Sozialisation
engl. socialization, franz. socialisation f; bezeichnet allgemein die Prozesse des Erwerbs sozialer Handlungsfähigkeiten von Subjekten. Diese Prozesse umfassen »erstens« den Aufbau einer subjektiven Innenwelt, der in Form verschiedener Entwicklungen (u. a. der Sprache, des sozialen Verstehens, des moralischen Bewusstseins und affektiver Strukturen; Psyche) beschrieben wird. Diese Prozesse umfassen »zweitens« den Aufbau einer äußeren Welt, d. h. die Subjekte erwerben mit der Entwicklung ihrer inneren Strukturen zugleich verschiedene Bereiche der sozialen Außenwelt. Die Entwicklung und die Veränderungen der Persönlichkeit werden deshalb in einem komplexen (Komplexität) Wechselverhältnis von inneren und äußeren Faktoren untersucht. Sozialisation wird nicht als Prozess der Instruktion oder Prägung vorwiegend passiver Subjekte beschrieben, sondern als ein Prozess der aktiven Konstruktion. Diese mittlerweile breit konsentierte Grundlage eines konstruktivistischen Verständnisses von Sozialisation lässt allerdings weite Spielräume offen. Sozialisationstheorien sind von Hause aus subjekt- und handlungstheoretisch angelegt, und Sozialisation als aktiver Konstruktionsprozess wird ganz überwiegend als Aufbau subjektiver Handlungsfähigkeiten begriffen. Zwar wird dabei durchaus – wenn auch in unterschiedlichem Maße – eine gewisse Autonomie von Subjekten im Sinne einer Selbstsozialisation gesehen, aber Fremdsozialisation und damit mehr oder weniger direkte Einflüsse von außen spielen eine wichtige Rolle. Als zentrales Bezugsproblem fungiert die Frage der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft: Wie werden Menschen zu sozial handlungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft?
Aus systemtheoretischer (System) Perspektive wird man an kaum eine dieser Grundlagen der Sozialisation anschließen können. Aus Sicht der Systemtheorie kann Sozialisation nur Selbstsozialisation bedeuten. Dies folgt zwingend aus der Annahme des operativen Konstruktivismus, welcher die Ausbildung sinnhafter und damit auch psychischer Systeme als selbstreferenziellen (Selbstreferenz), rein intern gesteuerten Prozess begreift. Die Systemtheorie geht von der operativen Eigenständigkeit psychischer und sozialer Systeme ( Sozialsystem) aus: Psychische und Sozialsysteme können nur innerhalb ihrer eigenen Grenzen mit Gedanken und Kommunikationen operieren. Auf dieser operativen Ebene gibt es keine Überschneidung oder »Vermittlung« (von Psychischem und Sozialem, von Individuum und Gesellschaft), sondern nur Geschlossenheit der Systeme. Insofern ist Sozialisation als Reproduktion psychischer Systeme immer Selbstsozialisation. Voraussetzung für diesen Prozess ist allerdings die Teilnahme an Kommunikation. In dieser Weise werden Geschlossenheit und Offenheit und, damit zusammenhängend, die wechselseitige konstitutive Abhängigkeit von Bewusstsein und Kommunikation zur Grundlage des systemtheoretischen Begriffs der Sozialisation: Psychische Systeme wachsen nicht in soziale Räume hinein, werden nicht Teil sozialer Gebilde, sind aber abhängig von Kommunikationen, ohne die sie sich nicht aufbauen und reproduzieren könnten. Hier trifft sich der systemtheoretische Begriff der Selbstsozialisation mit einigen traditionellen Entwicklungs- und Sozialisationtheorien (vor allem des genetischen Strukturalismus und der soziologischen Konstitutionstheorie), die beides betonen: die Bedeutung der selbstregulativen Eigentätigkeit der sich sozialisierenden Subjekte und die Bedeutung eigenlogisch organisierter sozialisatorischer Interaktionen im Sozialisationprozess.
Der systemtheoretische Begriff der Selbstsozialisation wird als eine bestimmte Art von Intersystembeziehung zwischen psychischen und sozialen Systemen begriffen, in der beides von grundlegender Bedeutung ist: das selbstreferenzielle, überschneidungsfreie Operieren von psychischen und sozialen Systemen, die sich zugleich in ihrem strukturellen Aufbau voneinander abhängig machen. Das Verhältnis jeweils eigenständiger und gleichzeitig voneinander abhängiger Systeme beschreibt die Systemtheorie als strukturelle Kopplung unterschiedlicher Systeme. In psychischen Systemen prozessiert nur Bewusstsein und in sozialen Systemen nur Kommunikation, und diese Prozesse sind auf strukturelle Kopplung angewiesen, in denen sich unterschiedliche Systeme wechselseitig Komplexität zur Verfügung zu stellen. Wie aber ist es möglich, dass psychische und Sozialsysteme strikt getrennt operieren und sich dennoch bei ihrem Aufbau voneinander abhängig machen können bzw. müssen? Der Grund liegt darin, dass die getrennten Operationen in einem gemeinsamen Medium verlaufen, das durch Sinn gebildet wird: Bewusstsein und Kommunikation prozessieren beide mit sinnhaften Operationen und können deshalb strukturell aneinander gekoppelt sein. Sie können sich durch Sprache und die Bildung von Erwartungen wechselseitig irritieren (Irritation) und stören. Sie versorgen sich gewissermaßen gegenseitig mit Material, das jeweils intern verarbeitet wird und die Operationsprozesse in Gang hält. Wenn gesagt wird, dass psychische Systeme im Prozess der Selbstsozialisation von kommunikativen Systemen mit Komplexität versorgt werden, hat man sich darunter gerade kein Übertragungsverhältnis vorzustellen: Sozialsysteme können psychische Systeme nicht steuern oder instruieren. Vielmehr können psychische Systeme die Anregungen und Störungen, mit denen sie von den Kommunikationen versorgt werden, für die eigenen Operationen verfügbar machen. Der systemtheoretische Begriff der Selbstsozialisation hat weitreichende Konsequenzen für die pädagogische Praxis (Erziehung), die grundlegend nicht als Strategie direkter Vermittlung, Instruktion, Beeinflussung oder Steuerung möglich ist. Es kann sich nur um mehr oder weniger gezielte (Ziel) Irritationen und Störungen handeln, die von den psychischen Systemen in einem operativ geschlossenen Prozess nach Maßgabe intern aufgebauter Strukturen verarbeitet werden.
Verwendete Literatur
Gilgenmann, Klaus (1986): Autopoiesis und Selbstsozialisation. Zur systemtheoretischen Rekonstruktion von Sozialisationstheorie. Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 6 (1): 71–90.
Hurrelmann, Klaus (2002): Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim/ Basel (Beltz), 8. Aufl.
Weiterführende Literatur
Zinnecker, Jürgen (2000): Selbstsozialisation – Ein Essay über ein aktuelles Konzept. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 20 (3): 272–290.