Psyche

engl. psyche, franz. psyché f. Das, was einen Systemtheoretiker am Ausdruck »Psyche« stört, ist schon in der altgriech. Bedeutung des Wortes »Hauch, Atem, Belebtheit, Leben« etc. angelegt, das Moment des Fluidalen, Volatilen, des Pneumatischen, kurz: der Luftigkeit. Die Psyche, das Psychische, steht dabei im Verhältnis der Juxtaposition zum Körperlichen. Das belegen seltsame Mischwörter wie »Psychosomatik«, aber auch die Jahrtausende währende Tradition der Körper-Geist-Differenz, in der das Geistige, das Seelische, das Psychische den Part »nicht dinghafter Dinge« übernehmen: Es gibt sie, aber eben gerade nicht so, wie es sonst die Dinge gibt. Die Psyche ist, cartesianisch formuliert, nicht res extensa, sondern res cogitans, eine Unausgedehntheit, die irgendwie im Körper residiert, obwohl Unausgedehntheiten gerade nicht die Möglichkeit haben, irgendeinen Ort besiedeln können. Das Störende daran ist, dass die Psyche nicht als Begriff (als distinkte Unterscheidung) im sozialen Einsatz ist, sondern als »luftigkeitsbedingte« Vielfachdeutbarkeit auf einer Bandbreite, die sich von der Lebenswelt über Esoterik bis hin zur Wissenschaft erstreckt. »Psyche« kursiert als Münze, mit der sich allerlei bezahlen lässt – gerade weil das Wort unscharf und weitgehend arbiträr verwendbar ist.


Man kann das beklagen oder die Vagheit des Wortes als Spur aufnehmen. Die Frage ist dann, ob diese Unschärfe an »unterkomplexen« (Komplexität) Beobachtern liegt oder ob es zur Phänomenalität des Psychischen gehört, gleichsam real vage, real verschwimmend zu sein. Will man darauf antworten, empfiehlt es sich, terminologisch umzudisponieren und »Psyche« zu ersetzen durch »psychisches System«. Man hat es dann nicht mehr mit einer »wabernden« (grenzunscharfen) Energie zu tun, sondern mit einer systemtheoretischen Heuristik, die auf einem Arrangement von auf Konsistenz getrimmten, durch Konsistenzansprüche disziplinierten Begriffen fußt. Ein erster Schritt im Rahmen dieser Heuristik ist es, in einer gewissermaßen vortheoretischen, phänomenologisch grundierten Haltung das mediale Substrat des psychischen Systems als Wahrnehmung zu begreifen, die formfähig ist. Anders ausgedrückt: Das psychische System ist organisierbare bzw. organisierte Perzeptionalität, die an einen Körper gebunden ist, der neuronale Ereignisse produziert, deren Funktion (mit Heidegger: als Welten) gedeutet werden kann.


Der Fall, der hier interessiert, bezieht sich auf psychische Systeme von Menschen, deren Wahrnehmungsmöglichkeiten durch die Sinnform via Sozialisation supercodiert werden. Wenn diese große Intervention gelingt, stellt sich das psychische System um von zirkulierenden raw perceptions (»rohen Wahrnehmungen«) auf Sinngebrauch, dies dann so absolut, dass jede seiner Operationen »bedeutend« wird schon auf der Ebene der Wahrnehmung. Wir sehen, hören, fühlen ... immer etwas. Das System ist, phänomenologisch betrachtet, intentional. Eher operativ formuliert: Das psychische System lauscht Sozialsystemen die allgemeine Form sinnhafter Operationen ab. Diese Abstraktion besagt, dass die Operativität aller Sinnsysteme gekennzeichnet ist durch Kombinationen von Fremd- und Selbstreferenz, die durch Anschlüsse derselben Form von Ereignissen im Nachtrag identifiziert werden. Ein gut durchbestimmtes Beispiel ist Kommunikation. Sie kombiniert Information (Fremdreferenz) und Mitteilung (Selbstreferenz). Dieser Unterschied wird im Nachtrag erzeugt durch einen Anschluss (Verstehen), der selbst nur Anschluss war, wenn er von einem weiteren Ereignis wiederum als der Unterschied von Information und Mitteilung aufgenommen wird. Genau das ist Autopoiesis, die fortlaufende Rekrutierung von Ereignissen dieser Art im Nachhinein durch Ereignisse desselben Typs.


In der Abstraktionslage, die wir gewählt haben, müssen auch psychische Sinnsysteme Fremd- und Selbstreferenz verknüpfen und in der autopoietischen Sinnzeit, mithin im Nachtrag, als diesen Unterschied identifizieren und handhaben können. Diese Operation ist isomorph mit der Operativität sozialer Systeme, findet aber in einem anderen medialen Substrat statt, im Fundamentalmedium sinncodierter Wahrnehmung. Die Frage ist dann: Was für eine Operation vertritt im psychischen System das, was in sozialen Systemen durch die kommunikative Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen geleistet wird? – Niklas Luhmann nennt als Komponenten dieser Operation Gedanke und Vorstellung. Der Gedanke ist die Kombination von Fremd- und Selbstreferenz, die durch den Anschluss weiterer Gedanken vorgestellt (beobachtet) wird als diese Differenz, die im Nachtrag die Einheit des Gedankens aufspaltet durch Anschluss an der einen oder anderen Seite ebendieser Differenz. Die Fremdreferenz (Information) entspräche dem, was Intentionalität in der phänomenologischen Tradition bedeutet: Jeder Gedanke denkt etwas; der Anschluss kann als psychisches Verstehen konzipiert werden. Die immer mitlaufende Möglichkeit des Wechsels zwischen der Markierung von Selbstreferenz und der von Fremdreferenz ist das, was Luhmann »dynamische Bistabilität« des Bewusstseins nennt.


Seltsam ungeklärt bleibt dabei, wie genau die Selbstreferenz der psychischen Operation realisiert wird, die ja in gewisser Weise die Mitteilungsselektion der Kommunikation »kopiert«. In sozialen Systemen ist die Mitteilung ein gleichsam materiales Moment der Kommunikation. Die Information wird an Äußerungen als das ›Was?‹ der Kommunikation rezipiert, als das, worum es geht, wovon die Rede ist, mithin als Fremdreferenz. Die Mitteilung dagegen bezieht sich auf das Wie? des Was?. Warum sagt (schreibt etc.) jemand das, was er sagt, auf diese bestimmte Weise? Das Verstehen ist dann die Beobachtung, also die Herstellung dieses Unterschiedes. Aber wie können Gedanken bzw. Vorstellungen nicht nur im Blick auf das, worauf sie sich beziehen, sondern auch im Blick auf ein WIE des Bezuges registriert und zu weiterer Informationsverarbeitung eingesetzt werden – im psychischen System durch es selbst in seiner eigenen Operativität?


Ein Vorschlag ist, das Medium der Wahrnehmung doppelt zu funktionalisieren: Einerseits fungiert es als Bedingung der Möglichkeit, überhaupt Fremdreferenz psychisch verfügbar zu machen. Andererseits ist jede psychische Auswahl, in der etwas wahrgenommen wird, »eskortiert« oder flankiert durch einen Überschuss mitwahrgenommener Körperzustände. Diese Überlegung führt auf die zweite Funktion: Das »Surplus concomitierender« (der jede Auswahl begleitende Überschuss) Wahrnehmungen wird, wenn man so will, abgeschöpft als Potenzial für das Ausstaffieren psychischer Fremdreferenz mit Selbstreferenz. Ein anderer Ausdruck dafür ist, dass die Operationen der Psyche immer auch eingebettet sind in Gestimmtheit. Die Gedanken sind in einer älteren Bedeutung des Wortes »gemütlich«. Sie sind, wie man vielleicht sagen könnte, selbstreferenziell angemutete Fremdreferenzen.


Es ist von eigentümlicher Eleganz, dass die Figur des Überschusses und der Auswahl die Sinnform erfüllt. Von da aus führt ein hier nicht mehr begehbarer Weg zur Bearbeitung des Problems, wie psychische Systeme, die nicht von Geburt an über Sinn verfügen, an Sinn gelangen. In äußerster Radikalität lässt sich formulieren: Psychische Systeme sind die soziale Interpretation von neuronalen Ereignissen. Eine ganz wesentliche Rolle spielt dabei die Sprache. Sie treibt Sinn in ein bearbeitbares Relief. Deswegen kann die These vertreten werden, dass via Sprach- bzw. Zeichengebrauch das psychische System ein Subsystem mit dezidierter Operativität ausdifferenziert, das Subsystem des Bewusstsein, dessen psychische Umwelt zwar sinnförmige Wahrnehmungen prozessiert, die aber selbst nicht versprachlicht sind: Man erblickt den Baum, die Pfeife, den Schuhlöffel – einfach so. Und es ist vielleicht nur virtuosen Mystikern und Mystikerinnen möglich, den Baum als Nichtbaum, die Pfeife als Nichtpfeife, den Schuhlöffel als Nichtschuhlöffel zu sehen, also Zugang zur Welt der Nichtzitation zu erhalten.


Vor diesem theoretischen, noch sehr asketisch gehaltenen Hintergrund werden Diskussionslinien sichtbar, die hier aus Raummangel nur noch abschließend angedeutet werden können. So lässt sich annehmen, dass das, was als »Unbewusstes« seit Freud ventiliert wird, so etwas darstellt wie den Effekt individuell (Individuum) nicht erinnerbarer, sozialer Konditionierungen der »Gestimmtheit« psychischer Operativität. Das bedeutet auch, dass das psychische System nicht eine »anthropologische Konstante« ist, sondern in seinen »Phänomenalisierungen« mit der je in Geltung befindlichen gesellschaftlichen (Gesellschaft) Differenzierungstypik kovariiert. In Anlehnung an ein berühmtes Diktum von Willard Quine formuliert: Die Psyche ist der Wert einer durch die Differenzierungsform gebundenen Variablen. Systemtheoretisch gesagt: Sie ist als Sinnsystem Differenz, die sich als Einheit zu lesen gibt, aber nie EINES ist. Über dieses Nicht-Eine könnte aber nur weitergeredet werden, wenn die erst in Anfängen herumtastende Theorie der konditionierten Koproduktion schon einspielbar wäre.


Verwendete Literatur


Fuchs, Peter (2003): Der Eigen-Sinn des Bewusstseins. Die Person, die Psyche, die Signatur. Bielefeld (Transcript).


Fuchs, Peter (2005): Die Psyche. Studien zur Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Weilerswist (Velbrück).


Weiterführende Literatur


Ciompi, Luc (1988): Außenwelt – Innenwelt. Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).


Fuchs, Peter (2007): Das Maß aller Dinge. Eine Abhandlung zur Metaphysik des Menschen. Weilerswist (Velbrück).


Fuchs, Peter (2010): Das System SELBST. Eine Studie zur Frage: Wer liebt wen, wenn jemand sagt: »Ich liebe Dich!«? Weilerswist (Velbrück).