Rolle

engl. role, part, franz. rôle m, personnage m; der Begriff der Rolle verdankt sich keiner einheitlichen Theorie, sondern wird in unterschiedlichen soziologischen Theorien und in zahlreichen Teilgebieten verwendet.


Das Funktionieren einer Gesellschaft hängt, so Ralph Linton, davon ab, dass es Muster wechselseitigen Verhaltens gibt. Die Positionen, in denen Individuen (Individuum) handeln, nennt Linton »Status« (Linton 1936, p. 113). Das Individuum ist einem Status gesellschaftlich zugeordnet, und indem es die damit gegebenen Rechte und Pflichten zum Ausdruck bringt, spielt es eine Rolle (ebd., p. 114). Eine Gesellschaft funktioniert umso reibungsloser, je perfekter die Individuen an ihre Status und Rollen angepasst sind (ebd., p. 115).


Diese Annahme findet sich auch im Werk von Talcott Parsons wieder. Rollen bilden den Schnittpunkt von Persönlichkeitssystem (System psychologischer Antriebe und sozialer Bedürfnisse), Sozialsystem (System der sozialen Beziehungen und des Handelns) und kulturellem System (System der Werte und der symbolischen Bedeutungen einer Gesellschaft). In den meisten Beziehungen ist der Handelnde nicht in seiner Ganzheit, sondern nur mit einem Ausschnitt seines gesamten Handelns beteiligt. Diesen Ausschnitt bezeichnet Parsons als Rolle. Rollen haben die Funktion, die für die Bedürfnisse eines gegebenen sozialen Systems »passenden« Verhaltensformen zu entwickeln. (Parsons 1945, S. 56). Das gelingt, wenn die Individuen im Laufe einer gelungenen Sozialisation die Normen und Werte internalisieren und eine feste Wertebindung (»commitment«) ausbilden. Als Teil der Persönlichkeitsstruktur wird sie zur inneren Steuerung und Motivation, die die Person letztlich freiwillig den gesellschaftlichen Verpflichtungen zustimmen lässt. Da Rollen durch allgemeine kulturelle Muster definiert sind, können sie universelle Geltung beanspruchen.


Dagegen hat Robert K. Merton eingewandt, man müsse die jeweiligen Bezugsgruppen (Gruppe; reference groups) in Betracht ziehen, für die Rollen gelten (Merton 1957a). Außerdem könne sich das Individuum in den allermeisten Situationen nicht nur an einer Rolle orientieren, sondern sehe sich mit einem mehr oder weniger klar definierten und differenzierten »role-set« konfrontiert (Merton 1957b). Mit der Theorie der Bezugsgruppen und der These des role-set wird das strukturelle Dilemma des Intrarollenkonfliktes angesprochen: Das Individuum sieht sich mit widersprüchlichen Erwartungen, die verschiedene Bezugspersonen an ein und dieselbe Rolle richten, konfrontiert.


Auch Ralf Dahrendorf bestritt, dass die Rollen, unter denen er »Bündel von Erwartungen« (1958, S. 35) versteht, einen universellen normativen Konsens repräsentieren. Die Menschen folgen ihnen auch nicht freiwillig, sondern weil sie bei Nichtbeachtung Sanktionen fürchten. Dahrendorf unterscheidet nach dem Grad möglicher Freiheit in und gegenüber einer Rolle und der Schwere der Sanktionen bei Beachtung bzw. Missachtung zwischen Muss-, Soll- und Kann-Erwartungen (S. 39 ff.).


Nach George Herbert Mead (Mead 1934) lernen wir soziale Rollen in zwei Phasen. Zunächst versetzt sich das Kind im Spiel in die Rolle wichtiger Bezugspersonen (signifikanter anderer) und handelt als sie. Durch die Teilnahme an Gruppenspielen lernt es, dass es soziale Regeln gibt, die Verhalten einschränken und koordinieren und generell für alle gelten. Das Kind lernt, Rollen zu spielen, wie »man« (der generalisiertere Anderere) sie in einer spezifischen Situation spielt. Nach Mead bedeutet Handeln Kommunikation. Ego tut etwas und beobachtet, wie Alter darauf reagiert. Dazu versetzt es sich für einen Augenblick in die Rolle des anderen, denkt aus seiner Position und vollzieht sein Handeln nach. In dem Prozess der Rollenübernahme (»role taking«) entwirft Ego wiederum seine Reaktion (»role making«) und wird sich dadurch seiner Identität (»self«) bewusst. Aus dieser Erklärung des Handelns hat der symbolische Interaktionismus (Interaktion) die These abgeleitet, dass Rollen nicht blind exekutiert werden, sondern erst in der jeweiligen Situation und fortlaufend geschaffen werden.


Erving Goffman behandelt das Thema »Rolle« unter der Perspektive, wie sich das Individuum vor anderen darstellt (»presentation of self«) (Goffman 1959). In der Spannung zwischen der Zuschreibung einer bestimmten Rolle durch die anderen und dem Anspruch, die eigene Identität ins Spiel zu bringen, versucht das Individuum, einen bestimmten Eindruck zu erwecken (»impression management«). Das Handeln in und gegenüber Rollen ist wie ein dramatischer Auftritt, der auf offener Bühne erfolgt, bei dem aber auch das Geheimnis der Hinterbühne gewahrt wird, wo Erwartungen des Publikums bedient und gleichzeitig die Informationen kontrolliert werden, die man durch sein Verhalten gibt, indem das Publikum in die Handlungen einbezogen und zugleich unmerklich gelenkt wird. Gegen zugemutete Rollen, die dem eigenen Selbstbild nicht entsprechen, wehrt sich das Individuum mittels Rollendistanz, was nicht als Verweigerung, sondern als die hohe Kompetenz zu verstehen ist, eine soziale Rolle nach eigenen Maßstäben selbst zu definieren und zu spielen.


Niklas Luhmann stellte in einer frühen Phase seiner Theoriebildung einen Zusammenhang zwischen Institutionen und Rollen her. Institutionen stellen »nicht einfach einen Normenkomplex, sondern einen Komplex faktischer Verhaltenserwartungen« dar; diese Erwartungen werden »im Zusammenhang einer sozialen Rolle aktuell« und können »durchweg auf sozialen Konsens rechnen« (Luhmann 1965, S. 12 f.). Rollen reduzieren die Komplexität eines sozialen Systems, indem bestimmte Verhaltensweisen aus einer vagen Fülle möglicher Verhaltensweisen laufend ausgeschlossen und andere nur so weit präzisiert werden, »wie dies zur Sicherung von Anschlussverhalten unerlässlich ist« (Luhmann 1984, S. 397, 418). Im Grunde läuft es so ab: »Alter bestimmt in einer noch unklaren Situation sein Verhalten versuchsweise zuerst [...] – und wartet ab, ob und wie Ego die vorgeschlagene Situationsdefinition annimmt« (ebd. S. 150). Rollen werden sozusagen in der Interaktion und nur dort als Handlungsmöglichkeit erzeugt. Kommunikationsereignisse beziehen sich auf sich selbst (Selbstreferenz), sie beziehen sich aber auch auf etwas außerhalb des konkreten Systems (Fremdreferenz). »Jeder Teilnehmer findet sich außerhalb des Interaktionssystems andersartigen Erwartungen ausgesetzt, und jeder muss Verständnis dafür aufbringen, dass es jedem so geht« (ebd., S. 569). Jeder ist außerhalb einer konkreten Interaktion, im System der Gesellschaft, an andere eigene Rollen gebunden. Der Bezug auf diese »ruhenden Rollen« (Kieserling 1999, S. 246) darf in einer thematischen Interaktion im Prinzip nicht zugelassen werden, da er eine »unsachgemäße Einflussnahme« (ebd., S. 250) durch den einen Teilnehmer begünstigen bzw. zu einer unzulässigen Generalisierung von Erwartungen beim anderen Teilnehmer führen kann. Im Prinzip – denn es kann für das Interaktionssystem auch förderlich sein, dass die Umwelt des Systems zur Sprache kommt, nämlich dann, wenn die Informationen die beiderseitigen Erwartungen in eine gemeinsame Richtung weitertreiben. Wenn die Außenbindungen an andere eigene Rollen in der Interaktion transparent sind, führen sie »zur Selbstkontrolle jedes einzelnen Teilnehmers, denn ihm wird zugemutet, dass [...] er selbst Rollenkonsistenz wahrt«, andererseits kann er »in der Interaktion Rücksicht darauf verlangen, dass er noch weitere Verpflichtungen zu erfüllen hat, und kann damit Distanz gewinnen« (Luhmann 1984, S. 569 f., 572).


Verwendete Literatur


Dahrendorf, Ralf (1958): Homo Sociologicus. (Mit einem Nachwort von Heinz Abels). Wiesbaden (VS), 17. Aufl. 2010.


Goffman, Erving (1959): Wir alle spielen Theater. München (Piper), 7. Aufl. 1991.


Kieserling, André (1999): Kommunikation unter Anwesenden. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Linton, Ralph (1936): The study of man. New York (Appleton-Century-Crofts).


Luhmann, Niklas (1965): Grundrechte als Institution. Berlin (Duncker & Humbolt).


Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Mead, George Herbert (1934): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 1973.


Merton, Robert K. (1957a): Continuities in the theory of reference groups and social structure. In: Robert K. Merton (1968): Social theory and social structure. New York (The Free Press).


Merton, Robert K. (1957b): The role-set. The British Journal of Sociology VIII (June): 106–120.


Parsons, Talcott (1945): Systematische Theorie in der Soziologie. In: Talcott Parsons (1964): Beiträge zur soziologischen Theorie. Neuwied (Luchterhand).


Weiterführende Literatur


Abels, Heinz (2001): Einführung in die Soziologie, Bd. 2. Die Individuen in ihrer Gesellschaft. Wiesbaden (VS), 4. Aufl. 2009.


Miebach, Bernhard (1991): Soziologische Handlungstheorie. Wiesbaden (VS), 2., grundl. überarb. u. aktual. Aufl. 2006.


Schimank, Uwe (2000): Handeln und Strukturen. Weinheim/München (Juventa).