Familie

engl. family, franz. famille f. Der lat. Begriff familia (= »die Hausgemeinschaft«, abgeleitet von lat. famulus = »Haussklave, -diener, -gehilfe«) bezeichnete ursprünglich den gesamten Hausstand, dann »die Gesamtheit der Dienerschaft; Gesinde«, schließlich »die gesamte Hausgenossenschaft von Freien und Sklaven« (Duden 2007). Historische Untersuchungen setzen die jeweiligen Familiensysteme (System) mit den zu dieser Zeit vorherrschenden gesellschaftlichen (Gesellschaft) Verhältnissen in Zusammenhang. Für Émile Durkheim hängt die jeweilige Familienstruktur (s. a. Levi-Strauss 1949) von den »Bräuchen, dem Recht und den Sitten« (Durkheim 1999) ab. Der frühgeschichtlichen Gesellschaft wird eine familienlose Organisation (Horde) zugeschrieben. Im christlich geprägten Europa dominierte die »große Haushaltsfamilie« vom Mittelalter bis zur Herausbildung der patriarchalisch-bürgerlichen Kleinfamilie im 19. Jahrhundert (Weber-Kellermann 1985). Mit der Trennung von Wohn- und Produktionsstätten im Industriezeitalter bildeten sich die Kleinfamilien heraus. Die moderne Gesellschaft erfordert eine sehr offene und flexible (»postmoderne«) Kleinfamilie mit ganz unterschiedlichen familiären Konstellationen über die lebenszyklischen Phasen hinweg (Lüscher et al. 1990). Die Familie ist heutzutage im Wandel (Nave-Herz 2007). Im westlichen Kulturkreis wird unter »Familie« meist die »Kernfamilie« verstanden, das heißt Eltern (Elternschaft) – auch Alleinerziehende (Erziehung) – und ihre Kinder. Begrifflich darf die »Kernfamilie« nicht mit der »Kleinfamilie« verwechselt werden. Neben der reproduktiven Funktion der Familie für die Aufrechterhaltung der Menschheit lassen sich drei elementare soziale Funktionen von Familie hervorheben:


• Die »Sozialisationsfunktion«. Aries (1975) beschreibt die Sozialisation der Kinder über Jahrhunderte. Für die Familiensoziologen bezeichnet Familie soziale Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Menschenkinder benötigen, um zu überleben, während längerer Zeit Fürsorge, Pflege und Erziehung. Für die psychische Entwicklung der Kinder kommt dabei den innerfamiliären Beziehungen und den Identifizierungen mit diesen Beziehungen eine herausragende Bedeutung zu.
• Die wirtschaftliche Funktion bringt Schutz und Fürsorge für alle Familienmitglieder.
• Die politische Funktion verortet das geborene Kind in der jeweiligen Gesellschaft. In diesem rechtlichen Familienbegriff wird das Sorgerechtsprinzip in den Vordergrund gerückt. Eine Familie besteht aus zwei Generationen, die durch biologische oder rechtliche Elternschaft miteinander verbunden sind und eine Klärung des Sorgerechts für die nachwachsende Generation geleistet haben (Schneewind 1991).


In einer (Ein- oder Zweieltern-)Familie leben mehrere, meistens die zwei Generationen der (leiblichen, Adoptiv-, Pflege-, Stief-)Eltern und der (leiblichen, Adoptiv-, Pflege-, Stief-)Kinder zusammen. Das Zusammenleben in der Familie ist charakterisiert durch gemeinsame Aufgabenstellungen, durch die Suche nach Intimität und Privatheit und durch die Utopie der Familie. Bei der Familiengründung bringt jeder Partner seine persönliche Utopie von Familie ein, die sich in der Auseinandersetzung mit den Vorstellungen des Partners und der sozialen Wirklichkeit als Lebensform realisiert. Dadurch wird ein Rahmen für das geschaffen, was die Familie oder eine andere Lebensform an Lebens- und Entwicklungsaufgaben erfüllt (Cierpka 2008). Psychotherapeuten (Therapie) definieren die Familie als intimes Beziehungssystem, das sich am »Zusammenleben« von Individuen (Individuum) in einer besonderen Kleingruppe (Gruppe) – der Familie – orientiert. Die Familie und andere Lebensformen sind besondere Beziehungsformen, die durch die gemeinsamen Aufgabenstellungen, die Intimität der Beziehungspartner und ihre gemeinsamen Lebensentwürfe gekennzeichnet sind.


Die Einbeziehung der Angehörigen in die Therapie des Einzelnen zog die Entwicklung der Familientherapie und systemischer Verfahren nach sich (Cierpka 1991). In der familientherapeutischen Praxis interessiert das Zusammenleben mehrerer Generationen, in der Regel also der Eltern und der Kinder. Das System der Familie, gekennzeichnet durch die Interaktionen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern (den Elementen des Systems) stellt sich in jedem Moment neu her. Zum Zusammenleben von mindestens zwei Generationen und zur Suche nach Intimität und Privatheit kommt ein drittes Kriterium als Charakteristikum für die Familie hinzu: ihre Vorstellungen von der Zukunft – die Utopie der Familie und den Lebensentwürfen für jeden Einzelnen, aber auch die Familie. Die Lebensentwürfe der Partner basieren auf gemeinsamen, aber eben auch zum Teil sehr unterschiedlichen, biografisch verankerten und gesellschaftlich überarbeiteten Folien der eigenen Herkunftsfamilien. In der Realisierung wird ein neuer Rahmen hervorgebracht, unter dem zunächst die Partner zusammenleben und, falls Kinder hinzukommen, die Familie zusammenlebt. Die Diskrepanz zwischen dem, was sich die einzelnen Partner als Familie vorgestellt hatten, und dem, was tatsächlich realisiert werden kann, gehört zu dem, was Familie ausmacht. Unsere Gesellschaft bietet die Möglichkeit zur Realisierung der Pluralität der Lebensformen. In diesen unterschiedlichen Lebensformen werden Beziehungsformen gesucht, die in der Auseinandersetzung mit den Lebensentwürfen entstehen. Manchmal bieten andere Lebensformen als die traditionelle Familie für die Einzelnen größere Möglichkeiten zum Ausbalancieren der persönlichen Bedürfnisse.


Verwendete Literatur


Ariès, Philippe (1975): Geschichte der Kindheit. München (DTV).


Cierpka, Manfred (1991): Entwicklungen in der Familientherapie. Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik 36: 32–44.


Cierpka, Manfred (2008): Handbuch der Familiendiagnostik. Heidelberg (Springer).


Durkheim, Émile (1999): Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/1903. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Lévi-Strauss, Claude (1949): Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 1981.


Lüscher, Kurt (Hrsg.) (1990): Die »postmoderne« Familie. Konstanz (UVK).


Nave-Herz, Rosemarie (2007): Familie heute. Wandel der Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung. Darmstadt (Primus).


Schneewind, Klaus (1991): Familienpsychologie. Stuttgart (Kohlhammer).


Weber-Kellermann, Ingeborg (1985): Der Kinder neue Kleider: Zweihundert Jahre deutsche Kindermoden. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Weiterführende Literatur


Nave-Herz, Rosemarie (2004): Ehe- und Familiensoziologie. Eine Einführung in Geschichte, theoretische Ansätze und empirische Befunde. Weinheim/ München (Juventa).