Erwartung

engl. expectation bzw. expectancy, franz. neben attente f und expectative f auch probabilité f – von lat. expectatio bzw. urspr. exspectatio (dies wiederum von exspectare = wörtlich »die Aus-, Vorausschau, das Vermuten, Sehnen, Hoffen, Befürchten«); im weiteren Sinne eine Betrachtung des eigenen Zustandes mit Blick entweder (sakral) auf das kommende Ende der Zeit oder (profan) auf zukünftige Ereignisse; im weitesten Sinne eine Oszillation zwischen erregter Spannung und nüchterner Sicherheit im Kontext des Möglichen; daher engl. auch anticipation und esperance bzw. hope, franz. auch anticipation f, espérance f bzw. espoir m.


Der Begriff der Erwartung erlaubt es der Systemtheorie, die Verweisungsüberschüsse des Mediums Sinn als Strukturproblem der Gesellschaft zu formulieren. Er ist ein Begriff der spezifisch soziologischen Systemtheorie, für die er die Verknüpfung mit klassischen soziologischen Begriffen wie dem der Beziehung, des Handelns, des Verstehens, des Normativen und der Integration herzustellen vermag. Bezogen ist der Begriff zum einen auf das Problem der Komplexität, zum anderen auf das Problem der Kontingenz; »praktisch« meint Ersteres, »dass es stets mehr Möglichkeiten gibt, als aktualisiert werden können«, also »Selektionszwang«; und Letzteres, »dass die angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens auch anders ausfallen können, als erwartet wurde«, also »Enttäuschungsgefahr« (Luhmann 1980, S. 31). Erwartungen erlauben demnach die Generalisierung und zugleich die Respezifikation des Möglichen: die »Entstehung strukturierter Komplexität (organized complexity)« aus kommunikativen »Sinnüberschüsse[n]« (Luhmann 1984, S. 140 u. 141). In diesem Sinne sind Erwartungen definiert als kontingente Formen strukturierter Komplexität. Auch wenn der Begriff gelegentlich zur Bezeichnung des Orientierungsproblems psychischer (Psyche) Systeme im Umgang mit anderen psychischen Systemen eingesetzt wird (ebd., S. 362), ist er ohne Zweifel primär in sozialer Systemreferenz (Sozialsystem) gefasst. Um den Begriff der Erwartung im engeren Sinne als soziale Form der Differenz von Komplexität und Kontingenz bestimmen zu können, zieht Niklas Luhmann zwei Problematisierungsvorschläge heran:


(1) Max Webers Frage nach der »Wahrscheinlichkeit« bzw. den »Chancen menschlichen Sichverhaltens« unter der Bedingung, dass dieses Sichverhalten als »sinnhafte« Beziehung zugerechnet und damit als Handeln stets sowohl verstanden als auch beurteilt wird (Weber 1980, S. 443 u. 441). Weber setzt den Erwartungsbegriff weniger für das Verständigungsproblem oder das Orientierungsproblem ein – obwohl er beides diskutiert – als vielmehr zur Bezeichnung einer sogenannten »Durchschnittschance« (ebd., S. 444, vgl. auch S. 456 ff.), die besagt, dass soziale Ordnung trotz oder auch wegen dieses Doppelproblems von Sinn und Zurechnung bzw. von Verstehen und Urteilen möglich ist.


(2) Talcott Parsons’ Frage nach den Varianten des Umgangs mit der Möglichkeit von Bestätigung und Enttäuschung unter drei Bedingungen: Erstens weist das Verhalten stets sowohl affektuelle und kathektische (das Wort weist auf das Bedürfnis nach emotionaler Bindung hin) als auch kognitive Aspekte auf; es bringt also sowohl ein Selbst- als auch ein Objekt- als auch ein Weltverhältnis des Sichverhaltenden zum Ausdruck (Parsons et al. 1951, pp. 10 f.). Zweitens impliziert das Verhalten nicht nur die Unterscheidung aktuell gegebener Objekte und künftig möglicher Ereignisse, sondern auch die selektive Entscheidung für eines dieser Objekte/Ereignisse; es impliziert also die Abschätzung der Konsequenzen, die mit der Zurechnung des Verhaltens als intendiertes und orientiertes Handeln einhergehen, und oszilliert daher stets zwischen Zielen und Gelegenheiten bzw. zwischen Aktivität und Passivität. Handeln, so Parsons et al. (ebd., pp. 11 f.) ist eine Oszillation zwischen »expectation« und »evaluation« (Evaluation). Drittens kann sich das Verhalten sowohl auf »nonsocial objects« als auch auf »social objects« bzw. »objects [...] with their own systems of action« beziehen (ebd. p. 15). Für Letztere reserviert Parsons (ebd., Anm. 20 f.) den Begriff der Ego-Alter-Beziehung bzw. der »interdependence« zwischen zwei Akteuren, die füreinander im Kontext ihrer Beziehung als »point of reference« fungieren. Der Begriff der Erwartung beschreibt demnach eine rekursive Verknüpfung von Eigensinn und Orientierung in jeder Handlung bzw. in jedem sozialen Ereignis; Parsons definiert diese Rekursivität als »complementarity of expectations« bzw. als »double contingency« und bezeichnet sie als »the most elementary form of culture« (ebd. p. 15 f.).


Parsons’ Frage hat in allen drei Facetten systemtheoretische Klassizität erreicht. Das gilt vor allem für den Aspekt der rekursiven bzw. »doppelten« Kontingenz der Ego-Alter-Beziehung, den Luhmann als Problem der »Erwartungen von Erwartungen« beschreibt; er spricht von einem »Element der Unruhe in der Welt« (Luhmann 1980, S. 33 u. 32). Schließlich reformuliert er diesen Aspekt mittels der Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz, und zwar so, dass Parsons’ »social object« als kommunikative Selbstreferenz verstanden werden kann (vgl. Luhmann 1984, S. 148 ff.). Noch weitaus erfolgreicher, nicht zuletzt in der professionellen Praxis, war Luhmanns Reformulierung des Aspekts der Verknüpfung von Kathexis, Affekt und Kognition sowie des Aspekts der Verknüpfung von Entscheidung und Evaluation. Luhmann fasst beide Aspekte mittels der Unterscheidung kognitiver und normativer Erwartungsstile zusammen (Luhmann 1980, Kap. II, insbes. S. 40 ff.). Dabei geht es um Formen der Verarbeitung des allen Erwartungen »(immanenten) Enttäuschungsproblem[s]«; denn Erwartungen mindern zwar Überforderungen durch Umweltkomplexität, »sie regulieren Angst« – aber sie regulieren sie durch »Problemspezifikation«, das heißt: Sie übersetzen »permanente« Angst in »gelegentliche« Enttäuschung (ebd., S. 41). Das Argument lebt davon, dass die Enttäuschung als Wirklichkeitsindiz aufgefasst wird: als momentaner Bruch des sonst reibungslosen Selbst- Welt-Verhältnisses, der zum Anlass der Restitution dieses Verhältnisses wird. Eine aktuell erlebte Enttäuschung stellt dann keine exkludierende (Exklusion), aus der Ordnung werfende Situation mehr dar, sondern gerade im Gegenteil eine Inklusionschance: eine Gelegenheit, der eigenen Erwartung gewahr zu werden und sie entweder zu korrigieren (=kognitives Erwarten, »eine nicht notwendig bewusste Lernbereitschaft«) oder zu bekräftigen (= normatives Erwarten, »die Entschlossenheit, [...] nicht zu lernen«) (ebd., S. 43).


Die Pointe von Webers Frage ist dagegen bis heute auch systemtheoretisch weitgehend unbeachtet geblieben. Sie stellt gerade keine Festlegung des Erwartungsproblems auf Einverständnis- und Verständigungshoffnungen dar, sondern verweist auf eine Probabilistik sozialer Ordnung bzw. des Handelns oder sogar auf eine Probabilistik des Mediums Sinn; sie wäre ausgehend von Luhmanns »Rezept« zu entwickeln (Luhmann 1984, S. 162, vgl. auch S. 216 ff.), »Normales für unwahrscheinlich zu erklären«, was derzeit unter dem Problemtitel des selbstreferenziellen Kalküls versucht wird (vgl. Baecker 2005), dessen Begriff in diesem Kontext den Begriff der Erwartung ersetzt. Im Begriff der Erwartung liegt einer der am erfolgreichsten in verschiedenen professionellen Praxisvarianten respezifizierten systemtheoretischen Begriffe vor. Vermutlich war es diese variantenreiche Praxis, die noch vor der wissenschaftlichen Rezeption verstanden hat, welches Erkenntnispotenzial im Begriff der rekursiven bzw. doppelten Kontingenz liegt. Parsons selbst baut auf dem Begriff der Erwartungskomplementarität eine Theorie professioneller, nämlich durch Rollenkomplementaritäten strukturierter Interaktion auf (Priester/Laie, Lehrer/Schüler, Arzt/Patient, Anwalt bzw. Therapeut/Klient usw.). Erving Goffman (1952) entwirft sein soziologisches Programm der Rahmenanalyse von Interaktionen zuerst in einer luziden Betrachtung der Konsequenzen der Zusammenbrüche von Selbstwertgefühlen aufgrund von Erwartungsenttäuschungen für die Stabilität sozialer Strukturen. Harold Garfinkel (1967) führt die Fragilität von Verständigungsroutinen in alltäglichen (Alltag) Situationen vor und entwirft dafür interaktive Mustersituationen, die in vielfältigste Methoden des »Rollenspiels« Eingang gefunden haben. Nicht zuletzt erlaubt es der Erwartungsbegriff in Parsons’ und Luhmanns Zuschnitt aber auch, die Interaktion von Systemtheorie und systemischer Praxis als doppelt kontingentes Problem zu reflektieren, als rekursive Interdependenz.


Verwendete Literatur


Baecker, Dirk (2005): Form und Formen der Kommunikation. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Garfinkel, Harold (1967): Studies in ethnomethodology. Malden, MA (Polity/ Blackwell).


Goffman, Erving (1952): On cooling the mark out. Some aspects of adaptation to failure. Psychiatry 15 (4): 451–463.


Luhmann, Niklas (1980): Rechtssoziologie. Opladen (Westdeutscher Verlag).


Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Parsons, Talcott et al. (1951): Some fundamental categories of the theory of action: A general statement. In: Talcott Parsons a. Edward A. Shils: Toward a general theory of action. Cambridge, MA (Harvard University Press), pp. 3–29.


Weber, Max (1980): Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie. In: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen (Mohr), 7. Aufl., S. 427–474.


Weiterführende Literatur


Abels, Heinz (2003): Einführung in die Soziologie. Bd. 1: Der Blick auf die Gesellschaft. Wiesbaden (VS), 3. Aufl. 2007.


Abels, Heinz (2004): Einführung in die Soziologie. Bd. 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft. Wiesbaden (VS), 3. Aufl. 2007.