Schuld
engl. guilt, franz. culpabilité f; bezeichnet psychologisch einen Affekt, der bei Nichteinhaltung gültiger Werte und Gebote im jeweiligen Gesellschaftssystem (System) auftritt, wobei diese Werte als Referenz und Bewertungskategorie für die empfundene Schuld dienen. Entwicklungspsychologisch ist die Bedingung für das Empfinden von Schuldgefühlen (Gefühl) die Fähigkeit, Scham zu empfinden. Dabei bezieht sich Schulderleben als zu verantwortendes Handeln bzw. Nichthandeln mit der Folge der Schädigung von Personen, Dingen und Werten auf den Bereich des »Tuns«, wohingegen sich Scham auf ein Sosein bezieht. Beide Phänomene dienen der sozialen Regulation. Eine weitere Bedingung für das Empfinden von Schuld ist die Existenz einer Wahlmöglichkeit – als Fähigkeit, neben dem schuldhaften Handeln auch eine sozial mehr akzeptierte, mehr wertekonforme Handlungsalternative zu wählen. Auf der Basis des Konstruktivismus entsteht die jeweilige Wirklichkeit durch die Betrachtung des Individuums, somit hat dieses die Verantwortung für diese Wirklichkeitskonstruktion. Durch die Kommunikation von Wirklichkeitskonstruktionen entstehen Abgleichprozesse bezüglich der aktuell gültigen Realität. Somit stellt diese den Bezugs- und Referenzrahmen für Schuldgefühle der Akteure dar. Nach Helm Stierlin (2007)
»bleibt immer mitzubedenken, wie und wie weit unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit durch das mitbestimmt werden, was die uns umgebende Kultur – auch außerhalb des kodifizierten Rechtes – vorgibt.«
Niklas Luhmann schlägt vor, Schuld als konfliktstrukturierendes Element (Konflikt) zu betrachten, welches sowohl den Prozess der Auflösung, aber auch die Entstehung von Asymmetrien in Konfliktsystemen bewirkt (Luhmann 1973). Die Kommunikation der Ausgleichsansprüche und -verpflichtungen dient dem Ziel der homöostatischen Regulation zwischen den Akteuren. Um der Komplexität und der gesellschaftlichen Relevanz systemtheoretisch begegnen zu können, schlägt u. a. M. Varga von Kibéd vor, Schuld unter ökonomischen Kriterien zu betrachten. Schuld wird in diesem Sinne als eine Ausgleichsverpflichtung betrachtet, wenn es z. B. in Paarbeziehungen darum geht, eine symmetrische Begegnung der Akteure zu ermöglichen, wenn eine Schuld beglichen wird – eine Ent-Schuld(ig)ung stattfinden soll; wobei eine Entschuldigung konträr zum üblichen Verständnis nur vom »Gläubiger« durchgeführt werden kann, der dem »Schuldner« die Schuld anerkennt bzw. erlässt – ihn ent-schuldet.
Auch Ivan Boszormenyi-Nagy hat sich mit diesen Ausgleichsphänomenen beschäftigt und beschreibt die dynamisierende Wirkung des Prozesses des Gebens und Nehmens in Beziehungen. Ein Nichtausgleich erfordert einen Kommunikationsprozess, damit eine entsprechende Einigung über den Vollzug eines Ausgleichs erreicht werden kann (Boszormenyi-Nagy 2006). Varga von Kibéd schlägt vor, die in Aus- und Wechselwirkungen erzeugten Erscheinungsformen und Funktionen von Schuld (Ausgleich und Dynamisierung) im Kontext von Beratung und Therapie z. B. in der Form der Strukturaufstellung (Aufstellungen) sichtbar, erlebbar und somit bearbeitbar zu machen. In diesem Kontext bekommt der Begriff der Homöostase – Streben nach dem spezifischen Systemgleichgewicht – bei der Betrachtung von Schuld eine besondere Relevanz. Der Ausgleich oder der Versuch des Ausgleichs von »Schuldkonten« kann als dynamisierender Effekt in der Gestaltung von Beziehungssystemen bezeichnet werden. Ein Beziehungssystem, das sich auf diesem Ausgleich (oder auf diesem Versuch) aufbaut, bekäme eine neue Bedeutung, wenn es gelänge, bzw. wäre möglicherweise beendet bei »Kontenausgleich«. Daher bietet sich in diesem Zusammenhang der Gebrauch zirkulärer Fragen (Zirkuläres Fragen) zur Klärung der (Aus- und Wechsel-)Wirkung von erfolgtem (Nicht-)Ausgleich aus verschiedenen Systemperspektiven an. Ein exakter Ausgleich kommt nicht selten einem Ende einer Beziehung gleich, da die Dynamik des Aushandelns von Schuld neutralisiert wird. Daher kann es hilfreich sein – wenn Schuld einen systemisch sinnvollen Aspekt enthält, aber dennoch Leiden verursacht –, die Kompensation Schuld auf andere Felder außerhalb des Herkunftssystems zu übertragen: Wer bei einem Unfall als einziger überlebt hat, empfindet möglicherweise in seiner Wirklichkeitskonstruktion Schuld für dieses Überleben und transformiert sie in z. B. eine ehrenamtliche Tätigkeit in der Opferhilfe (Helfen), die er den Nichtüberlebenden widmet (siehe Beispiel aus: Varga von Kibéd 2007).
In der systemischen Arbeit mit Tätern (Delinquenz) erscheint es sinnvoll, den Begriff der Schuld durch den Begriff der Verantwortung zu ersetzen. In diesem Kontext zeigt sich das Phänomen »Schuld« oft als Erklärungs- und Rechtfertigungsrahmen für die »Tat«, da die »echte« Schuld für das Handeln in der Vergangenheit oder in der sozialen, familiären Herkunft des Akteurs und somit außerhalb seiner aktuellen Wirkmacht liegt (»Ich kann nicht anders als schlagen, weil mein Vater mich ebenfalls geschlagen hat, meine Mutter Alkoholikerin war und sie sich getrennt haben, als ich sie dringend brauchte ...«). Hier bietet sich der Begriff der Verantwortung an, im Sinne einer zukunftsorientierten, sozialverträglicheren Handlungsauswahl. Aus »Warum hast du das getan?« wird »Was brauchst du? Was wirst du tun, um es nicht wieder zu tun?«. Es gilt, Autonomie und somit Verantwortung für das Handeln zu erzeugen, damit Handlungsfähigkeit und Handlungsalternativen erhalten bzw. ermöglicht werden.
Verwendete Literatur
Luhmann, Niklas (1973): Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit. In: Franz Böckle u. Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.): Naturrecht in der Kritik. Mainz (Grünewald).
Varga von Kibéd, Matthias (2007): Von der moralischen zur ökonomischen Ethik. Schuld und Ausgleich in der systemischen Therapie. Theologisch-Praktische Quartalsschrift 155 (4): 367–372.
Weiterführende Literatur
Pfitzer, Franz u. Terry D. Hargrave (2005): Neue Kontextuelle Therapie – Wie die Kräfte des Gebens und Nehmens genutzt werden können. Heidelberg (Carl-Auer).