Liebe

engl. love, franz. amour m, von mhd. liebe »Gutes, Angenehmes, Wertes«; der Begriff Liebe beschreibt eine starke Affinität zu Lebewesen und Dingen und umfasst dabei unterschiedliche Motive, Verhaltens- und Betrachtungsweisen. Er wird in unterschiedlichen Sprachspielen auf vielfältigste Weise verstanden (exemplarisch siehe Barthes 1988).


Beschreibungen unter dem Titel »Liebe« werden als Felder von Verstehensmöglichkeiten unterschiedlicher Erzähler gesehen, die aufeinander wirken und immer wieder neu in ihrer Relevanz für den jeweiligen Einzelfall geprüft werden müssen. Man kann dabei zwischen Phänomenen unterscheiden, die das biologische, und solchen, die das geistige und soziale Lebewesen Mensch betreffen. Biologisch betrachtet, sind soziale Lebewesen Artgenossen gegenüber grundsätzlich immer in einem Zwiespalt aus Angst und Anziehung. Jedes soziale Verhalten ist deshalb von einer Ambivalenz zwischen Selbstschutz und Zuwendung geprägt, was auch die Nähe-Distanz-Dynamiken während der Balz und anderer Paar(ungs)muster sowie das Verhalten in Gruppen zeigen. Denken und soziale Diskurse begründen, erklären und bewerten diese ambivalente Bedürfnislage, wodurch die wirkenden Kräfte begreifbar, rational verständlich und sozial vermittelbar werden. Gleichzeitig kommt es dadurch aber auch zu einer Verschleierung und Verfremdung von Motiven und zu einer Verführung zu Extremhaltungen, insbesondere bezüglich der Balance von Eigen- und Fremdinteressen. Enge und starre Vorstellungen oder Diskurse können an den Zielen der konkreten Bezugspersonen, ihren leiblichen Bedürfnissen oder ihrer Lebenslage vorbeigehen. Die Beziehungsform wird u. U. der Bezugsperson übergeordnet. Die Ideen, die mit dem gelebten Beziehungsleben in Konflikt treten, können zudem unreflektierte Übernahmen von Vorstellungen und Bewertungen (Eltern, Elternschaft, Herkunftskultur, Mode usw.) darstellen. Ein Überblick über verschiedene Kontakt- und Beziehungsformen von Menschen ist in diesem Zusammenhang essenziell. Im konkreten Einzelfall wird es sich selbstverständlich um spezifische Mischformen handeln – eine Bewertung seitens der Therapeuten (Therapie) sollte damit keineswegs einhergehen.


Bei Roussell (1980) (mit Einschränkung auf Paarbeziehungen) findet sich folgende Kategorisierung in vier Typen: Die »traditionelle« Beziehung fokussiert auf die gemeinsame Erarbeitung der Lebensgrundlage und das Aufziehen der Kinder. Trennungen sind nicht vorgesehen und führen zu Existenzangst. Bei der »Bündnisbeziehung« orientiert sich die Verbundenheit an der Loyalität zum bindenden Dritten, z. B. einem Ziel, einer Ideologie oder Aufgabe. Die Trennung führt zu Gefühlen von Scham und Schuld, es besteht Rechtfertigungszwang. Bei der »Verschmelzungsbeziehung« geht es um Geborgenheit, um das Aufgehen im anderen, in Verlustsituationen kommt es zu Selbstwertminderung, Verletzung und seelischem Schmerz. Die »Gefährtenschaft« ist eine freundschaftliche Paarbeziehung oder eine Freundschaft, geprägt durch Geselligkeit, gemeinsamen Spaß, geteilte Freude. Trennungen sind leicht und freundlich, die Selbstverwirklichung ist wichtiger als das konkrete Zusammensein mit dem anderen. Ich ergänze hier als fünfte Form die »Schicksalsgemeinschaft«, in der man bedingungslos hinter dem anderen und seinem Handeln steht. Beruhend auf Offenheit, Vertrauen und Gleichberechtigung, ist sie unabhängig von erotischer Verbundenheit oder Verwandtschaft und hat keinen ausschließlichen Charakter (d. h., man kann mehrere Menschen auf diese Weise lieben). Viele Menschen möchten akzeptiert und verstanden werden, wie sie nun einmal sind. Sie sehnen sich nach fragloser, bedingungsloser Zuneigung, vermögen sie sich aber oft nicht selbst zu geben, sondern erwarten (Erwartung) sie primär von bevorzugten Bezugspersonen. Wenn diese dazu nicht in ausreichender Weise imstande sind, können sich Konstellationen ergeben, in denen Angst, Misstrauen, Abhängigkeit und Besitzansprüche vorprogrammiert sind, insbesondere wenn der Selbstwert von der spezifischen Zuneigung eines anderen abhängt. Ein förderliches Selbstverhältnis kommt den Beziehungen zu anderen Menschen im Allgemeinen zugute.


In der therapeutischen Arbeit ist die Nachfrage sinnvoll (Sinn), in welcher konkreten Lage Formen der Beschreibung des Phänomens »Liebe« verwendet werden, welche Empfindungen, Impulse und Bedürfnisse damit einhergehen und in welchem kommunikativen Rahmen darüber gesprochen wird (wer oder was alles dabei mitredet im Sinne innerer und äußerer Diskurse) bzw. was mit der Verwendung des jeweiligen Begriffes erreicht werden soll. Bei Konflikten zeigt sich oft eine Verwechslung von Ziel und Mittel. Man denkt, dass ein bestimmter Zustand (z. B. das Gefühl der Freude und Lebendigkeit) im Kontakt mit einer ganz bestimmten Person eintreten würde, wenn diese Person sich nur in einer besonderen Weise verhielte, und strebt danach, sie zu verändern. Gleichzeitig übersieht man alle Momente (hier handelt es sich um Ausnahmen im Sinne der lösungsorientierten [Lösung] Therapie), in denen der gewünschte Zustand ganz von alleine eintritt oder mit viel einfacheren Mitteln herbeigeführt wird. Die aus der narrativen Therapie stammende Methode der Externalisierung kann dafür verwendet werden, die diversen Vorstellungen, sozialen Diskurse und eigenen behütenden Kräfte als Gegenüber zu imaginieren und sie zu prüfen. Manche mögen daraufhin den Ehrentitel »Ich« verliehen bekommen und andere bloß als äußerer oder innerer beeinflussender Faktor betrachtet werden. Diese »Unterscheidung der Geister« stärkt das eigene psychische Immunsystem (System) und hilft bei der Steuerung und Gestaltung der Balance aus Eigen- und Fremdinteressen mit dem Ziel, sich im eigenen Wollen klarer zu positionieren und gleichzeitig offen und beweglich für den Kontakt mit anderen zu bleiben. Dies scheint eine wesentliche Voraussetzung dafür zu sein, das Phänomen Liebe mit befriedigenden sozialen Erfahrungen verknüpfen zu können.


Verwendete Literatur


Berg, Insoo Kim u. Norman H. Reuss (1999): Lösungen – Schritt für Schritt. Dortmund (Modernes Lernen).


Klar, Sabine (2006): Materialien zur Menschenkunde. Reflexionen II: Ethologische Perspektiven und ethologische Zugänge zum Animalischen im Kontext therapeutischer Gespräche. Homepage des Institut für angewandte Menschenkunde, verfügbar unter: http://iam.or.at/ [10.12.2011].


Neumann, K. (2006): Lexikon systemischer Interventionen. Psychotherapeutische Techniken in Theorie und Praxis. Wien (Krammer).


Roussell, Louis (1980): Ehe und Ehescheidungen. Beitrag zu einer systemischen Analyse von Ehemodellen. Familiendynamik 5 (3): 186–203.


White, Michael (2010): Landkarten der narrativen Therapie. Heidelberg (Carl-Auer).


Weiterführende Literatur


Barthes, Roland (1988): Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Brandl-Nebehay, Andrea u. Joachim Hinsch (Hrsg.) (2010): Paartherapie und Identität. Denkansätze für die Praxis. Heidelberg (Carl-Auer).


Hillenkampf, Sven (2009): Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit. Stuttgart (Klett-Cotta).