Die „neue Normalität“ der Systeme

Die „neue Normalität“ der Systeme


von Heiko Kleve


 


Hat sich die Gesellschaft von Differenz auf Identität umgestellt? Diese Frage kommt mir zumindest dann in den Sinn, wenn ich auf die so genannte neue Normalität blicke. Diese ist davon gekennzeichnet, dass offenbar die psychischen und sozialen Systeme hinsichtlich ihrer entweder gedanklichen (Psyche) oder kommunikativen (Gesellschaft) Aufmerksamkeit auf ein Phänomen ausgerichtet sind: auf die Gefahr der Ansteckung mit dem Corona-Virus. Auch wenn allmählich die Kontaktbeschränkungen aufgehoben werden, das Tragen von Masken in Geschäften und im öffentlichen Nahverkehr jedoch bleibt bisher als Pflicht bestehen. So ist uns anhaltend präsent, dass die Welt eine andere geworden ist. Wenn wir die Maske nicht tragen, dann riskieren wir, darauf angesprochen zu werden, als unsolidarisch, nicht einsichtig zu gelten oder eben tatsächlich eine Ansteckung zu befördern – obwohl letzteres aufgrund der geringen Infektionszahlen derzeit unwahrscheinlich ist.


Trotz dieser Unwahrscheinlichkeit der realen Ansteckung mit dem Virus erfüllen die Masken als Symbol der „neuen Normalität“ mehrere Funktionen: Sie sind das offensichtliche Indiz dafür, dass etwas anders geworden ist. Dieses Andersein brennt sich in die Gedanken ein, die von Kontext- zu Kontextwechsel die Frage psychisch wahrnehmbar werden lassen, ob nun eine Maske zu tragen ist oder ob dies unterbleiben kann. Damit sind wir in einer paradoxen Situation: Wir sind uns gleichzeitig sehr nah und ausgesprochen fern. Auch wenn wir unsere Gedanken nicht gegenseitig lesen können, so können wir wohl davon ausgehen, dass die Menschen um uns herum, die mit Masken durch die Geschäfte laufen, mit diesem Schutz in Trams und Bussen sitzen, ihre Aufmerksamkeit in ähnlicher Weise auf Corona ausrichten wie wir selbst. Harmut Rosa (https://www.zeit.de/kultur/2020-06/hartmut-rosa-soziale-energie-coronavirus-burn-out/seite-2) bringt dies auf den Punkt, wenn er von „gebündelte[r] Aufmerksamkeit“ oder von „joined attention“ spricht, „die acht Milliarden Menschen auf das Virus richten“, die „historisch einzigartig“ ist und unsere Selbstwirksamkeit untergrabe. Wie unter einer Glocke von Mehltau, so Rosa, scheint die soziale Energie gelähmt zu sein.


Angesichts der soziologischen Systemtheorie, die die grundsätzlichen Differenzen von biologischen, psychischen und sozialen Systemen beschreibt, deren operationale Abgrenzungen und Strukturdeterminationen, die sich äußeren Steuerungsansinnen wiedersetzen, betont, erstaunt mich jedenfalls der aktuelle gesellschaftliche Zustand. Sind wir als Systemtheoretiker eher blind für bio-psycho-soziale Prozesse der extrem engen Verkoppelung von lebenden, psychischen und sozialen Operationen? Unterschätzen wir die Möglichkeit, dass sich biologische Lebensvollzüge, individuelle Denkprozesse und soziale Kommunikationen in einer Weise ko-evolutionär zueinander verhalten, dass eher Identität als Differenz sichtbar ist?


Angesichts der systemischen Differenzierung von Organismen, Psychen und Sozialsystemen sowie der funktionalen Multiplizierung gesellschaftlicher Perspektiven bin ich davon ausgegangen, dass die Gesellschaft und damit die an ihr orientierten Menschen nicht (mehr) auf Linie gebracht werden können. Genau dies ist jedoch offenbar passiert. Wenn wir nun – ganz im Sinne der Fragerichtung der Systemtheorie – davon ausgehen, dass ein solcher Zustand eigentlich unwahrscheinlich ist, was hat ihn in der aktuellen Situation tendenziell bewirkt? Ist es die existenzielle Differenz, die wir bereits im letzten Beitrag adressiert haben, die Frage von Leben und Tod, der angstvolle Umgang mit diesem (zumindest individuell) Unverfügbaren?


 


 


The Newnormers


von Steffen Roth


 


Wir haben alle unsere Meinungen. Manche davon mögen sich in unseren letzten Beiträgen abgezeichnet haben, worauf etwa Günter Lierschof in seinem letzten Kommentar zum «Anhalten der Welt» abstellt. Seine Einschätzung ist nicht gänzlich unzutreffend, gleichwohl sich der Hinweis gestattet, dass auf Bühnen Rollen gespielt werden. Auch ist der «Wirtschaftler» studierter, promovierter und habilitierter Soziologe und der «Arzt» nicht nur auch studierter Soziologe, sondern zudem ehemaliger Inhaber eines Lehrstuhls für Führung und Organisation. Die Dinge liegen also etwas komplizierter.


Wohltuend ist dennoch, dass Günter Lierschof unsere Auseinandersetzung zu den Themenkreisen Moral, Pandemie und Tod funktional kontexutalisiert, statt sie wie sonst üblich zu moralisieren. Interessant auch sein Hinweis, dass Pandemien nun keine «kleinen grauen Entchen» mehr sind, sondern gleichermassen Existenzbeweis wie potenzielles Dauerthema einer nun umso gegenwärtigeren Weltgesellschaft.


Günter Lierschof beschreibt die Pandemie damit als einen globalen Medieneffekt, der weit über die unmittelbare Schockwelle hinaus Resonanz haben könnte. Seit Wochen schon zeichnet es sich in den Massenmedien ab: dieses Pandemiespiel erhebt Anspruch auf Dauerzustand. Zum 16.06.2020, Stand: 11:57, meldete Peking wieder Schulschliessungen und Reisebeschränkungen, und das angesichts von 106 Neuinfektionen gerechnet auf die Einwohnerzahl von ganz Skandinavien. Bis vor kurzem waren solche Zahlen ein Sack Reis in China. Heute informieren sie politische Entscheidungen weltweit. Zwei neue Fälle nach drei Wochen ohne gelten in Neuseeland am 17.06.2020 schon als inakzeptabler Systemfehler. Klar, dass man dort nun einen Militärführer mit der Aufsicht von Einreisequarantäne und Isolationseinrichtungen betraut.


Nun dürften sich die Geister scheiden, ob wir jetzt und in Zukunft bei jedem – zumal als Infektion wohlgemerkt nur potenziellen – Ereignis, das lokal 1 Person von 200'000 oder 2 von 5'000'000 betrifft, weltweit hellhörig werden müssen. Klar dürfte uns allen aber sein, dass wir bei einem derartigen Nervositätsniveau nicht mehr aus dem Spiel rauskommen werden, denn selbst wenn ein Ende in Sicht wäre: nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Die nächste Pandemie kommt bestimmt. Notfalls tut es auch eine stärkere Grippewelle mit einem neuen Strang von Viren; oder man argumentiert eben nicht populations-, sondern politökologisch, denn was man aus der aktuellen Pandemie für den Kampf gegen die Erderwärmung lernen kann, das pfeifen die Spatzen schon lange von allen Dächern.


Insofern beobachte ich mit Heiko Kleve aktuell tatsächlich eine gewisse Tendenz zur Isolations- bzw. Einheitsrhetorik, dies aber vor allem in den Massenmedien, deren nahezu weltweite Gleichschaltung nur dann nicht verblüfft, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dahinter ein ganz unverblümt erklärter politischer Wille zur flutartigen Gesundheitspropaganda stand und – leicht abebbend – durchaus noch steht. Ob der Zweck die Mittel nachhaltig geheiligt haben wird, das wird sich zeigen, nicht zuletzt etwa, wenn Finanzierungsfragen auf- und abgearbeitet sind: Hat der Steuerzahler die Überschwemmung der Pressefreiheit bezahlt, oder kam das Geld aus anderer Quelle?


Mit Blick auf die sich inzwischen wieder leicht normalisierende Medienlandschaft zeigt sich aber auch, dass der offiziell propagierte «Letztwert» des Lebens samt flankierender lebensverlängernder Massnahmen inzwischen ernstzunehmende Konkurrenz bekommen hat durch andere sprichwörtliche «Gegenwerte» wie Antirassismus. Wer gegen das Herunterfahren der Wirtschaft oder für bürgerliche Freiheiten auf die Strasse ging, der war schnell Zyniker oder Verschwörungstheoretiker. Wenn es aber um Antirassismus geht, dann gilt: «Der Staat setzt in Beizen und Läden strenge Vorschriften durch, toleriert aber gleichzeitig grosse, illegale Kundgebungen» (NZZ vom 16.06.2020). In diesem Sinne hat sich die Diversität inzwischen lautstark zurückgemeldet, zumindest auf Ebene der wertdiskursiven Wolkenschieberei.


Insofern ist Alles dem Augenschein nach schon fast wieder beim Alten, und auch funktional betrachtet kam das «Neue Normal» von Anfang an recht altbacken daher. Damit sind nicht nur die mittelalterlichen Massnahmen zur Pandemiebekämpfung angesprochen, sondern auch die vielen Visionen einer neunormalen Zeit mit und nach unserem neuen Lieblingsvirus. In der Tat beschränkte sich das Meiste, was in den ja ohnehin gut eingestellten Massenmedien zu hören war, auf bestenfalls nur 50 Jahre alte Ideen zum Schutz von Nationalstaaten, Nationalökonomien und anderen mehr oder weniger willkürlich definierten Ökosystemen.


Dabei ähnelt unser Umgang mit der Pandemie unserem Umgang mit dem technologischen Wandel, den sie angeblich beflügelt. In der Tat beschränkt sich auch unsere Vorstellung von Digitalisierung im Moment vornehmlich darauf, digitale Technologien für all die altvertrauten Dinge einzusetzen, die wir bereits vor Beginn der digitalen Transformation getan haben: Musik, Telekommunikation, Literaturrecherche, Buchführung, Massenüberwachung. Bei all dem führt die Digitalisierung aktuell selten zu mehr als mehr vom selben. Hand aufs Herz: Wer von uns denkt schon wie ein Computer (der bis weit ins 20. Jahrhunderts hinein nahezu immer aus Fleisch und Blut war)?


So wie wir aktuell dann kaum mehr als analoge Theorien über digitale Gesellschaften entwickeln, so kolportieren wir gerade unsere altnormalen Vorstellungen von einer neuen Normalität, auf die sich vor allem Natur- und Nationalstaatsschützer sowie Pharmalobbyisten zu freuen scheinen, während anderen nichts Gutes schwant.


Die Wahrheit aber ist, dass wir im Moment nicht viel wissen über das, was die Coronakrise mit uns angestellt haben wird.


Vielleicht verbuchen wir eines schönen Tages alles als unglaublich kostspieligen Sturm im Wasserglas, und das einzig Neunormale wird sein, dass wir uns in Zukunft nicht nur über Pandemiemassnahmen und Herdenimmunitäten die Köpfe heiss reden, sondern auch mit kühlem Kopf überlegen, wie wir angesichts globaler Herdeneffekte und Massenpaniken Puffer in Stellung bringen können, die uns Handlungsoptionen eröffnen statt uns abzuschotten. Diese Frage steht auch unabhängig von unserer jeweiligen Einschätzung der aktuellen Krise im Raum.


Vielleicht erleben wir aktuell aber auch tatsächlich einen tiefergehenden Kulturwandel, von dem wir nicht viel verstehen, weil wir alle mittendrin statt nur dabei sind. Für diesen Fall geht aktuell ein ethnologisches Forschungsstartup an den Markt, das kein Geld verdienen, sondern Wissen generieren will. Das Projekt heisst Newnormers (newnormers.com), wobei der Begriff als leerer Bedeutungsträger den im Entstehen begriffenen Stamm jener bezeichnet, die sich bereitwillig an die wie auch immer geartete neue Normalität anpassen oder diese sogar ausdrücklich begrüssen.


Wenn es funktioniert, dann liefert das Projekt nicht nur Einsichten in eine aktuelle gesellschaftliche Entwicklung, sondern stellt Pandemieskeptikern auch eine goldene Brücke in eine möglicherweise unvermeidliche neue Normalität bereit. Auch wenn die beteiligten Ethnographen der Neuen Normalität letztlich «native» gehen sollten, entstünde so immerhin eine kollektive Autoethnographie der Übergangszeit.


In diesem Sinne würde ich mich freuen, wenn wir uns angesichts des «Anhaltens der Welt» wieder verstärkt der Frage zuwenden könnten, wie wir mehr über die aktuelle Situation erfahren können, statt uns mehr oder weniger selbstgefällig darüber zu verständigen, dass wir das Entscheidende immer im Blick und das Wesentliche immer schon gewusst haben.


 


 


Ziemlich alte Normalität


von Fritz B. Simon


Ob sich die Gesellschaft von Differenz auf Identität umgestellt hat, fragt sich (und uns) Heiko Kleve in seiner heutigen Themensetzung. Meine Antwort lautet: Nein. Denn Differenz und Identität sind ja nicht zu entkoppeln. Identität bedarf (als Innenseite einer Unterscheidung) der Differenz (zur Außenseite der Unterscheidung), d.h. man bekommt beides nur im Paket. Allerdings, und da ist die gegenwärtige Krise m.E. aus systemtheoretischer Sicht interessant: Identität und Differenz sind ja – wie früher schon die hier diskutierte Moral – inhaltsfreie Begriffe, die erst, wenn sie mit konkreten Inhalten gefüllt werden, ihre Bedeutung – zumindest für konkrete soziale Systeme – gewinnen. Und da sind tatsächlich gewisse Änderungen zu beobachten.


Heiko Kleve weist darauf hin, dass die Aufmerksamkeit von 8 Milliarden Menschen auf das Virus gerichtet ist, und Steffen Roth spricht in der Hinsicht von der Gleichschaltung der Medien. Das ist ein m.E. wirklich neues und bemerkenswertes Phänomen. Wenn man bedenkt, dass die Fokussierung der Aufmerksamkeit die einzige Möglichkeit ist, soziale Systeme zu steuern, dann ist klar, dass dies nicht ohne gravierende Wirkungen bleibt/geblieben ist. Dass es der Rosa Mehltau ist, denke ich allerdings nicht... Denn, wo immer man hinschaut (außer vielleicht in Altenheime, aber womöglich auch da), überall ist eine geschäftige Hektik zu beobachten. Die Theaterleute, Künstler, Kulturschaffende aller Art, Universitäten, Organisations- und Unternehmensberater, Psychotherapeuten, Verlage (um nur diejenigen zu nennen, mit denen ich in dieser Zeit persönlich Kontakt habe und hatte), füllen das Internet mit Videos, Podcasts, organisieren Zoom-Konferenzen usw. (und wir drei hätten uns sicher auch nicht zu solch einem aufwendigen Unternehmen zusammengefunden, wenn sich der Mehltau über uns gelegt hätte, also: Quatsch, Herr Rosa). Sogar die EU hat sich aufgerafft, sich Gedanken über eine bessere Zusammenarbeit in den europäischen Gesundheitssystemen – die bislang rein nationale Angelegenheit waren – zu machen, sowie andere, solidarischere Finanzierungsmöglichkeiten (vergemeinschaftete Schulden) eröffnet. Und manche nationale Regierung hat ihre geheiligten Prinzipien aufgegeben („Schwarze Null“ – da der Finanzminister Sozialdemokrat ist, fühlt er sich wahrscheinlich damit jetzt weniger denn je gemeint). Also überall gewisse Vorher-nachher-Differenzen.


Wenn wir davon ausgehen, dass Identität zum einen durch die Innenseite, zum anderen durch die Außenseite einer Unterscheidung definiert wird, dann scheint im Moment (d.h. es dürfte ein vorübergehendes Phänomen sein) der Fokus der Aufmerksamkeit auf die Außenseite gerichtet sein: die biologische Umwelt der Weltgesellschaft wie auch jeder einzelnen Nation, Region, Gemeinde, jedes Wohnblocks, jeder Fleischfabrik usw. Die Tatsache, dass Menschen einen fragilen, krankheitsanfälligen und sterblichen Körper besitzen, ist nicht wirklich neu oder überraschend. Das hatten sie ja schon immer, aber jetzt scheinen alle gleichzeitig bedroht. Das ist es, was Gemeinschaft und Identität stiftet. Nichts hat so starke integrierende Wirkung für ein soziales System wie ein Außenfeind. Nur, dass es jetzt nicht die Franzosen sind, die benutzt werden, um „den Deutschen“ eine nationale Identität zu verschaffen, und nicht „der Weltkommunismus“, um die Integration der BRD in „den Westen“ und die entsprechende „westliche“ Identität ihrer Bürger zu befördern, sondern es handelt sich jetzt um eine biologische Umwelt: den menschlichen Organismus (Kollektivsingular), dessen Fragilität bzw. dessen feindliche Übernahme durch ein Virus die „Normalität“ sozialer Verhältnisse bedroht. Die Rhetorik ist dieselbe: Wir haben es zu tun mit einem „invisible enemy“ (Trump), es wird ein „Krieg“ gegen das Virus geführt (Macron).


Diese Metaphorik ist natürlich nicht angemessen, wenn man sich mal ein wenig genauer mit der Systemtheorie des Krieges beschäftigt (siehe „Tödliche Konflikte“), und deshalb ist auch nicht zu erwarten, dass das, was in der Menschheitsgeschichte oft der Fall war, auch jetzt geschieht: dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal verändern.


Es werden keine bestehenden Staaten aufgelöst oder neue gebildet, es gibt keine territorialen Veränderungen, keine politischen Zeitenwenden oder Revolutionen, ja, aller Wahrscheinlichkeit nach wird, sobald ein Impfstoff gefunden wurde, alles wieder seinen alten – sehr alten – Gang gehen. Das heißt aber, bezogen auf die Frage Identität oder Differenz, dass all die Differenzen jenseits der Mensch/Natur-Unterscheidung weiter bestehen bleiben, ja, sie sind sogar in der Lage, inzwischen mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen als das Virus. Seit der weltweiten „Black-Lives-Matter“-Demonstrationen beherrscht nicht mehr das Virus die Massenmedien. Sogar bei CNN ist nur noch selten gleichzeitig die rechte Seite des Bildschirms (vom Zuschauer aus gesehen) von den drei, offenbar wichtigsten statistischen Größen besetzt: Gesamtzahl der weltweit nachgewiesenen Corona-Fälle, Gesamtzahl der weltweit nachgewiesenen Corona-Todesfälle, US-Corona-Fälle und –Tote, Dow-Jones-Index (interessanterweise steigen die Zahlen der US-Toten im ähnlichen Maße wie der Dow-Jones-Index). Statt dieser Hitparaden werden zunehmend Videos von weißen Polizisten gezeigt, die ihre schwarzen Mitbürger umbringen. Dies mag als Beweis dafür dienen, dass keineswegs auf Identität umgestellt worden ist, sondern Differenz immer noch zentral ist (eine Einschätzung, die offenbar sogar das Virus teilt).


Seit der Lockdown in vielen Gegenden der Welt beendet ist, scheint alles wieder normal. Alt normal. Es mag ein paar kleine Veränderungen auf individueller Ebene geben, die auch gesellschaftlich relevant werden könnten. Der eine oder andere hat gemerkt, dass ein Wochenende auch ohne den Kurztrip nach Barcelona reizvoll sein kann; dass der durch die vorübergehende Unsicherheit begründete Konsumverzicht eigentlich ziemlich gut auszuhalten war; dass der samstägliche Einkauf in der Fußgängerzone mehr Qual als Vergnügen war; dass der Video-Kontakt zu „seinen Lieben“ weniger stressig ist, als sie um den sonntäglichen Kaffeetisch zu versammeln, usw.


Und auf politischer Ebene könnte es (bedauerlicherweise) dazu kommen, dass die Verantwortlichen fragen, ob man Theater und Konzerte wirklich braucht, wo man so lange auch ohne sie ausgekommen ist, angesichts der gefühlten Notwendigkeit Schulden abzubauen (was natürlich eine volkswirtschaftliche Idiotie ist).


Sobald ein Impfstoff verfügbar ist – und es ist wohl noch nie so viel Geld in die Entwicklung eines Impfstoffs investiert worden, so dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, in absehbarer Zeit über einen zu verfügen – dürfte die „neue Normalität“ zwar nicht mehr ganz die „alte“ sein, aber die war sie ja auch nie...


 


 


Autoren


 


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).