Funktionalität in der Sozialen Arbeit

Soziale Arbeit, das sei kein Selbstzweck; Soziale Arbeit ist professionelle Funktionalität. Und in diesem Blogbeitrag möchte ich darstellen, wie dies methodisch umgesetzt werden kann.


Im letzten Beitrag – Hypnosoziale Systematik – habe ich versucht anhand von drei Fragestellungen eine erste Systematik zur methodischen Verortung, Bestimmung und Umsetzung der Sozialen Arbeit auszuarbeiten. Ich möchte nun mich der ersten Frage ausführlicher widmen: der Frage nach dem WOFÜR? Dies begründet, warum Sozialarbeiter:innen zu Klient:innen keine amikale, sondern eine funktionelle Beziehung führen.


Soziale Arbeit ist eine historische und professionelle Entwicklung. Neben u.a. der Psychotherapie ist die Soziale Arbeit eine vergesellschaftete Form des Helfens, eine wohlfahrtsstaatliche Dienstleistung. Sie ist als Antwort auf gesellschaftliche Missstände und soziale Ungleichheit entstanden und versucht, Menschen wohlfahrtsstaatlich zu inkludieren.
Soziale Arbeit nimmt hierbei eine besondere Stellung ein, da Sie – historisch betrachtet – später geboren wurde als etwa die Philosophie oder Medizin: Sie ist einv ergleichbar junger Beruf. Das kann dazu führen, dass sie mancherorts noch um ihre gesellschaftliche Stellung und Anerkennung ringen muss. Zudem ist ihr kein thematisches Alleinstellungsmerkmal eigen; vielmehr teilt sie mit andren Disziplinen Ihre Themen – u.a. das Soziale mit der Soziologie, die Psyche mit der Psychologie und Wirtschaft mit der Ökonomie. Eine weitere Besonderheit ist ihre triadische bzw. triangulierte Eingebundenheit: Klient:innen der Sozialen Arbeit sind als "indirekte Kund:innen" zu verstehen; diese bezahlen in der Regel nicht selbst für die konsumierte Dienstleistung. Zudem ist die Dienstleistung auch „verordenbar“; in diesem Zusammenhang sprechen wir von der Pflichtklientschaft.
Soziale Arbeit nimmt viele unterschiedliche Formen in Theorie und Praxis an und kennt unterschiedlichste Träger in der Landschaft. Sie wird manchmal als die „eigenschaftslose Profession“ verstanden (Bardmann). Das ist eine sehr treffende Beschreibung, manchmal aber auch verwirrend für Studierende wie Praktiker:innen der Profession. Meinem Verständnis nach weist uns die Eigenschaft der Eigenschaftslosigkeit auf die zentrale Idee hin, die ich im letzten Beitrag darzustellen versuchte: Soziale Arbeit ist über das WOFÜR erst einmal zu bestimmen, danach entsprechend zu formen und auszuführen.


Was bedeutet das für mich in der Praxis?
Diese kurze theoretische Herleitung der Sozialen Arbeit ist für die Praxis eminent wichtig. Denn es gibt einige Besonderheiten zu beachten, welche die Dienstleistung der Sozialen Arbeit von andren unterscheidet, etwa einem Reisebüro, einer Schuhfabrik, einem Callcenter oder dem Installationsbetrieb.
Der erste Unterschied betrifft die (1) Beziehungsebene, die in der Sozialen Arbeit eine besondere Rolle spielt.
In Anlehnung an Carl Rogers, Virginia Satir oder Gunther Schmidt möchte ich den wertschätzend-würdigenden, hingewandten-individualisierenden, empathischen und achtungsvoll-anerkennenden Zugang als zentrale Begegnungsmöglichkeit für die Soziale Arbeit darstellen. Die zwischenmenschliche Beziehung als fachliche Begegnung von Subjekt zu Subjekt (Hüther) bildet die Basis für weitere sachlich-fachliche Entscheidungen. Die erste Antwort auf die Frage, WOFÜR Soziale Arbeit gemacht werde, lautet immer: für die Menschen, denen Soziale Arbeit begegnet.
Soziale Arbeit ist immer am Menschen und dessen Wille und Wohl interessiert, sei es nun einzeln, in Gruppen oder Gemeinwesen. Die Beziehungsarbeit ist in so gut wie allen Fällen die Grundlage für den sozialarbeiterischen Erfolg. Vertrauen, Zuwendung und Anerkennung bilden die Basis für die Soziale Arbeit als Ermöglichungsprofession (Wirth u. Kleve):  Inklusion ist ein beidseitiges und partnerschaftliches Vorgehen. Die Subjekt-Subjekt-Begegnung ermöglicht das Ermöglichen und ermächtigt zum Ermächtigen.


Ein Verbleiben auf der Beziehungsebene reicht jedoch nicht aus; es benötigt (2) die funktionelle Ebene.
„Sei do leiwaund“, hörte ich ab und dann in meiner eigenen sozialarbeiterischen Praxis. Ich übersetze den Austriazismus: „Sei doch so gütig“. Und dann folgte: „Du magst mich doch, oder? Dann kannst Du mir doch das oder jenes auch geben? Zuerkennen?“ Also: „Sei do leiwaund und gib mir das Geld, das ich brauche. Du magst mich doch, oder? Da wird es wohl noch einen Weg geben?“ Oder: „Sei do leiwaund und verschaff mir den Job, den ich brauche…“ Oder : „Sei do leiwaund und belass mir mein Kind; nimm’s mir nicht weg…“
Soziomaterielle Ansprüche für Menschen im DACH-Raum (und darüber hinaus) sind an gesetzliche Grundlagen gebunden. Diese gesetzliche Grundlagen geben ebenso der Sozialen Arbeit einen funktionellen Rahmen. Für viele meiner Klient:innen war es aber schwierig, diesen Rahmen zu erkennen oder einzuhalten. Entsprechend reagierten diese nicht auf einer gesetzlich-sachlichen bzw. funktionellen Ebene, sondern auf der persönlichen Beziehungsebene. Sie versuchten eine Art „Beziehungsfalle“ aufzustellen, indem Sie mein Handeln nicht nach gesetzlich-sachlichen, sondern nach persönlich-sympathischen bewerteten.
Geneigte Leser:innen werden sich vielleicht denken, dass dies doch einfach zu erkennen und zu umgehen sei. Allerdings ist meine Erfahrung als Lehrbeauftragter und Supervisor eine andere: Sehr wohl spielen Sympathie, Emotionalität und „Beziehungsfallen“ wie die eben geschilderte eine große Rolle innerhalb der alltäglichen Praxis. Immer wieder müssen sich Fach- und Führungskräfte der Sozialen Arbeit ihrer Rolle und – neben der freilich wichtigen empathischen Beziehungsebene – auch der funktionellen Ebene ihres Tuns gewahr werden.
Soziomaterielle Leistungen oder gar fachliche Entscheidungen – denken Sie nur an die Entscheidungen über das Kindeswohl – können nicht von Sympathie und persönlicher oder quasi-amikaler Sympathie abhängen. Sie benötigen ein fachlich-funktionelles Fundament, so dass diese gesetzlich angemessen und situativ gerechtfertigt sind. Das Herstellen dieses Gerechtfertigt-Sein können wir professionelle Qualität nennen. Es ist die methodische Umsetzung des WOFÜRs in konkrete alltägliche Praxis. Dieses Fundament kann nach professionsethischen und qualitativen Kriterien hinterfragt werden: Es ist intersubjektiv verständlich und nachvollziehbar.


Die eigene Antwort auf die Frage: „WOFÜR tue ich dies und das im Hier und Jetzt mit diesem oder jenem Menschen“ ist eine unmittelbar praktisch wirkende Frage. Sie impliziert reale methodische Folgen.
Fraglich bleibt, ob Praktiker:innen diese Frage sich bewusst stellen – oder ob dies im Alltag eher unbewusst geschieht. Eines kann uns gewiss sein: Eine Antwort wird immer auf diese Frage gegeben. Je nach dieser Antwort werden unterschiedliche fachliche Einschätzungen vorgenommen, Entscheidungen gefällt und Handlungen ausgeführt werden. Es ergeben sich direkte Auswirkungen auf die Gestaltung der persönlichen-zwischenmenschlichen Beziehung ebenso wie auf das sachlich-fachliche bzw. funktionelle Vorgehen. Es wird dafür bestimmend sein, ob ich meinen Zugang „lebensweltorientiert“ (Thiersch), „sozialraumorientiert“ (Fürst u. Hinte) oder „lösungsorientiert“ (Eger) gestalte; es wird darüber entscheiden, ob ich meinen Berufsstand als „Menschenrechtsprofession“ (Staub-Bernasconi) oder als „Funktionssystem“ (Maaß) verstehe.
All diesen Orientierungen und Verständnissen der Sozialen Arbeit ist eines gemeinsam: Sie verorten Soziale Arbeit auf einer funktionellen Ebene. Möglicherweise bestehen Unterschiede im Zweck, doch einig sind sich alle Varianten, dass Soziale Arbeit ein Mittel sei. Deshalb möchte ich abschließend dazu anmerken: Soziale Arbeit, das sei kein Selbstzweck, vielmehr ist sie ein funktionelles Mittel für den/die einzelne:n Menschen, für Gruppen und für unsre Gesellschaft.


LITERATUR


Bardmann, Theodor (2001): Eigenschaftslosigkeit als Eigenschaft. Soziale Arbeit im Lichte der Kybernetik des Heinz von Foerster. Systemmagazin (online).


Eger, Franz (2016): Einführung in die lösungsorientierte Soziale Arbeit. Carl-Auer. 


Kleve, Heiko (2021): Methodische Grundlagen Sozialer Arbeit. Eine fragmentarische Skizze. In: Heiko Kleve, Britta Haye, Andreas Hampe, Matthias Müller: Systemisches Case Management


Fürst, Roland u. Hinte, Wolfgang (2020): Sozialraumorientierung 4.0: Das Fachkonzept: Prinzipien, Prozesse & Perspektiven. Verlag UTB.


Hüther, Gerald (2013): Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher. Fischer Taschenbuch.


Maaß, Olaf (2009): Die Soziale Arbeit als Funktionssystem der Gesellschaft. Systemische Forschung im Carl-Auer Verlag. Carl-Auer.


Rogers, Carl (1983): Therapeut und Klient: Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. Fischer Verlag. 


Satir, Virginia (1994): Kommunikation, Selbstwert, Kongruenz: Konzepte und Perspektiven familientherapeutischer Praxis. Junfermann. 


Schmidt, Gunther (2021): Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Carl-Auer.


Staub-Bernasconi, Silvia (2019): Menschenwürde – Menschenrechte – Soziale Arbeit: Die Menschenrechte vom Kopf auf die Füße stellen. Verlag Budrich. 


Thiersch, Hand (2020): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit – revisited. Beltz – Juventa. 


Wirth, Jan u. Kleve, Heiko (2019): Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer für systemisches Arbeiten. Carl-Auer.