Lebenswelt

bleibt als Fachbegriff deutschen Ursprungs in anderen Sprachen oftmals unübersetzt, im Französischen ist allerdings häufig der Begriff monde m vécu zu finden, im Englischen gibt es vereinzelt die Begriffe lifeworld und – durchaus missverständlich – social environment. Der Lebensweltbegriff wurzelt nicht in systemischen (System) Überlegungen, sondern in Husserls Phänomenologie (Husserl 2008). Eine systemische Reformulierung ist ertragreich möglich, insofern der Begriff auch im phänomenologischen Verständnis vom erkennenden Subjekt ausgeht und in die Nähe des konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffs gestellt werden kann. »Lebenswelt« gilt dann als subjektive Konstruktion unter den Bedingungen der »Lebenslage« (Kraus 2006).


In Husserls Phänomenologie ist die Lebenswelt ein »egologisches Gebilde« (Hitzler 1999, S. 232), dessen Subjektivität sich nicht nur aus Unterschieden in den Lebensbedingungen ergibt, sondern vor allem auch aus Unterschieden in der Wahrnehmung der jeweiligen Lebensbedingungen. Schütz führt den Begriff im Rahmen seiner Sozialphänomenologie weiter und betont, dass die Lebenswelt eines Menschen immer schon das Ergebnis der Auseinandersetzung mit seiner sozialen Welt ist (Schütz u. Luckmann 1975). In die Soziale Arbeit wurde der Begriff grundlegend von Thiersch eingeführt, der ihn bei Schütz entlehnt und ihn in dessen Sinne synonym zum Begriff der Alltagswelt gebraucht. (Thiersch u. Grundwald 2002, S. 129). Habermas unterscheidet in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1981) zwischen »Lebenswelt« und »System« und hinterfragt gesellschaftstheoretisch (Gesellschaft), inwieweit es durch das System zu einer »Kolonialisierung der Lebenswelt« kommt.


Ende der 1990er-Jahre gerät in den Diskursen der Sozialen Arbeit zunehmend der unpräzise Gebrauch des Lebensweltbegriffs in die Kritik (Fuchs u. Halfar 2000). Spätestens wenn mit »Lebenswelt« nur noch die äußeren Lebensbedingungen eines Menschen beschrieben werden, wird es problematisch, von der phänomenologischen Herkunft des Begriffs abzusehen. Denn dann scheint es, als könnte die Lebenswelt objektiv erfasst und nach Bedarf von außen gestaltet werden.


Der Lebensweltbegriff ist, wie gesagt, keineswegs systemischer Provenienz. Allerdings ist eine systemisch-konstruktivistische Reformulierung des Begriffs theoretisch und methodisch ertragreich (Kraus 2006). Dabei wird dem Begriff der Lebenswelt der Begriff der »Lebenslage« (Weisser 1956) gegenübergestellt. Ursprünglich nehmen beide Begriffe zugleich Bezug auf die individuellen (Individuum) Lebensbedingungen eines Menschen und auf die subjektive Wahrnehmung dieser Bedingungen. Allerdings liegt beim Lebenslagenbegriff der Fokus primär auf den Rahmenbedingungen, beim Lebensweltbegriff hingegen eher auf den subjektiven Wahrnehmungsbedingungen. Systemisch-konstruktivistisch können nun diese Begriffe auf ihre gegenteiligen Schwerpunkte hin konkretisiert und der im konstruktivistischen Diskurs benutzten Differenz zwischen den Begriffen »Wirklichkeit« und »Realität« zugeordnet werden: der Begriff »Lebenswelt« dem Begriff »Wirklichkeit« und der Begriff »Lebenslage« dem Begriff »Realität«. Für beide gilt: Das eine konstituiert sich unter den Bedingungen des anderen.


»Als Lebenslage gelten die materiellen und immateriellen Lebensbedingungen eines Menschen. Als Lebenswelt gilt das unhintergehbar subjektive Wirklichkeitskonstrukt eines Menschen (welches dieser unter den Bedingungen seiner Lebenslage bildet)« (Kraus 2006, S. 25).


Damit ist eine Perspektive entworfen, die sowohl die egologische Perspektive Husserls zu berücksichtigen vermag als auch die Relevanz der sozialen und materialen Rahmenbedingungen. Grundlage ist dabei die systemisch-konstruktivistische Annahme, dass die menschliche Strukturentwicklung einer grundsätzlichen Doppelbindung unterliegt. Einerseits operiert menschliche Kognition selbstreferenziell (Selbstreferenz) und damit operational geschlossen, andererseits sind die Operationsbedingungen aufgrund der strukturellen Kopplung des Menschen an seine Umwelt nicht unabhängig von ebendieser Umwelt (Kraus 2010).


Die Relevanz für die systemische Praxis ergibt sich aus der Einsicht, dass die Auseinandersetzung mit der Lebenslage eines Menschen noch keinen Zugang zu seiner Lebenswelt ermöglicht. Selbst wenn wir all sein Sozial- und Materialkapital erfassen könnten, so hätten wir doch seine Lebenswelt noch nicht verstanden. Insofern scheint die allenthalben geforderte Orientierung an der Lebenswelt eine zunächst paradoxe Aufforderung zu sein. Was Menschen kommunikativ zugänglich ist, ist allenfalls die Lebenslage, und, konstruktivistisch betrachtet, ist selbst diese nicht »objektiv« erfassbar, sondern wiederum auch nur aus Sicht der jeweils Beobachtenden. Denn wenn wir etwa im Bemühen um eine lebensweltliche Orientierung Adressaten in einem »sozialen Brennpunkt« besuchen, so werden wir nur mit Ausschnitten der Bedingungen ihrer Lebenslage konfrontiert und können selbst diese nur subjektiv (eigensinnig) wahrnehmen.


Beide Hindernisse (Nichtzugänglichkeit der Lebenswelt und subjektiv »getrübte« Erfassung der Lebenslage) können nicht überwunden werden, und dennoch steigert gerade das Bewusstsein für diese Begrenzung die Chance der Orientierung an der Lebenswelt: erstens, indem ich mich als Beobachter mit meinen eigenen Anteilen des »Erkennens« und Urteilens auseinandersetze, und zweitens, indem ich an den subjektiven Weltsichten meiner Adressaten interessiert bin. Insofern ist es also trotzdem sinnvoll, als Beobachter die Lebenslage der Adressaten zumindest partiell zu teilen (Krieger u. Mikulla 1994, S. 87 ff.). Systemtheoretisch lässt sich mit dieser Einsicht Anschluss gewinnen an die habermassche Position, dass lebensweltliches Verstehen nur aus einer »Teilnehmerrolle« (Rolle) entwickelt werden kann (Sutter 1999, S. 217). Eine solche Teilnehmerrolle gewinne ich auch, wenn ich meine Rekonstruktionen vor allem auf die sprachlichen Äußerungen meines Gegenübers über seine Lebensbedingungen, seine Lebensziele (Ziel) und seine Selbstwahrnehmung gründe und dabei berücksichtige, dass ich nicht wissen (Nichtwissen) kann, welche kognitiven Konstruktionen die Basis seiner Äußerungen bilden.


Aus dieser Perspektive erklären sich zentrale Prinzipien systemischer Methodik: etwa die Konstrukt- und Lösungsneutralität (Neutralität) ebenso wie die Einsichten in die Grenzen der Verständigung oder Beeinflussung (Kraus 2011). Lebensweltliche Orientierung im systemischen Arbeiten kann also nicht meinen, die Lebenswelt von Adressaten tatsächlich zu erfassen, sondern es geht vielmehr darum, sich der Subjektivität dieser Kategorie bewusst zu sein und sich als Konsequenz daraus zu bemühen, eine Annäherung an diese Subjektivität zu wagen – eingedenk dessen, dass ein tatsächliches Erreichen in letzter Konsequenz unmöglich ist.


Verwendete Literatur


Fuchs, Peter u. Bernd Halfar (2000): Soziale Arbeit als System. Zur verzögerten Ankunft des Systembegriffs in der Sozialen Arbeit. Blätter der Wohlfahrtspflege 3 + 4: 56–58.


Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Hitzler, Ronald (1999): Die »Entdeckung« der Lebens-Welten. Individualisierung im sozialen Wandel. In: Herbert Willems u. Alois Hahn (Hrsg.): Identität und Moderne. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 231–249.


Husserl, Edmund (2008): Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. (Texte aus dem Nachlass, 1916–1937, Husserliana Bd. 39, Ausg. v. Rochus Sowa). Dordrecht (Springer).


Kraus, Björn (2006): Lebenswelt und Lebensweltorientierung – Eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch-konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft. Kontext 37 (2): 116–129.


Kraus, Björn (2010): Erkenntnistheoretisch-konstruktivistische Perspektiven auf die Soziale Arbeit. In: Wolfgang Krieger (Hrsg.): Systemische Impulse – Theorieansätze, neue Konzepte und Anwendungsfelder systemischer Sozialer Arbeit. Stuttgart (Ibidem).


Kraus, Björn (2011): Soziale Arbeit – Macht – Hilfe und Kontrolle. Grundlegung und Anwendung eines systemisch-konstruktivistischen Machtmodells. In: Björn Kraus u. Wolfgang Krieger (Hrsg.): Macht in der Sozialen Arbeit. Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung. Lage (Jacobs), 3., überarb. Aufl, S. 95–118.


Krieger, Wolfgang u. Jutta Mikulla (1994): Offene Jugendarbeit und die Krise der Moderne. Von der Bedürfnisorientierung zur Akzeptanz. Berlin (VWB).


Schütz, Alfred u. Thomas Luckmann (1975): Strukturen der Lebenswelt. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Sutter, Tilmann (1999): System und Subjektstrukturen. Zur Konstitutionstheorie des interaktionistischen Konstruktivismus. Opladen (Westdeutscher Verlag).


Thiersch, Hans u. Klaus Grundwald (2002): Lebenswelt und Dienstleistung. In: Hans Thiersch (Hrsg.): Positionsbestimmungen der Sozialen Arbeit. Gesellschaftspolitik, Theorie und Ausbildung. Weinheim/München (Juventa), S. 127–153.


Weisser, Gerhard (1956): Artikel »Wirtschaft«. In: Werner Ziegenfuss (Hrsg.): Handbuch der Soziologie. Stuttgart (Enke).


Weiterführende Literatur


Iribarne, Julia V. (1994): Husserls Theorie der Intersubjektivität. Freiburg/ München (Alber).


Reich, Kersten (1998): Die Ordnung der Blicke. Bd. 2: Beziehung und Lebenswelt. Neuwied u. a. (Luchterhand).


Schütz, Alfred u. Thomas Luckmann (1975): Strukturen der Lebenswelt. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).