Trauer

engl. grief für das subjektive Erleben von Trauer, mourning für das sichtbare Trauerverhalten, bereavement für die Trauersituation, franz. deuil m; beschreibt die emotionale und somatische Reaktion auf den Verlust eines nahestehenden Menschen oder eines wichtigen Lebensinhaltes. Die Trauer kann als eine im limbischen System verankerte, neurobiologisch angelegte adaptive Reaktion des Bindungssystems verstanden werden. Das dominierende Trauerverständnis geht auf Sigmund Freuds libido-theoretischen Ansatz der Trauerarbeit zurück (Freud 1917). Die Aufgabe bei einem Verlust besteht darin, die Libido aus der Beziehung zum verloren gegangenen Objekt abzuziehen und zurückzunehmen, damit der Trauernde für neue Beziehungen und Aufgaben frei wird. Vor diesem psychoanalytischen Hintergrund und aus der Bindungstheorie entwickelten John Bowlby (1983), Collin Parkes (1972) und Verena Kast (1977) die bekannten Phasenmodelle des Trauerprozesses. Trauernde durchlaufen dabei die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens, der aufbrechenden Emotionen, des Suchens und Sichtrennens und schließlich die Phase des neuen Selbst- und Weltbezuges. Die Phasenmodelle ermöglichen Trauernden und Trauerbegleitern eine Orientierung über den Verlauf des Trauerprozesses, sollten aber nicht als normative Vorgabe eines linear ablaufenden Prozesses verstanden werden. Aus den genannten libido- und bindungstheoretischen Ansätzen und den Phasenmodellen entstand der Gedanke des »Loslassens«, der auch in vielen Trauerbegleitungen und Psychotherapien (Psyche; Therapie) als implizites oder explizites Ziel angestrebt wird. Viele Trauernde fühlen sich dabei jedoch nicht verstanden, weil sie den Verstorbenen nicht verlieren, sondern in der Erinnerung oder im Gedenken als inneres Gegenüber bewahren wollen. In empirischen Untersuchungen haben Dennis Klass und seine Arbeitsgruppe (1996) nachgewiesen, dass viele Hinterbliebene den Verstorbenen als innere Repräsentanz bewahren, mit ihm eine innere, symbolische Beziehung weiterleben und der Verstorbene als Ressource, wie zum Beispiel als innerer Ratgeber, utilisiert (Utilisation) wird. Ähnliches hat Anja Bednarz (2005) gezeigt, wonach Hinterbliebene den Verstorbenen als bedeutsamen anderen bewahren. William J. Worden (2010) hat im Rahmen seines Konzeptes der Traueraufgaben das Finden einer dauerhaften Verbindung zum Verstorbenen als vierte Traueraufgabe beschrieben. Ich selbst habe ein neues, hypnosystemisches Trauerverständnis (Kachler 2010) entwickelt, in dem hypnotherapeutische und systemische Ansätze integriert sind (siehe dazu Schmidt 2005).


Systemisch kann der Trauerprozess als prekärer Selbstorganisationsprozess angesichts einer zunächst unlösbaren Situation des Verlustes verstanden werden. Als komplexer (Komplexität) und dynamischer Selbstorganisationsprozess ist sein Verlauf sprunghaft, selbstbezüglich und vom Ergebnis her offen. Trauerprozesse können zu einer neuen Selbst-, Welt- und Sinnkonstruktion der Trauernden, aber auch zu chronischen und destruktiven Trauerverläufen führen. Wesentlicher Bestandteil eines gelingenden Trauerprozesses ist eine weiter gehende innere Beziehung zum Verstorbenen. Damit wird die Trauer nicht mehr nur als Abschiedsemotion, sondern als Beziehungsemotion verstanden. Die Trauerarbeit ist auch eine Beziehungsarbeit, weil sich Trauernde auch gegenüber dem Verstorbenen »nicht nicht« verhalten, also sich auf ihn »nicht nicht« beziehen können. Die Hypnotherapie unterstützt Trauernde dabei, ihre Trauergefühle (Gefühl) und ihre Beziehung zum Verstorbenen internal zu gestalten. So ergänzen sich auch auf der Arbeitsebene systemische und hypnotherapeutische Methoden.


In einer hypnosystemisch verstandenen Trauerbegleitung werden Trauernde darin unterstützt, die wesentlichen Traueraufgaben zu bewältigen. Es ist dies die Aufgabe einer schmerzlichen Realisierung des Verlustes und der Abwesenheit des Verstorbenen (Schmerz), das Finden einer inneren Beziehung zu ihm unter der Bedingung seiner Abwesenheit und schließlich die Neukonstruktion des Lebens nach dem Verlust (Neimeyer 2006). Bei akuten und schweren Verlusten wird zunächst wie in der Traumatherapie (Trauma) an der Stabilisierung des Betroffenen gearbeitet und z. B. nach einem sicheren und geschützten Rückzugsort für ihn gesucht. Der sichere Ort für den Trauernden kann imaginativ oder konkret im Äußeren implementiert werden. Im Trauerprozess sind die zentralen Ressourcen die Trauer, die Beziehungsgefühle zum Verstorbenen, die Repräsentanzen von ihm, der Körper und das Unbewusste. Sie werden für jeden Prozessschritt als Prozessbegleiter über systemische Fragen oder imaginative Techniken aktiviert. Die allmähliche Realisierung des Verlustes und der bleibenden Abwesenheit des Verstorbenen wird durch das Erleben und Gestalten der Trauergefühle gefördert. Dabei wird gewürdigt, dass der Prozess der Realisierung sehr schmerzlich ist. Die Gefühle von Trauer, Schmerz, Leere, Ohnmacht, Wut oder Schuldgefühlen (Schuld) werden im Sinne der Realisierung behutsam utilisiert. Trauernde werden angeleitet, mit diesen Gefühlen in Imaginationen, in Symbolisierung und im Gestalten wie z. B. im Malen der Trauer zu arbeiten. Zugleich werden die Trauergefühle in einem einfühlsamen Reframing (Umdeutung) als Ausdruck der Liebe zum Verstorbenen verbalisiert. Die zweite Aufgabe im Trauerprozess ist es, eine weiter gehende innere, imaginativ-symbolische Beziehung zum Verstorbenen zu finden. Dazu werden die im Trauerprozess aktivierten Beziehungsgefühle wie Gefühle der Verbundenheit, der Nähe und der Liebe zum Verstorbenen utilisiert. Die Trauernden werden darin unterstützt, für den Verstorbenen einen sicheren Ort zu finden. Das können konkrete Orte wie das Grab sein, internale Orte wie die Erinnerung oder spirituelle Orte. Trauernde können nun ihren Verstorbenen an diesem sicheren Ort freigeben. Bei schwierigen Trauerprozessen ist häufig eine internale Beziehungsklärung mit den Repräsentanzen des Verstorbenen nötig. In einem letzten Abschnitt wird an der Neukonstruktion des Lebens nach dem Verlust gearbeitet. Dabei werden der Verlust, Gefühle des Missens und die weiter gehende Beziehung zum Verstorbenen in das zunehmend nun wieder als gelingend erlebte Leben integriert.


Verwendete Literatur


Bednarz, Anja (2005): Mit den Toten leben. Über Selbst-Sein und das Sterben eines Anderen. Familiendynamik 30 (1): 4–22.


Bowlby, John (1983): Verlust, Trauer und Depression. Frankfurt a. M. (Fischer).


Freud, Sigmund (1917): Trauer und Melancholie. Gesammelte Werke, Bd. 10. Frankfurt a. M. (Fischer), 8. Aufl. 1991, S. 430 ff.


Kachler, Roland (2010): Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis. Heidelberg (Carl-Auer).


Kast, Verena (1977): Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Stuttgart (Kreuz).


Klass, Dennis et al. (1996): Continuing bonds: New understanding of grief. Bristol (Taylor & Francis).


Neimeyer, Robert A. (2006): Lessons of loss. A guide to coping. Memphis (Center for the Study of Loss and Transition).


Parkes, Colin Murray (1972): Bereavement: Studies of grief in adult life. London (Tavistock).


Schmidt, Gunther (2005): Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg (Carl-Auer), 4. Aufl. 2011.


Worden, William J. (2010): Beratung und Therapie in Trauerfällen: Ein Handbuch. Bern (Huber), 4. Aufl.


Weiterführende Literatur


Kachler, Roland (2005): Meine Trauer wird dich finden. Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit. Stuttgart (Kreuz), 10. Aufl. 2009.


Kachler, Roland (2010): Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis. Heidelberg (Carl-Auer).


Rechenberg-Winter, Petra u. Esther Fischer (2008): Kursbuch systemische Trauerbegleitung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).


Stroebe, Margaret S. (Hrsg.) (2008): Handbook of bereavement research and practice. Advances in theory and intervention. Washington, DC (American Psychological Association).