Kultur
engl. culture, franz. culture f, übersetzt von lat. cultura = »Bearbeitung, Pflege, Ackerbau«, abgeleitet von lat. colere = »drehen, wenden, bebauen«. Der Kulturbegriff fand in der Antike mit einem Genitiv Verwendung: agri culti = »bestellte Äcker«, cultura Christi/cultura dolorum = »Verehrung Christi/Verehrung der Schmerzen«, cultura animi = »Philosophie als Pflege der Weisheit« und verliert diesen Genitiv in der frühen Neuzeit. Die Naturrechtslehre von Samuel von Pufendorf setzt den Kulturbegriff im 17. Jahrhundert absolut und unterscheidet den glücklichen Zustand des Lebens der Menschen in der Zivilisation vom glücklosen Zustand außerhalb der → Gesellschaft (Perpeet 1976). Jean-Jacques Rousseau (1983/1750) dreht die Wertung um und behauptet den natürlichen als den glücklichen Zustand freier Menschen und die Kultur als einen zwanghaften und unglücklichen Zustand der Menschen. Seither gibt es eine »Kulturkritik« (Adorno 1955), die jederzeit die Wahl lässt, glückliche als unglückliche und unglückliche als glückliche Zustände der Gesellschaft zu beschreiben. Das Glück ist nur ein Schleier, das Unglück jedoch der Auftakt zur Reflexion. Erst eine funktionale Erklärung der Kultur im Anschluss an Bronisław Malinowski (1949) klärt, worum es in dieser Reflexion geht. Vorausgesetzt ist allerdings seit Giambattista Vico (2000), dass die Kultur im Gegensatz zur Natur als menschengemacht gilt und der Mensch daher auch die Fähigkeit haben sollte, sie als historisch gewordene zu erforschen.
Es gibt eine Reihe systemischer Begriffe der Kultur, die einen jeweils unterschiedlichen Grad systemtheoretischer Ausarbeitung aufweisen. Wilhelm Dilthey (1883, S. 49 ff.) unterschied die Religion, das Recht, die Kunst, die Wissenschaft und die Ökonomie als »Systeme der Kultur« von der »äußeren Organisation« der Gesellschaft in Herrschaft, Gemeinschaft, → Familie, Unternehmen, Staat und Kirche und verstand unter »Kultur« eine »selbständig wirkende geistige Welt«, die das Leben der Individuen (→ Individuum), die in ihr auftreten und wieder abtreten, überdauert. Die Kulturwissenschaften greifen diese Idee auf und beschreiben kulturelle → Systeme als symbolische Formen in einem symbolischen Universum, mit deren Hilfe die Menschen sich die Bedeutung ihres Lebens zurechtlegen (Cassirer 1923–29; Geertz 1983; Lotman
1990).
Erst Talcott Parsons (1972; 1977) versteht Kultur wieder in einem engeren Sinne als System, indem er sie innerhalb seiner Handlungstheorie in einen funktionalen Zusammenhang mit drei weiteren Aspekten jeder Handlung, nämlich ihrer Anpassung an die physische → Umwelt, ihrem Beitrag zu einer persönlichen → Zielerreichung und ihrer sozialen Integration mit anderen Handlungen, bringt. Der Handlungsaspekt der Kultur wird in diesem Schema immer dann aufgerufen, wenn es darum geht, auf Werte zurückzugreifen, die es erlauben, latente Muster zu erhalten und → Konflikte zu regulieren. Kulturelle Werte und Normen regeln, was richtig und was falsch ist, und stehen auf diese Weise bereit, Probleme der doppelten Kontingenz zu lösen, wo immer sie auftreten.
Niklas Luhmann (1984, S. 150, 174 f. u. 224 f.) bezweifelt in seiner Fassung der Theorie sozialer Systeme die Existenz eines übergreifenden Wertekonsenses, mit dem sich soziale → Probleme lösen lassen, und stellt stattdessen darauf ab, dass die Kultur ihrerseits zu möglichen Konflikten beiträgt, indem sie einen korrekten von einem inkorrekten Themengebrauch zu unterscheiden sucht. So wird die → Lösung selbst zum Problem. Abgesehen davon bezeichnet Luhmann den Kulturbegriff als »einen der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind« (Luhmann 1995a, S. 398), mit »verheerende[n] Folgen« (ebd., S. 341), da dieser Begriff traditionell als selbstverständlich geltende Bereiche, wie vor allem die Religion und die Künste, unter einen Vergleichsdruck setzt und damit als kontingent beschreibt. Wie kann man, so die ebenso ketzerische wie aufklärerische Frage Voltaires, an einen Gott glauben, wenn man weiß, dass die Menschen zu anderen Zeiten und in anderen Ländern an andere Götter glaubten? Wie kann man, so die klassische Frage Goethes, die Schönheit der Kunstwerke retten, wenn man weiß, wie sehr sie ihren zeitgenössischen Umständen verpflichtet sind? Seit mit dem modernen Buchdruck nicht nur das historische Wissen explodiert, sondern auch unterstellt werden muss, dass Menschen lesen und wissen, kann sich niemand mehr dem Vergleichsdruck entziehen (Luhmann 1995b; Baecker 2000).
Die moderne Erfindung des Menschen als universell und die Beschreibung seiner kulturellen Lebensform als partikular erlaubt in den Salons der Zeit der Aufklärung amüsante intellektuelle Vergleiche von Ländern, Sitten und Gebräuchen (Herder 1990). Doch bald stellt sich heraus, dass die Entdeckung der kulturellen Kontingenz nicht gesellschaftsfähig ist. Das 19. Jahrhundert sucht nach → Identität und findet sie in der Nation. Insbesondere in Deutschland wird der Begriff der Kultur im Vergleich mit der bloßen Zivilisation anderer Ländern so tief gelegt, dass die Alliierten im 1. Weltkrieg für einen Moment den Eindruck haben, dass die deutsche Wehrmacht mit der Kultur über eine Geheimwaffe verfügt, die es ihr erlaubt, »schreckliche« Kräfte freizusetzen (Kroeber u. Kluckhohn 1963, S. 52 f.). Ethnologen und Anthropologen wiesen darauf hin, dass »Kultur« die Übersetzung von »Zivilisation« ist, doch der Eindruck einer seelischen Tiefe, im Guten wie im Bösen, blieb lange erhalten. Kombiniert mit dem Begriff der »Rasse« verwandelte sich der moderne Kulturbegriff endgültig in einen Begriff der Pflege von Identität.
Es bleibt daher auch bei der systemischen Herausforderung des Kulturbegriffs. Wie kann man mit ihm arbeiten? Malinowski (1949) hat eine »wissenschaftliche Theorie« der Kultur vorgelegt, in der diese in einen funktionalen Zusammenhang mit den körperlichen Befindlichkeiten, gesellschaftlichen Umständen und natürlichen Umwelten des Menschen gebracht wird. Wozu, so der Impuls Malinowskis, soll das enorme ethnologische und anthropologische Material gut sein, dass zunächst Soldaten, Abenteurer und Missionare, dann Ethnologen in allen Winkeln der Erde gesammelt haben, wenn man es mangels Theorie nicht dazu nutzen kann, Probleme menschlichen Zusammenlebens zu verstehen und unterschiedliche Lösungen untereinander zu vergleichen? Malinowski entwickelte zwar eine funktionalistische Theorie, innerhalb derer die Kultur als Mittel zum Zweck der Sicherstellung menschlichen Lebens verstanden wird, doch fällt es leicht, daraus eine funktionale Theorie zu gewinnen, in der es keine exogen vorgegebenen Zwecke, sondern nur einen endogen dynamischen Zusammenhang der Wechselwirkung aller denkbaren Faktoren gibt (Baecker 2001).
Kultur wird so zu einem funktionalen Mechanismus der Aufrechterhaltung einer unter Umständen auch ungleichgewichtigen Balance zwischen → Körper, Geist, Gesellschaft und Natur. Das Rätsel, warum unter einer Kultur nicht nur eine Lebensform von Menschen (aber auch von Tieren und Bakterien), sondern auch der Zusammenhang praktischer Künste verstanden wird, klärt sich auf, weil die Künste als Formen der → Kommunikation von Wahrnehmung in besonderer Weise in der Lage sind, diese Balance zu reflektieren, infrage zu stellen und neu zu justieren (Baecker 2000, S. 181 ff.). Die Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Kulturbegriff ergibt sich daraus, dass in Bildern, Kompositionen, Gedichten, Theaterstücken, Filmen und multimedialen Kunstwerken jene körperliche und mentale Wahrnehmung kommuniziert wird, die Menschen symbiotisch mit ihrer Gesellschaft verknüpft. Diese Kommunikation dient nicht nur der Affirmation, sondern auch der Kritik oder zumindest der Reflexion, sodass Unverständlichkeit in den Künsten eine kulturell tragende Rolle spielt. Die Kultur wird als Lebensform und in ihrer Reflexion auf die Künste eine Art »Gedächtnis« der Gesellschaft (Luhmann 1997, S. 586), mit dessen Hilfe die Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit sich selbst laufend ihre Werte überprüft. Dieser Aspekt wird umso wichtiger, je mehr Kultur als Balance nicht nur zwischen Körper, Gesellschaft und Umwelt, sondern auch zwischen der Zukunft der Gesellschaft und ihrer patriarchalen, imperialen, kolonialen und anderweitig diskriminierenden Vergangenheit und Gegenwart gelten darf (Haraway 1995; Spivak 2013; Mbembe 2017).
Insofern bleibt es in einer wichtigen Hinsicht beim antiken Kulturbegriff. Kultur hat immer etwas mit ökologischer Unverfügbarkeit zu tun. Sie übergreift Differenzen, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen.
Verwendete Literatur
Adorno, Theodor W. (1955): Kulturkritik und Gesellschaft. In: ders. (Hrsg.): Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 7–31.
Baecker, Dirk (2000): Wozu Kultur? Berlin (Kulturverlag Kadmos), 2., erw. Aufl. 2001.
Baecker, Dirk (2001): Art. Kultur. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius u. Dieter Schlenstedt (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe: Ein historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3. Stuttgart (Metzler), S. 510–556.
Cassirer, Ernst (1923–1929): Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde. Hamburg (Meiner). Neu aufgelegt als Hamburger Ausgabe (2001).
Dilthey, Wilhelm (1883): Einleitung in die Geisteswissenschaften: Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band. Stuttgart (Teubner), 4. Aufl. 1959.
Geertz, Clifford (1983): Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main (Suhrkamp), unveränd. Nachdruck 1987.
Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M. (Campus).
Herder, Johann Gottfried (1990): Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit: Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts (Hrsg. Hans Dietrich Irmscher). Stuttgart (Reclam).
Kroeber, Alfred L. u. Clyde Kluckhohn (1963): Culture: A critical review of concepts and definitions. Reprint New York (Vintage Books).
Lotman, Jurij (1990): The symbol in the cultural system. In: ders. (ed.): Universe of the mind: A semiotic theory of culture. Bloomington, IN (Indiana University Press), S. 102–111.
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1995a): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1995b): Kultur als historischer Begriff. In: ders. (Hrsg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 31–54.
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Malinowski, Bronisław (1949): Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze. Frankfurt am Main (Suhrkamp), 2. Aufl. 2005 [Orig. (1944): A scientific theory of culture and other essays.]
Mbembe, Achille (2017): Kritik der schwarzen Vernunft. Berlin (Suhrkamp).
Parsons, Talcott (1972): Culture and social system revisited. Social Science Quarterly 53 (2): 253–266.
Parsons, Talcott (1977): Some problems of general theory in sociology. In: ders. (ed.): Social systems and the evolution of action theory. New York (Free Press), S. 229–269.
Perpeet, Wilhelm (1976): »Kulturphilosophie«. Archiv für Begriffsgeschichte 20: 42–99.
Rousseau, Jean-Jacques (1983): Über Kunst und Wissenschaft. In: ders.: Schriften zur Kulturkritik. Hamburg (Meiner), S. 1–59.
Spivak, Gayatri C. (2013): Kritik der postkolonialen Vernunft: Hin zu einer Geschichte der verrinnenden Gegenwart. Stuttgart (Kohlhammer).
Vico, Giambattista (2000): Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Berlin (de Gruyter).
