Macht "systemisch" noch Sinn?

Das Helm-Stierlin-Institut veranstaltet am Dienstag, den 26. April 2022, in seinen Räumen in Heidelberg einen diskursiven Workshop zur Frage: Macht "systemisch" noch Sinn? Der Workshop ist gleichzeitig ein Fachtag der Fachgruppe Synergetik, Neurowissenschaften und systemische Praxis der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF).
Zum Gespräch bei Heidelberger Systemische Interviews trafen sich die Initiator:innen Rieke Oelkers-Ax, Lehrtherapeutin am Helm-Stierlin-Institut und Chefärztin des Familientherapeutischen Zentrums Neckargemünd (FaTZ), Günter Schiepek, Leiter des Instituts für Synergetik an der Paracelsus Medizinischen Fakultät der Privatuniversität Salzburg und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Martin Rufer, Psychologie und systemischer Psychologe in eigener Praxis und Weiterbildner und Supervisor in Bern. Sie schärfen hier die Fragestellungen, denen der Fachtag sich widmen wird, noch einmal aus.
Martin Rufer hatte den Ball ins Spiel gebracht: Wie trennscharf ist der Begriff "systemisch" (noch), oder benennt er ein weichgespültes Sammelsurium von Ideen dazu, dass halt "alles irgendwie zusammenspielt". Wie steht es um die Abgrenzbarkeit des Verfahrens, die erkenntnistheoretische Grundierung der Ausbildungscurricula? Was wäre eine "systemische Identität"? - Quo vadis, Systemik?



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Transkription des Interviews


Ohler Hallo und herzlich willkommen bei Heidelberger Systemische Interviews an Rieke Oelkers-Ax, Martin Rufer und Günter Schiepek. Der unmittelbare Anlass ist ja die Idee eines Fachtags, oder eines diskursiven Workshops, im Helm-Stierlin-Institut mit dem für manche vielleicht provokanten Titel "Macht ´systemisch´ noch Sinn?". Martin, du hast den Ball ins Rollen gebracht. Was hat dich dazu verführt zu sagen: Den Ball muss ich ins Rollen bringen, ihn ausspielen? Was war die Idee? Was war die Motivation?


Rufer Ja, also das hat eine lange Geschichte, ich möchte mich wirklich sehr kurz fassen. Aber ich war mir bewusst, dass, wenn ich diesen Titel setze, dass ich etwas Ketzerisches in die Welt setze. Einerseits durch die Anerkennung der systemischen Therapie in Deutschland, andererseits durch eine 20-jährige Tradition der systemischen Therapie in der Schweiz. Da kommt jetzt einer und sagt: Macht "systemisch" noch Sinn? Das ist ja auch fast, als ob ich fragen oder sagen würde: Macht "feministisch" noch Sinn? Oder in der heutigen Zeit: Macht "pazifistisch" noch Sinn? Jetzt, wo alle sagen, Aufrüstung macht Sinn oder ich weiß nicht was. Also eine sehr provokative Frage. Veranlasst haben mich eigentlich zwei Dinge. Einerseits bin ich ja seit weit über 30 Jahren in der Berufspraxis in der Systemischen Therapie, habe ein Institut geleitet, arbeite jetzt nur noch im kleinen Pensum, habe aber viel Einblick nach wie vor in die Arbeit von jungen Kolleg:innen, habe auch viele Weiterbildungen gegeben. Und ich habe mir in dieser Zeit, und in letzter Zeit zunehmend, immer wieder die Frage gestellt: Wird eigentlich hier systemisch gearbeitet? Oder: Was genau macht eigentlich das zu Beratung oder zu Therapie, was dann eine gute, oder ansatzweise gute, Therapie ist? Und habe mich damit wirklich mit der Frage auseinandergesetzt: Ist das eigentlich noch systemisch? Ich hatte ganz am Anfang noch den Untertitel gesetzt: Zum methodischen Wellen-Spiel in Beratung und Therapie. In der VT redet man ja von der vierten Welle – die Emotions-Welle. Die hat ja natürlich auch vor der systemischen Therapie nicht halt gemacht. Und kürzlich hat mir eine Kollegin gesagt, weil ich sie gefragt habe "Areitest du immer noch systemische?": "Nee, im Moment arbeite eher mit EFT, Emotionsfokussierte Therapie.".Okay. Was ist jetzt systemisch? Ist jetzt EFT auf derselben Ebene wie systemisch? Das war so eine Überlegung, die ich mir gestellt habe. Dann kommen da natürlich verschiedene andere Fragen dazu: Wann sie systemisch? Wie systemisch? Systemisch als Meta Modell? Systemtherapeutisch? Therapie mit dem System? Und so weiter. Und mir war wichtig, nicht einfach eine These zu posten – ich habe natürlich meine Meinung dazu, ich habe mir auch vieles dazu überlegt –, sondern einen Diskurs in Bewegung zu setzen,um mal zu schauen: Bewegt diese Frage eigentlich auch noch außer mir jemanden? In der Schweiz habe ich das ja bei ein paar Kollegen gepostet und hab gemerkt, die Resonanz ist quasi null. Das heißt Leute, die in der Praxis sehen das vielleicht als interessant, aber sagen auch: Ach, ich steh da aber irgendwo an einem anderen Ort oder muss ich mit Alltagsfragen auseinandersetzen. Und dann hat es mich sehr gefreut, dass Günter und dann Rieke den Ball aufgenommen haben. Natürlich habe ich auch mit Günter eine alte Verbundenheit, und er hat gesagt: Das eine spannende Geschichte, da machen wir was draus. Der Diskurs darüber, das muss ich doch noch sagen, den führe ich einiger Zeit nicht nur mit mir selber, sondern sehr intensiv auch mit meinem lieben Kollegen – inzwischen auch fast Freund – Wolfgang Loth, mit dem ich in engem Mail-Kontakt stehe, wo wir uns mit diesem Thema immer wieder auseinandersetzen. Das eine ist der Praxisfaden, den ich bei mir gezogen habe, und auf der anderen Seite dieser Diskurs mit Wolfgang, der mich dazu angeregt hat, dieses Thema aufzugreifen.


Ohler Wir gucken gleich ein bisschen in die zentralen Fragen, die ihr vielleicht auch jeweils mitbringt. Ich habe das jetzt von der "Anciennität" so verstanden, dass der erste, der den Ball aufgenommen hat, der Günter Schiepek ist. Richtig? Ja, dann würde ich ihn –hoffentlich mit Erlaubnis von Rieke – als nächstes fragen: Was hat dich dazu bewegt, den Ball aufzunehmen, und wie hast du ihn weitergespielt oder balanciert?


Schiepek Also diese Frage "Macht ´systemisch´ noch Sinn?" beschäftigt mich eigentlich, wie Martin, auch schon längere Zeit. Und ich liebe so provokativ Sticheleien. Das hat mir dann auch Spaß gemacht, dass das so schön provokativ formuliert wurde. Ich hab im Jahr 2013 in einem Buch "Die Grundlagen der systemischen Therapie und Beratung" diese Frage auch gestellt. Das Buch beginnt damit, dass es "systemisch" im Sinne einer Therapieschule gar nicht gibt. Ich habe versucht damals, mehrere Definitionskriterien für systemische Therapie durchzudeklinieren, und kein einziges hat sich ale etwas herausgestellt, das spezifisch im Sinne von entweder notwendig oder hinreichend für einen systemischen Beratungs- oder Therapieansatz ist. Familientherapie, das gibt es schon lange und nicht nur in der systemischen Therapie, sondern in fast jeder Richtung. Angefangen hat auch nicht die systemische Therapie, sondern vielleicht Alfred Adler mit Familientherapie und Paartherapie in Wien vor vielen, vielen Jahrzehnten; Mehrpersonentherapie gibt es überall, Ressourcenorientierung ist auch nicht spezifisch für systemische Therapie. Konstruktivismus erst recht nicht. Ich bin leidenschaftlich dagegen, einen Therapieansatz mit einer erkenntnistheoretischen Ideologie gleichzusetzen. Und noch ein paar andere Kriterien auch. Ich hab nichts gefunden, wo ich sagen würde, das ist jetzt spezifisch für systemische Therapie, sondern das ist kreuz und quer, diffundiert über alle Schulen. Und das gilt übrigens nicht nur für systemischen Therapie. Wenn man sich das näher anschaut, ist auch so ein Flaggschiff der evidenzbasierten Therapie wie die kognitiven Verhaltenstherapie auch nicht wirklich klar abgrenzbar zu definieren. Wahrscheinlich ist das jetzt auch gar kein Blaming der systemischen Therapie im Speziellen, sondern ein Symptom der Götterdämmerung von Therapieschulen überhaupt. Also die meisten Therapieforscher denken überhaupt nicht mehr in Kategorien von Therapieschulen. Vielleicht muss das eher in Richtung dessen gehen, dass wir mehr mit integrativen Modellen arbeiten, mit paradigmatischen, metatheoretischen Modellen, oder im Sinne von complexive designs. Und wenn man von komplexen Systemen redet, schulen- und disziplinenübergreifend, transdisziplinär, dann macht natürlich "systemisch" Sinn. Aber der Begriff ist ganz anders. In der internationalen Szene der Systemwissenschaftler, der complexity scientists und auch der Psychotherapieforschung, gibt es den Begriff "systemisch" gar nicht. Das heißt dann – meistens englisch – nonlinear dynamics, complex systems, complexive designs, und so weiter. In diesem Sinne, oder im Sinne eines integrativen Ansatzes, macht das für mich noch Sinn. Im Sinne einer Therapieschule ist es weder zu definieren, noch macht es Sinn. Das ist mir eigentlich schon aufgefallen, als ich damals Mitte der angefangen habe, die ersten Argumentationen, die auch in einem Buch geendet haben, für die Anerkennung der systemischen Therapie zusammenzustellen. Und da ist mir schon klar geworden, dass das Kraut und Rüben sind, die da zusammengeführt worden sind. Da gab es am meisten empirische Evidenz für irgendeine Form von Familientherapie, die sehr stark eine psychodynamisch orientierte Familientherapie war, von Sapoznik in Florida und deren Team. Und die haben sich selber überhaupt nicht als systemische Therapeuten verstanden. Aber sie haben gute empirische Studien, die die Systemiker damals gerne aufgegriffen haben, und die bis heute in dieser Argumentationskette für die Anerkennung geführt haben. Die haben das gerne aufgegriffen. Auf der anderen Seite standen Dinge von de Shazer, die aus einer völlig anderen Welt stammen. Damals ist mir schon aufgefallen: Das kann so nicht gehen und das macht so überhaupt keinen Sinn.


Ohler In den beiden Beiträgen kommt ja schon die Dynamik dieses Diskurses, der da wohl zu erwarten ist, raus. Rieke, du hast den Ball auch aufgenommen, und hast jetzt auch noch mal den Ball aufgenommen und gehört, was gesagt worden ist. Was motiviert dich und welche Fragen sind für dich ganz besonders wichtig unter dem Titel: "Macht ´systemisch´ noch Sinn"? Was ist da die Motivation?


Oelkers-Ax Ja, mich hat die Frage, die Martin ja auch in die Weiten des Internets gestellt hat, in den digitalen Raum: "Hat jemand Interesse an diesem Thema?", und er würde sich gern, Martin, mit dir zusammen dieser Frage annehmen, sofort angesprochen. Das ist einmal, was am Helm-Stierlin-Institut (hsi) uns, glaub ich, übergreifend – sowohl die Dozierenden als auch die Lernenden – beschäftigt. Was ist denn eigentlich systemisch, und was macht eigentlich systemisch aus? Wofür machen wir das alles? Und gibt's was, wie man das fassen kann? Ich glaube, das ist – Günter, wie du schon gesagt hast – das ist nicht spezifisch. Es ist nicht so eine Ingredienz wie in einem Medikament, dass man sagt, da ist jetzt soundso viel Paracetamol drin und deswegen wirkt es jetzt, sondern es ist viel schwerer zu fassen. Ich habe damals für Kurse auch mal nachgeschlagen: Wie definieren denn die systemischen Gesellschaften eigentlich "systemisch"? Da schreibt jede was anderes, wie sie das definiert. Und ich glaube, wenn wir 20 Systemiker fragen würden, würden wir 20 verschiedene Antworten darauf kriegen, was eigentlich "systemisch" ist. Eine Definition, die für mich einen wichtigen Teil mit abdeckt, ist nicht-reduktionistischer Umgang mit Komplexität. Das ist für mich so ein wichtiger Punkt. Was mich daran beschäftigt, ist, wenn ich jetzt nicht spezifisch sagen kann, was "drin" ist – Ich kann nicht sagen 100 Gramm des und 100 Gramm das, das ist dann die ideale systemische Mischung – es gibt aber, glaube ich, doch irgendwas, was einen systemischen Unterschied zu etwas anderem macht. Ich bin auf den Begriff der Essenz gestoßen. Was ist denn so die Essenz vom Systemischen für jeden von uns? Oder wo ist das, wo wir uns doch wieder treffen würden? Bei allen unterschiedlichen Definitionen, die wir vielleicht haben? Ist das etwas, was mit der Haltung zu tun hat? Ist das was, was mit der Art, wie ich Konstellationen verstehe, wie ich Kontakte rahme, wie ich versuche, Meta-Positionen immer wieder einzunehmen und auch mich selber wieder in Frage zu stellen, meinen eigenen Standpunkt? Ist das was, was vielleicht ein Stück der Essenz sein kann? Wir arbeiten ja im familientherapeutischen Zentrum schon auch systemisch, wobei Kinderpsychiatrie ja traditionell so ein bisschen integrativ und polypragmatisch ist und alle Ansätze auch mit reinnimmt, die sich bewährt haben und die funktionieren. Und trotzdem gibt es, glaube ich, so etwas, entweder innen drin als Essenz oder als Rahmung, wo ich sagen würde, das macht einen Unterschied. Zu dieser Frage der Schulen-Integration: Vielleicht kann ich mit einer systemischen Haltung verhaltenstherapeutische Interventionen machen oder Pharmaka geben oder weiß Sporttherapie machen oder so. Und gibt es umgekehrt einen Punkt, wo das dann nicht mehr systemisch ist? Gibt es einen Kipppunkt, wo zu wenig von irgendeiner Essenz da ist und das Systemische nicht mehr spürbar wird, oder wegrutscht?


Ohler Okay. Man, sieht, wo der Diskurs wahrscheinlich hinführt. Wir wollen Details nicht vorwegnehmen, da gibt es ja einen ganzen Workshop-Fachtag dazu. Du hattest dich gemeldet Martin, vielleicht noch zu einer direkten Stellungnahme dazu.


Rufer Genau. Ich würde Rieke durchaus beipflichten, dem, was sie sagt Es gibt wahrscheinlich innerhalb der systemischen Therapie fast mehr Schulen, als es Schulen in der Psychotherapie gibt. Das heißt, es ist in sich sehr diversifiziert. Die Frage, die mich vor allem umtreibt, ist, ob nicht die Ebenen, die wir zum Teil miteinander verbinden, teilen, sehr unterschiedliche Systemebenen sind. Nämlich die Frage: Ist die Systemebene des Praktikers, der mit seinen Klienten oder Klientinnen, ob es Einzelpersonen, Familien, Paare oder Organisationen sind, das eine Betroffenheitssystem? Dann gibt es den Blick auf die Arbeit, das Draufschauen – ich glaube, Wolfgang Loth hat den Begriff mal sehr schön geprägt, die Draufsicht auf etwas – das ist wieder ein System für sich, wodrüber reflektiert wird. Das heißt, es sind wie verschiedene Systemebenen. Man könnte sogar noch einen Generationen Blick nehmen, nämlich wir "Alten", in Anführungszeichen, mit unserer Erfahrung, mit unseren Reflexionen, und die Jungen, die irgendwo 30-jährig sind, die einen ganz anderen Zugang haben zu dem, was sie in der Praxis machen als ihr, die die ganze Pionierarbeit mitgekriegt haben und so weiter und das angereichert haben, sei es jetzt im wissenschaftstheoretischen oder im pionierhaften Sinne. Und diese verschiedenen Ebenen, die – merke ich immer wieder – bringt man nicht zusammen. Das heißt, alle drei Ebenen sind wichtig. Die Frage ist nur: Wo ist die Interdependenz? Wer profitiert von wem? Ist dieser Diskurs überhaupt noch gefragt? Oder wie mir eine Kollegin mal gesagt hat: Ach, das ist Philosophengeschwätz. Wenn man jetzt da über Wittgenstein oder über Schiepek oder über die weiß nicht was noch – das ist zwar interessant, aber da schrecke ich dann auf und denke: Wo und was und wie ist dann noch sinnvoll, darüber zu reflektieren, was wir machen?


Ohler Günter, du meldest dich gerade noch, und dann würde ich gerne noch eine Frage dazu einbringen. Aber vielleicht, Günter, erst mal direkt dazu.


Schiepek Also die Formulierung von Rieke – ein nicht-reduktionistischer Umgang mit Komplexität – das gefällt mir sehr gut. Vor allen Dingen, weil diese Formulierung nichts mit Psychotherapie und Beratung zu tun hat. Ich denke, die Systemik findet man in anderen Gebieten mindestens genauso gut repräsentiert. Hirnschung ist ein Paradebeispiel für systemisches Denken oder systemisches Forschen, Klimaforschung, bestimmte Bereiche von Finanzmärkten und Gesellschaft, und und und. Also "systemisch" würde ich überhaupt nicht mit einer Beratung s-oder Therapierichtung in Verbindung bringen. Mit dem Punkt Haltung kann ich jetzt weniger anfangen, denn erstens würde ich gerne den anderen Kollegen, die nicht in irgendeinem Schulensinne unterwegs sind, auch eine löbliche, ehrenvolle und menschlich zugewandte Haltung zusprechen. Klienten- oder Personzentrierte Therapie ist, foinde ich, vom Menschenbild her – Rogers und so weiter – wunderbar. Das ist eine zutiefst systemische Haltung. Ich kenne viele Kollegen jeder Couleur, und Ich würde sagen, das sind alles ehrenwerte Menschen, die ihren Klienten wirklich super und auf Augenhöhe und ehrlich und echt begegnen. Auch dort kann ich nichts spezifisch Systemisches finden. Ich würde "systemisch" ganz einfach definieren: Das ist das Adjektiv zu System. Und ein System ist eine Menge von Elementen mit Relationen dazwischen – seien das chemische Partikel, Tiere in meinem Gartenteich sein, seien das Neuronen im Gehirn, oder sonst etwas. Also wir müssen uns da für die Strukturen interessieren und sofort für die Dynamik. Für mich ist "systemisch" ganz wesentlich fast synonym mit "dynamisch", und wenn wir es schaffen, diese Prozesse mehr und mehr zu verstehen, gemeinsam mit den Klienten diese Prozesse auch zu erfassen in der Psychotherapie, zu modellieren in der Theorie, dann, würde ich sagen, sind wir systemisch unterwegs. Aber das hat mit einer Schule oder sowas überhaupt nichts zu tun.


Ohler Okay, ich springe da mal rein. Das sind auch diese Leitlinien, die wahrscheinlich große Unterschiede hervorbringen werden, und Fragen. Mich würde noch etwas interessieren – auch mit dem Hintergrund, dass dieser Workshop, dieser Diskurs, auch als Fachtag der Fachgruppe Synergetik, Neurowissenschaften und systemische Praxis der DGSF ausgeschrieben ist. Die DGSF ist ja ein großer Verband, und ist es ist ein Stück weit. Auch wenn, was der Martin vorhin schon erzählt hat, es schwierig ist mit der Resonanz, scheint man trotzdem eurer Ansicht zu sein: Es ist notwendig, den Diskurs zu führen, und es wird eigentlich auch erwartet. Es machen bisher bloß zu wenige. Wenn ich jetzt von den vielen Fragen ausgehe über Ausbildungscurricula, über Verständnis individueller Prozesse, nichtlineare Dynamiken – wie du es gesagt hast, Günter –, Qualitätssicherung. Das sind alles Fragen, die in der Ausschreibung sind. Was im Moment, würdet ihr denken, ist eine ganz wichtige Frage, mit der man in den Fachtag hineingeht? Und, systemisch gefragt: Woran würdet ihr merken, dass es Sinn gemacht hat, wenn er rum ist?


Rufer Ich habe die Frage nicht verstanden: woran es Sinn macht?


Ohler Woran würde er merken, dass es Sinn gemacht hat, die Frage einzuspeisen, wenn der Fachtag rum ist? Was muss da passieren? – Rieke vielleicht, wenn du willst.


Oelkers-Ax Ja, gar nicht kann ich so eine einfache Frage. Ich würde, glaube ich, denken – oder Martin, als du gesagt hast, diese verschiedenen Systemebenen bringt man wie irgendwie fast nicht zusammen – da habe ich gedacht Aber allein dein Versuch, dich auf diesen verschiedenen Ebenen zu bewegen oder diese verschiedenen Ebenen zu berücksichtigen, ist etwas, was ich mit etwas Systemischem assoziieren würde. Und für mich wäre, glaube ich, das dann gelungen, wenn uns genau so ein Diskurs an dem Fachtag gelingt –also unterschiedliche Sichtweisen, unterschiedliche Ebenen von "systemisch", unterschiedliche Definitionen von "systemisch". Günter hat gerade gesagt, "systemisch" ist für mich das Adjektiv von System, und ein Gehirn kann das genauso sein. Das ist sicherlich eine Definition, die wahrscheinlich nicht alle Systemiker so stehenden Fußes teilen würden. Aber uns darüber zu unterhalten und so ein Kaleidoskop aufzufächern, das wäre für mich ein gutes Ergebnis von einem Fachtag.


Ohler Und vielleicht noch kurz so – wenn du willst –eine Frage, wo du sagen würdest, es ist nicht die einzige, aber da finde ich ganz wichtig, dass die wirklich behandelt wird. Kann man das sagen?


Oelkers-Ax Ja, vielleicht die nach der systemischen Essenz. Das ist etwas, was mich gerade beschäftigt. Und für mich hat das mit dem Haltungs-Thema was zu tun. Vielleicht kann ich da Günter zu dir gerade noch sagen: Ich würde dir zustimmen. Ich will in keiner Weise sagen, nur Menschen mit einer systemischen Ausbildung hätten eine "brauchbare" – in Anführungsstrichen – Haltung. Ich glaube, dass das mitnichten. Es gibt sicherlich Leute, völlig ohne jede psychotherapeutische Ausbildung, die so was haben, was ich unter systemischer Haltung verstehen würde. Und es gibt sicherlich auch ausgebildete Systemiker, die das vielleicht nicht so sehr haben. Aber vielleicht haben es statistisch gesehen schon mehr Systemiker als Nicht-Systemiker. Weiß ich nicht, müsste man auch untersuchen. Aber ich glaube, das ist etwas, was schwer zu fassen ist, weil Papier so geduldig ist und jeder das auf die Homepage schreibt. Ich glaube aber schon, dass es da was gibt, was einen Unterschied macht und was fühlbar ist. Ich glaube, wir vier könnten uns wahrscheinlich auch mit vielen anderen bei konkreten Szenen noch ganz gut einigen, wann wir diese Haltung erleben und wann nicht, und wie man das so ein bisschen fassen kann. Das ist eine Frage, die mich interessiert.


Ohler Martin, deine Frage ...


Rufer Ich könnte es vielleicht noch ein bisschen konkretisieren mit der Frage: Woran erkenne ich, wenn ich bei einem Kollegen in der Praxis sitze oder sein Videoband anschaue, wenn er arbeitet – sei es mit Einzelpersonen, sei es mit Paaren, sei es mit Familien, was auch immer – woran kann ich erkennen, dass der systemisch arbeitet? Wenn das nicht das Setting ist ... – da bin ich überzeugt, es ist nicht nur das Setting, aber das Setting ist wichtig ... – Ich bin mit Günter total einverstanden, dass die "Haltung" Anführungszeichen kein einzelnes Kriterium ist, dass die Systemiker zum Beispiel, oder Humanisten oder was auch immer, für sich beanspruchen können. Es gibt Psychoanalytiker, die super arbeiten im Resonanzraum mit ihren Klienten zusammen. Aber was ist das, was das Systemische ausmacht, wo ich sagen könnte, das wäre dann auch für die Ausbildung wichtig? Was gilt es eigentlich zu lernen? Was gilt es zu lernen, wenn wir sagen Systemische Therapie – und das behaupten wir nicht nur, das kann man beweisen – ist wirksam. Und wie muss man das lernen? Was muss gelernt werden? Das will für mich eine ganz tolle Sache, wenn etwas von dem rüberkommen würde in diesem Diskurs.


Ohler Danke schön. Günter, deine Leitfrage, oder eine ausgewählte?


Schiepek Leitfrage, woran wir merken würden, dass es Sinn gemacht hat, diesen Fachtag am hsi zu veranstalten ... Ich würde zunächst mal sagen, wenn wir Spaß hatten, wenn wir lebendige, interessante Diskussionen hatten, dann wäre für mich sinnvoll gewesen nach Heidelberg gekommen. Ich würde es weniger am Ergebnis festmachen. Ich erwarte nicht, dass wir jetzt eine neue, konkrete Definition von "systemisch" erarbeiten werden an diesem Tag. Das glaube ich nicht. Und das ist eigentlich fast so der einzige Punkt, Rieke, wo ich ein bisschen anderer Meinung bin. Ich glaube, wir finden keine Essentials, weil es diese nach all meiner Beschäftigung damit gar nicht gibt. Wir finden auch keine Essentials von anderen Therapierichtungen. Und ich würde gern auch diesen Begriff der Systemik biopsychosozial erweitern. Martin, du hast von Ebenen gesprochen – also "systemisch" gibt es auf verschiedenen Ebenen. Für mich sind auch Leute, die Neuro-Therapien und Neuro-Stimulations-Therapien auf der Grundlage eines systemischen, sprich Komplexitäs und Selbstorganisations-Verständnisses des Gehirns entwickeln, die sind für mich auch Systemiker. Also ich würde es gerne ein bisschen erweitern, aus dem interpersonellen Resonanzraum. "Systemisch" ist nicht nur Paare und Familien und vielleicht therapeutische Dyaden, sondern das ist, wo auch immer wir hinschauen. Und die Frage "was gibt es zu lernen"?, da hab ich mal den Vorschlag gemacht von System-Kompetenz; da stehen die Kriterien eigentlich sehr klar drin, die man lernen könnte als Systemiker. Vieldimensional. Da gibt es den Umgang mit Prozessen und mit der Zeit, da gibt es die sozial interaktive, kommunikative, soziale Kompetenzperspektive, da gibt es aber auch Theorien und mathematische Modellierungen. Und für mich ist auch einer Systemiker, der nicht nur therapeutisch arbeitet, sondern sich in anderer Weise mit komplexen Systemen beschäftigt, also z.B. der Physiker, der jetzt den Nobelpreis gekriegt hat für seine Klimamodellierungen, Hasselmann, das ist für mich ein Systemiker. Oder Hermann Haken oder Ludwig von Bertalanffy, um historisch zu werden. Das sind alles Systemiker. Und für mich ist auch ein Systemiker, der am Computer sitzt und mathematische Modelle macht. Wenn er sich ernsthaft und wirklich interessiert, mit der Komplexität dieser Welt, wo auch immer die stattfindet, im Kleinen wie im Großen, auseinandersetzt, dann ist das auch systemisch. Also ich würde das auch gern aufbrechen und aus dieser engen Verlinkung mit Beratung und Therapie etwas befreien.


Ohler Möglicherweise hat das dann ja auch Einfluss, förderlichen. Man sieht: Der Ball rollt – um dein Bild aufzunehmen, Martin – und es wird sicher ein interessantes Spiel geben an dem Fachtag. Wann der Fachtag ist, ist auf jeden Fall im Begleittext zu unserem Gespräch dabei, wo man sich anmelden kann, und auch noch mal im Outro, das nachher kommt. Ich gucke mal auf die Zeit. Ich denke, wir haben eine Outline gegeben, um was es geht, was die Motivationsgeschichte ist und was die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden ist. Und die Leute, die dabei sein werden, werden mit Sicherheit ihre eigenen Sachen noch einbringen. Ich hoffe, dass Interesse da ist, dass Leute kommen und dass wirklich ... –wie könnte man denn sagen ... unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlicher wird. Die klassische Frage, die wir sonst immer haben, vielleicht mal ganz kurz: Gab es irgendwas, wo ihr gedacht hättet jeweils: Ach, das wird bestimmt besprochen, da können wir kurz drauf schauen. Und jetzt kam das aber gar nicht. Manchmal hat man mehr so im Vorfeld vom Gespräch die Idee. Oder gab es was, wo ihr gedacht habt: Das sage ich noch kurz, habt es links hingelegt – und da liegt es jetzt noch. Dann wäre jetzt die Gelegenheit, euch selber noch eine Frage zu geben und oder noch ein kurzes, möglichst kurzes, abschließendes Statement zu geben. Wir machen mal die Rückreise sozusagen. Rieke, du warst am Anfang die dritte. Darf ich dich als erste fragen?


Oelkers-Ax Ich habe gerade so gedacht, als ihr, Martin und Günter, als ihr beide noch mal so eure, vielleicht, Blickebene benannt habt. Das ist so was wie Mikro- und Makroebene, könnte man sagen, wo Martin gesagt hat, wenn ich ein Video einem Kollegen zeige oder von einem Kollegen ein Video sehe, was ist in dieser Mikroebene der Begegnung los und was ist in der Makroebene, Günter, von Prozesssteuerungskompetenz, Navigieren im Chaos, System-Kompetenz los, und das ist das Oszillieren zwischen Mikro- und Makroebene. Das kam mir grade noch so, als ich euch gehört habe.


Ohler Und dann würde ich dem Martin gerne das Schlusswort überlassen. – Günter?


Schiepek Ich habe jetzt nichts dazu nachzulegen oder zu fragen, was inhaltlich gefehlt hätte. Ich glaube, es ist in der kurzen Zeit sehr vieles angesprochen worden, sehr unterschiedliches. Ich kann nur sagen, dass der kurze Diskurs jetzt, von dir angeleitet, Matthias, und Rieke und Martin und auch mit Wolfgang Loth – vielleicht kannst du ihn motivieren, Martin, dass er dabei sein wird, er wohnt ja, glaub ich, auch gar nicht so weit weg, in Euskirchen –mir einen Vorgeschmack gemacht hat darauf, dass wir Spaß haben werden und interessante, auch intellektuelle Austausche miteinander haben werden, und hoffentlich auch mit allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die vor Ort sein werden. Also herzlichen Dank! Ich freue mich auf den Tag.


Rufer Also für mich ist ja immer das Zusammenbringen der Ebenen ein Anliegen. Mein letztes Buch war ja auch "Theorie und Praxis im Diskurs", dass ich ja mit einem Forscher zusammen rausgebracht habe. Und wenn ich das jetzt runterbreche auf diesen Fachtag, falls der zustande kommen würde, würde mich sehr freuen darüber, wenn das nicht nur ein Diskurs im Sinne von "unter Oldies" wäre – unter "eingefleischten und denen, die ohnehin wissen, was Sache ist" – sondern junge Kolleginnen da sind die, die mit vielen Fragezeichen da sind, und eben dieser Diskurs zwischen jüngeren Kollegen und älteren Kollegen überhaupt angestoßen wird. Das wäre für mich ein super Ergebnis.


Ohler Wunderbar. Dienstag, 26. April 2022, 9 Uhr bis 16.30 Uhr, Helm-Stierlin-Institut. Da findet man es, kann sich anmelden, und auch noch mal im Begleittext gucken. Ich kann nur sagen, mir hat es unheimlich Spaß gemacht, mich mit euch zu treffen und zu unterhalten. Und wenn es irgendwie möglich ist, muss ich mir das freihalten, weil das etwas Gutes wird, und spannend. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse und wie der Ball läuft. Danke an Rieke Oelkers-Ax, an Günter Schiepek, an Martin Rufer für das Engagement. Martin besonders noch mal für das Ins-Spiel-bringen des Balles, und für das Gespräch heute mit Heidelberger Systemische Interviews.