Überlastung der Intensivstationen à la Bergamo zu verhindern usw.


Wir sollten uns also sehr bewusst fragen und politisch diskutieren, in welcher Gesellschaft wir nicht leben wollen. Das hat in der Geschichte ja auch in vielen Bereichen (zumindest in unseren Breitengraden) ganz gut funktioniert: Wir wollen keine Kinder im Steinbruch arbeiten sehen; es sollten möglichst wenige Säuglinge an banalen Infektionen sterben; die Einführung des staatlichen Rentensystems hat dazu geführt, dass man im Alltag nicht an jeder Ecke mit einem Alten in halbverhungertem Zustand konfrontiert wird; Arbeitgeberwillkür sollte begrenzt sein; die Krankenversicherungspflicht sorgt dafür, dass jeder die Chance hat, sich in Krankheitsfall behandeln zu lassen usw., usf.


Zur Beruhigung aller Bannerträger der Liberalität: Die Freiheit des Menschen beginnt bei der Möglichkeit „Nein“ zu sagen. Das ist schon bei Kleinkindern der Fall, die ihren Spinat nicht essen wollen, und das gilt auch für soziale Systeme. Die Kraft der Negation, des Nicht-mehr-Mitspielens, ist es, was langfristig zu einer Umsteuerung der Gesellschaft führt. Der passive Widerstand, der auch den „real existierenden Sozialismus“ und so manches Unternehmen zu Fall gebracht hat, ist in seiner Wirkung mächtiger als revolutionärer Aktionismus. Mit Bartleby, dem Schreibgehilfen (H. Melville), können wir (und sollten wir) immer dann und dort, wo es uns angemessen scheint, sagen: »Ich möchte lieber nicht!«


 


 


Autoren


 


Claudia Kemfert, , Prof. Dr., ist die bekannteste deutsche Wissenschaftlerin für Energie- und Klimaökonomie. Sie leitet die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW Berlin und ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit. In Politik und Medien ist sie eine gefragte Expertin und eine überzeugte Kämpferin für eine zukunftsfähige Energiewende. .


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).