Gruppe

engl. group, franz. groupe m; die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes verweist auf die Klassifizierung gleicher oder ähnlicher Elemente, die zusammen eine spezifische Gestaltwahrnehmung ermöglichen: Baumgruppe, Inselgruppe, eine Gruppe von Tieren, Gebirgsgruppe etc. Im 19. Jh. findet der Begriff »Gruppe« dann mehr und mehr auch zur Bezeichnung sozialer Phänomene Verwendung, vorerst allerdings noch sehr undifferenziert. In der ersten Hälfte des 20. Jh. gewinnt der Gruppenbegriff seine heute übliche Spezifikation zur Charakterisierung einer ganz bestimmten sozialen Formation: eine Face-to-Face-Konstellation überschaubarer Größenordnung (Görlich 1974; vgl. auch Duden 2007).


Die unterschiedlichen Bedeutungshorizonte, die sich am Beginn des 20. Jh. mit dem Gruppenbegriff verbinden, sind eine Resonanz auf den gesellschaftlichen (Gesellschaft) Strukturwandel, den der Prozess der Industrialisierung, der Urbanisierung und der Ausdifferenzierung einer modernen staatlichen Infrastruktur mit sich brachte. Wie das moderne Organisationsverständnis ist auch der inzwischen gebräuchliche Gruppenbegriff, historisch gesehen, ein recht junges Phänomen. Beide Typen von Sozialsystemen sind das Ergebnis ein und desselben gesellschaftlichen Transformationsprozesses und verweisen auf komplementäre Formen der Vergesellschaftung. Diese Komplementarität ist wichtig, will man die subtilen Bedeutungsnuancen verstehen, die dem Gruppenbegriff seit dem Beginn des 20. Jh. innewohnen. Er umschreibt alle jene sozialen Formationen, die lange Zeit unter dem Begriff der informellen Organisation diskutiert worden sind. Er kennzeichnet aber auch die Vorstellungen von Gruppen und Teams als arbeitsorganisatorisches Gegenmodell zur Hierarchie. Letztlich erfasst er die Vielzahl ganz unterschiedlicher sozialer Einheiten, deren Existenzgrund primär darauf gerichtet ist, im alltäglichen Miteinander (Alltag) die persönlichen Beziehungen sowie die höchstpersönlichen Bedürfnisse der Beteiligten zu befriedigen (das reicht von der Familie über Freundschafts- und Freizeitgruppen bis hin zu Wohngemeinschaften etc.). All diesen sozialen »Gebilden« ist gemeinsam, dass in ihnen die beteiligten Individuen (Individuum) in besonderer Weise vorkommen. Es wird ihnen zumindest potenziell ein Platz, eine Rolle eingeräumt, die den Eigenheiten, den Wünschen und Bedürfnisses jedes Einzelnen einen legitimen Raum schafft, ganz im Unterschied zur konsequenten Funktionalisierungserwartung (Erwartung), die sich an die Mitgliedschaft in Organisationen knüpft. Genau diese grundlegende Differenz zwischen Gruppe und Organisation, die in der Blütephase der Kleingruppenforschung, der Gruppendynamik, wie auch der Organisationsentwicklung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Pate gestanden hat, ist letztlich dafür verantwortlich, dass sich der Begriff Gruppe für eine ganz bestimmte normative Aufladung geeignet hat und immer noch eignet (als Ort der Aufhebung von Entfremdung – frei von wechselseitiger Instrumentalisierung, als Entfaltungsraum persönlicher Emanzipationsbestrebungen, als Plattform egalitärer Beteiligungsmöglichkeiten, als Chance für die Mobilisierung bislang ungenutzter Begabungen etc.).


Für Niklas Luhmann u. a. ist der Gruppenbegriff stets unscharf und theoretisch ohne nennenswertes Entwicklungspotenzial geblieben (vgl. Luhmann 2000, S. 24). Wir brauchen aus seiner Sicht einen Begriff, der ohne normativen Zungenschlag das Interaktionsgeschehen unter Anwesenden beschreibbar macht, ohne gleichzeitig infrage zu stellen, dass es sich dabei um Kommunikation in Organisationen bzw. im Gesellschaftssystem insgesamt handelt. Die heute nach wie vor übliche Semantik von »Gruppe« und »Team« dient aus dieser Perspektive ausschließlich dazu, die Härte hierarchischer Verhältnisse sprachlich abzuschwächen, indem Werte wie Gleichberechtigung, Partizipation und Selbstverwirklichung hochgehalten werden. Trotz der berechtigten Skepsis gibt es aber ausreichend Gründe dafür, an dieser Begrifflichkeit weiter festzuhalten und die diesbezüglichen Theorieanstrengungen wieder zu verstärken. Wir müssen uns sowohl von der alten Gleichsetzung von Hierarchie und Organisation wie auch von den normativen Aufladungen verabschieden, die der Gruppenbegriff aus bestimmten Denktraditionen mitbringt. Gerade in der intelligenten Verknüpfung der Leistungspotenziale von Teams und Hierarchie liegt die Herausforderung in der Entwicklung komplexitätsangemessener (Komplexität) Führungsstrukturen. Die Gruppe (im Kontext von Organisationen sprechen wir von Team) als ein eigenständiger Typus sozialer Systembildung (Sozialsystem) ist ein »emergentes« Phänomen (Markowitz 2007, S. 21 ff.). Sie entwickelt sich unter ganz bestimmten Rahmenbedingungen aus der Startsituation eines Interaktionssystems heraus. Interaktionssysteme konstituieren sich über Kommunikation unter Anwesenden. Eine solche Kommunikation kommt in Gang, sobald Anwesende sich wechselseitig als kommunikationsbereit wahrnehmen (Luhmann 1997, S. 814). Diese begriffliche Disposition liefert Beschreibungs- und Analysemöglichkeiten für eine unendliche Vielfalt von sozialen Situationen, in denen Face-to-Face-Begegnungen stattfinden – vom lockeren Partygespräch über das gemeinsame Essen in der Familie bis hin zur Routinebesprechung in Organisationen. Solche Systeme existieren nur so lange, wie sich die gleichzeitig Anwesenden miteinander in Kommunikation befinden.


Wir gehen davon aus, dass über das Moment der Dauerhaftigkeit und über einen kommunikativ erzeugten gemeinsamen Existenzgrund, der ein weiteres Zusammenwirken der Teilnehmer erforderlich macht, feste Zugehörigkeitsgrenzen ausgeprägt werden, die das Emergenzniveau »Gruppe« entstehen lassen. Im Übergang vom Interaktionssystem zur Gruppe evolviert ein »Wir«-sagen-Können. Mitgliedschaft schafft für jeden Einzelnen Zugehörigkeit, d. h., die Grenzen des Systems definieren sich durch das gemeinsam geteilte Gefühl der Zusammengehörigkeit, das letztlich auf einem Füreinanderentscheiden beruht. Anders als in Organisationen berührt der Wechsel in der Mitgliedschaft die Identität der Gruppen stets in einem ganz besonderen Maße. Der Einzelne ist wegen der hohen Personenorientierung nicht so einfach austauschbar. Mitgliedschaftsentscheidungen besitzen deshalb in Gruppen immer eine besondere Brisanz. Gruppen und Teams benötigen für ihre Entwicklung eine gewisse Eigenzeit, um sich auf das erforderliche Emergenzniveau zu heben. Für diese Art von Arbeitsfähigkeit sind eine Reihe von Strukturmerkmalen ausschlaggebend, die hier nur andeutungsweise benannt werden können. Kommunikation unter Anwesenden wird stets durch ein ganz bestimmtes Thema gesteuert. Zur gleichen Zeit kann immer nur ein Thema behandelt werden, das die Aufmerksamkeit aller in der Gruppe bündelt. Damit ist eine unvermeidliche Auswahl- und Fokussierungsleistung verbunden, die selbst viel Aufmerksamkeit und auch Achtsamkeit erfordert. Die Gruppe basiert auf dem Prinzip der vollständigen Verknüpfung aller anwesenden Kommunikationsteilnehmer. Jeder hat jeden im Blick und kann mit jedem zu jedem Zeitpunkt in Kontakt treten. Dieses Vernetzungsprinzip impliziert eine klare Größenbegrenzung von Gruppen.


Begreift man Gruppe als eigenständigen Typus sozialer Systembildung, dann wird deutlich, dass hier eine spezifische Kombination von Merkmalen bedeutsam wird, die sowohl für Interaktionssysteme als auch für Organisationen kennzeichnend sind: Kommunikation unter Anwesenden mit all den damit verbundenen Implikationen (z. B. Verpersönlichung der Beziehungen) auf der einen Seite und Mitgliedschaft, Entscheidungskompetenz, eine dauerhafte Zeitperspektive, Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstreflexion etc. auf der anderen Seite. Diese Merkmalskombination verleiht Gruppen ihren typischen Hybridcharakter (Tyrell 1983; Pelikan 2004), der es eigentlich verbietet, solche sozialen Systeme der einen oder anderen Seite zuzuschlagen. Für Organisationen heutigen Zuschnitts sind Teams vor allem deshalb zu einer unverzichtbaren Ressource geworden, weil sie den sozialen Ort angeben, an dem der Grundkonflikt (Konflikt) zwischen Personenorientierung und dem unverzichtbaren Aufgabenbezug legitimerweise seine Austragung finden kann. Damit kann ein privilegierter Zugang zu dem ansonsten ausgeklammerten Wahrnehmungs- und Verarbeitungspotenzial der beteiligten Individuen erschlossen werden. Über das Team erfolgt gleichsam auf kontrollierte Weise eine Wiedereinführung des Persönlichen in die Organisation heutigen Zuschnitts (Teamarbeit).


Verwendete Literatur


Görlich, Christian (1974): »Gruppe soziale«. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe des »Wörterbuches der philosophischen Begriffe« von Rudolf Eisler. Bd. 3. Basel/Stuttgart (Schwabe), 2007, S. 929–933.


Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen (Westdeutscher Verlag).


Markowitz, Jürgen (2007): Referenz und Emergenz: Zum Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen. In: Jens Aderhold u. Olaf Kranz (Hrsg.): Intention und Funktion, Wiesbaden (VS), S. 21–45.


Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.) (1983): Gruppensoziologie: Perspektiven und Materialien. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Sonderheft 25). Opladen (Westdeutscher Verlag).


Pelikan, Jürgen M. (2004): Gruppendynamik als Hybrid von Organisation und Interaktion: Eine systemtheoretische Analyse inszenierter persönlicher Kommunikation. Gruppendynamik und Organisationsberatung 2: 133–160.


Tyrell, Hartmann (1983): Zwischen Interaktion und Organisation: Gruppe als Systemtyp. In: Friedhelm Neidhardt (Hrsg.): Gruppensoziologie: Perspektiven und Materialien. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Sonderheft 25). Opladen (Westdeutscher Verlag), S. 75–87.


Wimmer, Rudolf (2007): Die Gruppe – ein eigenständiger Grundtypus sozialer Systembildung? Ein Plädoyer für die Wiederaufnahme einer alten Kontroverse. In: Jens Aderhold, Olaf Kranz (Hrsg.): Intention und Funktion. Wiesbaden (VS), S. 270–289.


Weiterführende Literatur


Edding, Cornelia u. Karl Schattenhofer (Hrsg.) (2009): Handbuch: Alles über Gruppen. Weinheim/Basel (Belz).


Hackmann, Richard (ed.) (1990): Groups that work (and those that don’t). San Francisco (Jossey-Bass).


Heintel, Peter (Hrsg.) (2006): betrifft: TEAM. Dynamische Prozesse in Gruppen. Wiesbaden (VS), 2. Aufl. (2009).


Wimmer, Rudolf (2006): Die Funktion von Teams in komplexen Organisationen. In: Cornelia Edding u. Wolfgang Kraus (Hrsg.): Ist der Gruppe noch zu helfen? Gruppendynamik und Individualisierung. Opladen (Budrich), S. 169–192.