Individualität und Funktionalität

Kennen Sie den Spruch? Frage drei Jurist:innen und du erhältst fünf rechtliche Meinungen. Frage drei Ärzt:innen und du erhältst fünf Diagnosen. Gilt dies ebenso für Sozialarbeiter:innen? Gehe zu drei Sozialarbeiter:innen und erhalte fünf verschiedene sozialarbeiterische Hilfestellungen?
Der heutige Blogbeitrag fragt nach den menschlichen Unterschieden in der Praxis. Wie bewerten wir diese bzw. wie gehen wir damit fachlich um?


Wenn ich bei mir beginnen darf, dann wäre mein erster Gedanke, dass ich mich nicht primär als Funktion verstehe; ich verstehe mich als Individualität. Als solche fülle ich eine Funktion aus. Dies ergibt meine Rolle.
Meine Individualität macht mich zu jemand Einzigartigen. Wer mich kennt, der könnte sagen: „Das ist typisch Ralf“. Möglicherweise ist dieses Typische in meinem Blog zu erleben. Wir können von Schreib- oder Arbeitsstilen sprechen, von Lebens- und Persönlichkeitsstilen.
Im Blog – Die Blueshaltung in der Sozialen Arbeit – habe ich versucht einen möglichen Arbeitsstil zu beschreiben.


Was ist nun das Einzigartige an mir? Ich möchte auf ein Schema der Anerkennungstheorie zurückgreifen: Nach Axel Honneth (2010) können wir einen Menschen auf drei Ebenen verstehen: (1) als Subjekt, als (2) Person und als (3) Individuum.
Als (1) Subjekt bin ich Träger einer einzigartigen – subjektiven – Wirklichkeit. Ob Leid oder Freud, ob Hass oder Liebe: ich bin es, der dies erlebt, und mein Erleben gehört ganz mir. Ich kann in derselben Situation wie ein andrer Mensch sein und diese subjektiv unterschiedlich erleben: Denken wir nur an einen Kinofilm, der meiner Sitznachbarin sehr gefällt und mir missfällt, oder umgekehrt.
Als (2) Person bin ich Träger von gewissen Rechten und Pflichten. Ich bin eine natürliche Rechtsperson, z.B. als Staatsbürger. Ich bin steuerpflichtig und unterliege der hiesigen Gerichtsbarkeit. Ich muss die Meldepflicht erfüllen; ich habe die Schulpflicht erfüllt. Ich kann Verträge abschließen, etwa ein Arbeitsverhältnis eingehen.
Schließlich bin ich als (3) Individuum als einzigartige Wesenheit in der Gesellschaft erkennbar. Wir sprechen von der individuellen Persönlichkeit eines Menschen: Ich bin von andren unterscheidbar, charakterologisch und z.B. optisch-akustisch.
Diese drei Ebenen ergeben meine menschliche Individualität. Diese Individualität trage ich in meinen Alltag hinein, ob privat oder beruflich.


Inwieweit ist dies nun relevant für die berufliche Tätigkeit?
Robert Dilts (1999) hat versucht verschiedene Tätigkeiten hinsichtlich derer Komplexität zu unterscheiden, beginnend bei einfach, sich steigernd zu komplex und dabei unterscheidend zwischen verhaltensspezifisch, kognitiv und linguistisch:
  a) einfache verhaltensspezifische Fertigkeiten
  b) einfache kognitive Fertigkeiten
  c) einfache linguistische Fertigkeiten
  d) komplexe verhaltensspezifische Fertigkeiten
  e) komplexe kognitive Fertigkeiten
  f) komplexe linguistische Fertigkeiten
(a) Einfache verhaltensspezifische Fertigkeiten umfassen etwa das Schießen eines Elfmeters oder gewisse Tanzschritte.
(b) Einfache kognitive Fertigkeiten meinen etwa das Merken von Namen, Vokabeln, Dingen oder auch Zahlenkombinationen.
(c) Einfache linguistische Fertigkeiten sind jene, die man ausübt, wenn man z.B. hypnosystemische Fragen aus einem Skript wiedergibt.
(d) Komplexe verhaltensspezifische Fertigkeiten beinhalten das Erlernen einer Kampfkunst, die Fähigkeit zu jonglieren oder das Erlernen von Tanz(arten).
(e) Komplexe kognitive Fertigkeiten benennen die kreative Fähigkeit Gedichte oder Geschichten zu erfinden, ein Lied zu komponieren oder ein mathematisches Problem eigenständig zu lösen.
(f) Komplexe linguistische Fertigkeiten fassen Fähigkeiten wie Verhandlungskunst, Redegewandtheit oder etwa hypnosystemische Gesprächsführung in der Sozialen Arbeit zusammen.
Soziale Arbeit ist dem Modell zu folge eine komplexe kognitive und linguistische Tätigkeit durch die Ausübung von Fachwissen und Beziehungs- bzw. Gesprächsfertigkeiten.

Dies führt zu meiner Hypothese, dass die Individualität in der sozialarbeiterischen Praxis eine hohe Relevanz spielt. Soziale Arbeit ist m.E. keine Fließbandarbeit; sie ist nicht durch den Output definierbar; der Outcome ist relevant (Schubert 2005). Ein Beispiel: In einer Schuhfabrik kann eine bestimmte Menge in einer bestimmten Zeit einer bestimmten Sorte von Schuhen hergestellt werden, unabhängig von der Individualität, die am Fließband die Handlungsschritte vollzieht. Dieser Output ist eindeutig skalierbar, operationalisierbar und quantifizierbar. Umgekehrt kann dies für den z.B. Allgemeinen Sozialen Dienst nicht entsprechend skaliert, operationalisiert und quantifiziert werden. Die Dienstleistung wird sich in der räumlichen, zeitlichen, inhaltlichen und interaktionalen Ebene unterscheiden. Zudem wirkt der Schuh an dessen Anfertigung nicht mit, eine:r Klient:in wirkt an der Lösung mit. Wir sprechen daher von einem Outcome. Das Ergebnis ist nicht eindeutig vorhersehbar.
Ich möchte diesen Gedanken vertiefen:
Systemisch-kybernetisch kann gesagt werden: Der Schuh ist ein triviales – totes System. Er ist damit ein uniplexes Phänomen. Der Mensch ist ein nicht-triviales – lebendiges – System. Er bzw. sie ist eigenwillig, vielschichtig und daher ein komplexes Phänomen. Passend dazu gilt seit Felix Biestek (1970) das Individualisieren als ein zentraler Ansatz in der Sozialen Arbeit; dieser Ansatz ist ebenso im hypnosystemischen Integrationskonzept zu finden.
Das Erkennen des Menschen als nicht-triviales System und der vielschichtigen Komplexität der sozialarbeiterischen Interaktion erklären, warum Situationen in der Sozialen Arbeit nicht zur Gänze und vollends standardisiert werden können. Und da Sozialarbeiter:innen selbst nicht-triviale System sind und entsprechend der Komplexität angemessen handeln, sind sie weder Roboter noch Fließbandarbeiter:innen. Eigenes Ermessen, Intuition, Kreativität und situationsadäquates Agieren gehören zum Grundrüstzeug dazu. Das wollte ich u.a. mit der Blues-Haltung zum Ausdruck bringen.
Die kreativ-schöpferische Individualität ist ein wichtiger Qualitätsfaktor im Geschehen. Allerdings ist dieser schwieriger determinier- bzw. evaluierbar als andre Qualitätsfaktoren, etwa die Struktur-, Prozess und Ergebnisqualität. Warum ist dies so? Nicht-triviale Komplexität!


Im Sinne der hypnosozialen Systematik können wir nun beide Ebenen zusammenfügen. Es ist kein Gegeneinander von Funktionalität und Individualität. Auch kein Nebeneinander. Mein Ziel ist das Miteinander dieser beiden Ebenen, sowohl reflektorisch als auch interaktional: beim Denken über die Soziale Arbeit und beim Ausüben dieser. Für die Praxis benötigt es daher ein systematisches Zusammenführen dieser beiden Ebenen, hier auf zwei Ebenen dargestellt:


(1) Die methodisch angeleitete Selbsterfahrung ist ein wichtiger Bestandteil in der Aus- und Fortbildung von Fachkundigen der Sozialen Arbeit. In der Selbsterfahrung lerne ich mich in meiner Individualität besser kennen und kann mich als „Instrument“ im Geschehen besser zum Einsatz bringen. Soziale Arbeit kontextualisiert sich damit nicht nur auf einer gesellschaftlichen Makro-Ebene, auf der Ebene von (Sozial-)Theorie oder organisational auf der Meso-Ebene. Soziale Arbeit entsteht in mir, durch mich und um mich herum lebendig und situationsangemessen auf der Mikro-Ebene. Ich bin Teil dieser Methode. Ich wirke als „Instrument“ in meiner konkreten sozialarbeiterischen Praxis.
(2) Die kasuistisch orientierte Fallbesprechung bzw. Supervision kann als Reflexions- und Resonanzraum sowohl die Komplexität von Falldimensionen darstellen als auch meine einzigartige Rolle darin wahrnehmen: So unterschiedlich Klient:innen in derer menschlichen Individualität sein können, so unterschiedlich können dies Sozialarbeiter:innen und Fachkundige im Feld sein. Teil einer Systematik kann es sein, dies wahrzunehmen und einfließen zu lassen. Neben dem Ansatz der Funktionalität möchte ich nun den Ansatz der Individualität Platz greifen lassen.
Der kommende Blogbeitrag wird das Thema der Kasuistik vertiefen.


Literatur


Dilts, Robert B. (1999): Modeling mit NLP. Das Trainingshandbuch zum NLP-Modeling-Prozess Paderborn (Junfermann Verlag).


Biestek, Felix (1970): Wesen und Grundsätze der helfenden Beziehung in der Sozialen Einzelhilfe. Freiburg im Breisgau (Lambertus).


Honneth, Axel (2010): Kampf um Anerkennung. Zur Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main (Suhrkamp).


Luhmann, N. (2004): Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg (Carl-Auer), 8. Aufl. 2020.


Schmidt, G. (2017): Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten, 7. Aufl. Heidelberg (Carl-Auer), 9. Aufl. 2021.


Schubert, Herbert (2005) (Hrsg.): Sozialmanagement. Zwischen Wirtschaftlichkeit und fachlichen Zielen. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden (Springer VS).