Delinquenz

engl. delinquency, franz. délinquance f, von lat. delictum = »Delikt, Verfehlung, Vergehen, Straftat«; seit dem 16 Jh. für a) im Strafrecht eine mit einer negativen Sanktion bedrohte Handlung und b) im Privatrecht eine unerlaubte Handlung, heute für abweichendes Verhalten allgemein in Abgrenzung zur Kriminalität, jedoch auch synonym verwendet. Nach Niklas Luhmann (1993) wird alles, was beobachtet wird, von etwas anderem unterschieden und zugleich bezeichnet und bewertet. Ganz besonders trifft dies auf Handlungen zu, vor allem wenn sie statistisch gesehen, von der Norm (dem Erwartbaren; Erwartung) abweichen. Neben informellen Reaktionen (z. B. Lob, Tadel) hat die Gesellschaft auch formelle Reaktionen zur Hand. Im Falle einer positiven Abweichung ist z. B. die Möglichkeit einer offiziellen Anerkennung in Form eines Titels möglich. Im negativ bewerteten Falle kann man unter bestimmten Voraussetzungen von kriminellem oder krankem Verhalten sprechen. Es wird der betreffenden Person also ebenfalls ein Titel gegeben: Verbrecher (Delinquent) oder Patient. In jedem Falle einer formellen Anerkennung des sozial abweichenden Verhaltens wird die Person einen offiziellen Selektionsweg durchlaufen, bei dem entscheidend ist, dass vorab das gezeigte Verhalten bereits institutionell bewertet und schriftlich niedergelegt wurde (Schwind 2007). Im Falle einer Delinquenz muss zuerst einem Beobachter die Abweichung als so bedeutsam auffallen, dass er sie der Polizei meldet. In der Folge durchläuft der Fall weitere Auslesefaktoren, welche durch gesetzliche Normen, aber auch pragmatische Gründe bestimmt sind. Am Ende spricht dann ein Richter im Namen des Volkes ein Urteil (ein Arzt eine Diagnose). Neben einer geltenden Norm an sich und – im Falle der Nichteinhaltung – einer Sanktionierung ist in diesem Zusammenhang als drittes Element die (wechselseitige) Erwartung der Normeinhaltung bei den Beobachtern wichtig. Das bedeutet, dass man davon ausgeht, dass jemand sich normgerecht verhält, da ansonsten die Kontingenz im sozialen Alltag zu groß werden würde; wir brauchen ein gewisses Maß an Vertrauen in unsere Umwelt, um überhaupt handeln zu können, andernfalls brauchen wir eine Erklärung der Ursachen für das beobachtete Verhalten.


Diese Ursachen werden heute in einer Mischung aus biologischen, sozialen und psychischen Faktoren gesehen, wobei hier auch wieder entscheidend ist, wer welche Ursachen welchem Verhalten zuschreibt. Eine fachübergreifende oder auch nur fachintern einstimmige Lehrmeinung lässt sich nicht finden. Durkheim (1993) zeigte bereits im 19. Jh., dass abweichendes Verhalten nicht nur normal ist, sondern auch ohne ein solches keine Normen entstehen können, denn für die Bezeichnung und Unterscheidung eines Verhaltens braucht man etwas, von dem unterschieden wird. Die Menschen müssen sich an Normen orientieren, ohne jederzeit mit zu reflektieren, dass diese sich wandeln können. In einem solchen Wandel gibt es keine übergreifende Normen mehr, und einzelne Personen(gruppen; Gruppe) entwickeln eigene. Eine andere Form der Genese von abweichendem Verhalten wird durch den sogenannten Etikettierungsansatz (labeling approach) beschrieben. Dadurch, dass aufgrund eines (meist äußerlichen) Merkmals einer Person oder einer Gruppe eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben wird, wird diese Person (oder Gruppe) den Verhaltenserwartungen gerecht, da sie die Fremdzuschreibung verinnerlicht. In einem solchen Falle kann, wie bei der Setzung von Normen, nicht eine einzelne Person die Zuschreibung leisten. Oft ist eine solche Zuschreibung auch von der Mehrheit unabhängig. Die Definition dessen, was abweichend ist und welche Person oder Gruppe möglicherweise hiervon betroffen ist, wird von einer dominanten Gruppe (heute meist von Fachleuten) festgelegt (Lamnek 1979). Was als Delinquenz angesehen wird, zeigt deutlich sowohl die Zuschreibungen als auch die Selektionsmechanismen auf, welche von den Beobachtern und den Beobachteten abhängig sind. Viele Normen weisen auf den Schutz vor Schädigung einer anderen Person hin. Beim extremsten Fall – dem der Tötung – kann verdeutlicht werden, dass auch hier die Norm stark von der Bewertung abhängt. Wird eine Tötung z. B. mit Verteidigung erklärt (wie im Falle eines Krieges), so ist die Tötung sozial akzeptiert, wenn sie nicht in der eigenen Gruppe erfolgt. Zusammenfassend kann man sagen, dass Delinquenz immer davon abhängt, wer welches Verhalten bei wem zu welcher Zeit beschreibt.


Die professionelle Arbeit steht in einem großen Spannungsfeld, wenn sie auf delinquentes Verhalten trifft. Häufig ist ein Verhalten sehr normgerecht innerhalb einer Gruppe, auch wenn es gegen bestehende Gesetze verstößt – oder ein bestimmtes Verhalten steht in den letzten Jahren unter besonderer Beobachtung und wird anders bewertet als früher. Dies ist z. B. bei einfachen (!) Schlägereien unter männlichen Jugendlichen der Fall – oder das gleiche Verhalten wird unterschiedlich bewertet, je nachdem wer es zeigt (z. B. ein Professor oder ein Obdachloser). Die vielfältigen Spagate zwischen gesetzlichen Vorgaben, Erwartungen des Auftragsgebers und Vorstellungen davon, was als psychisch krank oder als kriminell gilt, oder auch nur die Entscheidung auszuhalten, ob etwas gut für die Person oder gut für die Umwelt ist, gehören zu den Grundfähigkeiten des systemisch (System) Denkenden. Zwei Fehler lassen sich oft im Umgang mit delinquenten Personen beobachten. Zum einen die kontraproduktive Verwechslung von Handlung und Handelnden (eine Person, welche etwas »Schlechtes getan« hat, »ist« noch keine schlechte Person). Zum anderen ist es der Blick, der entweder auf die Unterschiede oder Gemeinsamkeiten fällt. So erwartet man aufgrund der Erfahrung bei den meisten Delinquenten weitere delinquente Handlungen, oder man glaubt zu sehr den Erzählungen, dass sie nie wieder straffällig werden. Auf der anderen Seite wird oft zu sehr auf die Besonderheiten des Einzelfalls geschaut, und es werden die Grundstrukturen für die Entstehung von Delinquenz nicht gesehen. Neben der Frage, an welchen Normen (also welcher Meinung welcher dominanten Gruppe) man sich zu orientieren habe, muss sich der professionell mit Delinquenten Arbeitende die Frage stellen, wie ein bestimmtes Ziel erreicht werden kann. Aus dem systemischen Blickwinkel ist eine direkte Intervention wenig erfolgversprechend, auch wenn sie meist erwartet wird. Einer der erfolgversprechendsten Ansätze wurde von Conen und Cecchin (2009) vorgestellt. Danach soll der systemisch arbeitende Mensch die Frage stellen: »Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden?« (Helfen). Dabei begreifen die Autoren jede Form von professioneller Intervention innerhalb von Zwangskontexten (Kontext) als einen Eingriff in die Autonomie des Gegenübers. Die professionell handelnde Person hat durch ihren Ansatz die Möglichkeit, die bestehenden Rahmenbedingungen (unterschiedliche Normen, gesetzliche Vorgaben etc.) zu nutzen, um die individuelle (Individuum) Freiheit der Klienten zu bewahren und ihnen trotzdem konstruktiv beizustehen, indem sie ihnen hilft, die einflussnehmende professionelle (systemische) Arbeit an ihrer Person wieder loszuwerden.


Verwendete Literatur


Conen, Marie-Luise u. Gianfranco Cecchin (2009): Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden? Therapie und Beratung mit unmotivierten Klienten und in Zwangskontexten. Heidelberg (Carl-Auer), 3. Aufl. 2011.


Durkheim, Émile (1993): Der Selbstmord. [1897.] Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Lamnek, Siegfried (1979): Theorien abweichenden Verhaltens. München (Fink) [Neuausg. (2007)].


Luhmann, Niklas (1993): Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Schwind, Hans-Dieter (2007): Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. Heidelberg (Kriminalistik).


Weiterführende Literatur


Auer, Ulrich (2010): Drinnen ist es genauso wie draußen – nur anders. Psychotherapie hinter Gittern oder: Warum brauchen wir Rückfalltäter? Holzkirchen (Felix).


Christie, Nils (2005): Wie viel Kriminalität braucht die Gesellschaft? München (Beck).


Furman, Ben (1999): Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben. Dortmund (Borgmann).