Achtsamkeit

engl. mindfulness, Sanskrit smriti, Pali sati = »Besinnung, Gedächtnis, Erinnerung«. Achtsamkeit gewinnt in der Medizin, in der Gesundheitswissenschaft, in der Psychotherapie (Psyche, Therapie) und in der Pädagogik zunehmend an Bedeutung. Auch in der systemischen (System) Praxis wird die Relevanz von Achtsamkeit für Haltung, Methode und Theoriebildung erkannt.


1. Wurzeln: Im Buddhismus ist Achtsamkeit das siebente Glied von Buddhas edlem achtfachem Pfad zum Erwachen. Achtsamkeit wird geübt als Aufmerksamkeit auf den Körper, die Gefühle bzw. Empfindungen, den Geist und die Wahrnehmungen bzw. Geistesobjekte. Rechte Achtsamkeit unterscheidet sich von falscher Achtsamkeit dadurch, dass sie gegründet ist auf sila, die Ethik von Liebe und Mitgefühl (Hanh 1998). Christliche Überlieferung: Jesus selbst wird als »verkörperte Achtsamkeit« bezeichnet (Boff 1999). Bei den Wüstenvätern und -müttern des 2. und 3. Jh. n. Ch. wird das bildlose Gebet, das Schweigen und stilles Sitzen, langsames Gehen und Beobachtung belastender Gefühle und Gedanken zur Erlangung inneren Friedens (apatheion = »Gleichmut«) geübt. In der mittelalterlichen Mönchstradition ist die achtsame Arbeit eine Form des Gebets – ora et labora (»bete und arbeite«). In der Regel des hl. Benedikt werden die Mönche dazu aufgefordert, jeden Topf und jede Pfanne als heiliges Altargerät zu behandeln. In der christlichen Mystik, z. B. bei Meister Eckehart, Hugo de Balma oder Jakob Böhme, spielt die inhaltsleere, achtsame Rezeptivität und die Offenheit des Geistes für alle Erfahrungen als Gegenpol zur willensmäßigen Gerichtetheit eine große Rolle (Buchheld u. Walach 2006).


2. Achtsamkeit ist »das Bewusstsein, das entsteht, indem man der sich entfaltenden Erfahrung von einem Moment zum anderen bewusst seine Aufmerksamkeit widmet, und zwar im gegenwärtigen Augenblick und ohne dabei ein Urteil zu fällen« (Kabat-Zinn 2006, S. 107). Formelle Achtsamkeitsübungen sind v. a. achtsames Atmen, stilles Sitzen, Gehmeditation, Tiefenentspannung (Body Scan), achtsames Essen und achtsame Körperarbeit, z. B. sanfte Yogaübungen. Ziel ist es, diese formelle Praxis in den normalen Alltag zu integrieren und immer stärker im Hier und Jetzt zu leben.


3. Hunderte von Untersuchungen zeigen, dass die Übung der Achtsamkeit vielfältige positive Auswirkungen auf den Gesundheitsstatus und auf das subjektive Wohlbefinden haben kann. Achtsamkeit erweist sich darüber hinaus als wichtiges Element in der Psychotherapie psychischer Störungen. Besonders gut empirisch belegt ist die Wirksamkeit der Aufmerksamkeitsbasierten Stressreduzierung, Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR), nach Jon Kabat-Zinn. Die Wirksamkeit ist nachgewiesen z. B. bei Schmerz, Angststörungen und Psoriasis. Ergebnis sind auch reduzierte Burn-out-Werte, erhöhte Lebenszufriedenheit, Stärkung der Immunabwehr (Kabat-Zinn 2006; Meibert, Michalak u. Heidenreich 2006). Weitere klinische Anwendungen sind z. B. die Aufmerksamkeitsbasierte kognitive Therapie zur Rückfallprophylaxe bei Depression, Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT) (Segal, Williams a. Teasdale 2002); die dialektisch-behaviorale Therapie bei Borderline-Störungen (DBT) (Lammers u. Stiglmayr 2006). Achtsamkeit wird angewendet in der Therapie von Suchterkrankungen, bei generalisierter Angststörung, in der Krebsbehandlung und als Weg zu einer integralen Salutogenese (Heidenreich u. Michalak, 2006; Germer, Siegel u. Fulton 2009). Neurowissenschaftliche Forschungen zeigen, dass v. a. lang andauernde Achtsamkeitspraxis aufgrund der neuronalen Plastizität messbare und dauerhafte positive Veränderung im Gehirn bewirkt (Siegel 2007; Hanson u. Mendius 2012).


4. Auch im systemischen Feld gewinnt Achtsamkeit zunehmend an Bedeutung. Achtsamkeitsübungen können gut in die systemische Praxis integriert werden und sie bereichern und vertiefen. Insbesondere bekommen Klienten Werkzeuge an die Hand, v. a. die achtsame Beobachtung von Gedanken und Gefühlen, um ihre erstarrten Wirklichkeitskonstruktionen selbständig zu transformieren bzw. sie zu verflüssigen (Pfeifer-Schaupp 2010). Die Integration von Achtsamkeit kann als Erweiterung und Systematisierung der Grundhaltung der Allparteilichkeit dienen und diese lehr- und lernbar machen (Pfeifer-Schaupp 2012). Achtsamkeit kann hilfreich sein für Self-Care und Aufbau einer positiven Teamkultur (Juchmann 2012). Achtsamkeit lässt sich bereits in das grundständige Studium psychosozialer Berufe sinnvoll (Sinn) und mit Gewinn integrieren (Pfeifer-Schaupp 2011b) und könnte ebenso in systemischen Weiterbildungen fruchtbar sein. Weitere Anwendungen im systemischen Feld sind z. B. (systemische) Pädagogik (Kaltwasser 2012) und achtsamkeitsbasierte Ansätze der Psychokardiologie (Muth-Seidel u. Husen 2012). Varela fordert die Integration buddhistischer Achtsamkeits-/Gewahrseins-Übungen und der systematischen Beobachtung des eigenen Geistes als »First-Person-Science« in die Kognitionswissenschaft (Varela u. Thompson 1992). Sein Ansatz der Kognition als Inszenierung integriert auf fruchtbare Weise diese achtsame Beobachtung des Geistes bei der Wirklichkeitskonstruktion und weist einen mittleren Weg zwischen Objektivismus und Subjektivismus. Er eröffnet damit neue Chancen für die systemische Theoriebildung und zeigt Möglichkeiten auf, über den (radikalen) Konstruktivismus hinauszudenken (Pfeifer-Schaupp 2011a).


5. Wird Achtsamkeit instrumentalisiert und losgelöst von ihren spirituellen Wurzeln und vor allem von den ethischen Grundlagen, besteht die Gefahr, dass sie zu einem Produkt auf dem Markt für persönliches Glück und Erfolg wird: achtsamer Zuckerguss für beliebige Zwecke und Mittel, um die gesellschaftliche Realität zu verdrängen und noch mehr Stress zu ertragen (Pfeifer-Schaupp 2010, S. 193–202).


Verwendete Literatur


Boff, Leonardo (1999): Die Logik des Herzens. Wege zu neuer Achtsamkeit. Düsseldorf (Patmos).


Buchheld, Nina u. Harald Walach (2006): Wurzeln der Achtsamkeitsmeditation – Ein Exkurs in Buddhismus und christliche Mystik. In: Thomas Heidenreich u. Johannes Michalak (Hrsg.): Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. Ein Handbuch. Tübingen (dgvt), 2. korr. Aufl., S. 25–46.


Germer, Christopher, Ronald Siegel u. Paul Fulton (2009): Achtsamkeit in der Psychotherapie. Freiburg (Arbor).


Hanh, Thich Nhat (1998): Das Herz von Buddhas Lehre. Freiburg i. Br. (Herder).


Hanson, Rick u. Richard Mendius (2012): Das Gehirn eines Buddha. Die angewandte Neurowissenschaft von Glück, Liebe und Weisheit.


Heidenreich, Thomas u. Johannes Michalak (Hrsg.) (2006): Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. Ein Handbuch. Tübingen (dgvt), 2. korr. Aufl.Juchmann,


Ulrike (2012): Achtsamkeit@work – eine meditative Abenteuerreise im Team. ZSTB 30 (3): 103–108.


Kabat-Zinn, Jon (2006): Achtsamkeitsbasierte Interventionen im Kontext: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In: Thomas Heidenreich u. Johannes Michalak (Hrsg.): Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. Ein Handbuch. Tübingen (dgvt), 2. korr. Aufl., S. 103–138.


Kaltwasser, Vera (2012): Achtsamkeit im pädagogischen Setting. ZSTB 30 (2):116–120.


Lammers, Claas-Hinrich u. Christian Stiglmayr (2006): Achtsamkeit und Akzeptanz in der Dialektisch-Behavioralen Therapie der BorderlinePersönlichkeitsstörung. In: Thomas Heidenreich u. Johannes Michalak (Hrsg.): Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. Ein Handbuch. Tübingen (dgvt), 2. korr. Aufl., S. 247–294.


Meibert, Petra, Johannes Michalak u. Thomas Heidenreich (2006): Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion – Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) nach Kabat-Zinn. In: Thomas Heidenreich u. Johannes Michalak (Hrsg.): Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. Ein Handbuch. Tübingen (dgvt), 2. korr. Aufl., S. 141–192.


Muth-Seidel, Despina u. Charlotte Husen (2012): Psychokardiologie und Achtsamkeit – Wie können achtsamkeitsbasierte Ansätze beim Umgang mit Erkrankungen von Herz und Kreislauf helfen? ZSTB 30 (2): 109–115.


Pfeifer-Schaupp, Ulrich (2010): Achtsamkeit in der Kunst des (nicht) Helfens. Freiburg (Arbor).


Pfeifer-Schaupp, Ulrich (2011a): Über den radikalen Konstruktivismus hinaus denken. Der mittlere Weg der Erkenntnis. ZSTB 30 (2): 55–61.


Pfeifer-Schaupp, Ulrich (2011b): Achtsamkeit in der Sozialen Arbeit. Sozialmagazin 36 (4): 18–30.


Pfeifer-Schaupp, Ulrich (2012): Buddhistische Psychologie und systemische Ansätze – ein transformativer Dialog. ZSTB 30 (2): 95–102.


Segal, Zindel, J. Mark G. Williams a. John D. Teasdale (2002): Mindfulness-Based Cognitive Therapy for Depression – A new Approach to Preventing Relapse. New York (Guilford).


Siegel, Daniel (2007): Das achtsame Gehirn. Freiamt (Arbor).


Varela, Francisco u. Evan Thompson (1992): Der mittlere Weg der Erkenntnis. Die Beziehung von Ich und Welt in der Kognitionswissenschaft. Bern (Scherz).