Umdeutung

engl. reframing, zu dt. »Neurahmung«, als »sanfte Kunst« zuerst von Paul Watzlawick, John H. Weakland und Richard Fisch et. al. (1974, S. 116 f.) in den therapeutischen Diskurs eingebracht und durch Richard Bandler u. John Grinder (z. B. 1985) im Ansatz des »Neurolinguistischen Programmierens« (NLP) popularisiert und ausdifferenziert, stellt eine der zentralen Technik systemischen (System) Arbeitens dar (vgl. Schweitzer, von Schlippe u. Ochs 2007). Von Schlippe und Schweitzer (2009, S. 122) definieren Reframing als:


»Umdeutung, die in einer Situation oder einem Geschehen eine andere Bedeutung oder einen anderen Sinn zuweist und dadurch einen anderen Blickwinkel erlaubt«.


Sie unterscheiden zwischen Bedeutungsreframing, Kontextreframing und Inhaltsreframing (ebd., S. 78 ff.) und verdeutlichen diese Kategorien an Beispielen, wie etwa der Klage einer Frau in der Beratung darüber, dass ihr Mann ständig fremdgehe (ebd. S. 81): Bedeutungsreframing (»Er muss Sie sehr lieben, dass er immer wieder zu Ihnen zurückkommt; Sie haben offenbar einen sehr attraktiven Mann«), Kontextreframing (»Sie bräuchten dann mit einem Liebhaber Ihrerseits auch kein schlechtes Gewissen zu haben«), Inhaltsreframing (»Er sorgt offenbar dafür, dass es in Ihrer Ehe nicht langweilig wird. Wäre es eine Idee, dass wir gemeinsam, zu dritt, danach suchen, welche anderen, weniger schmerzlichen Wege es dafür gibt?«).


Eine Umdeutung ist dann angezeigt, wenn die fachliche Einschätzung besteht, dass dadurch hilfreiche Optionen im emotionalen, behavioralen oder kognitiven Umgang mit einem Problem oder einem Symptom (Symptomträger) angeregt werden können. Diese Einschätzung kann dem Patienten/Klienten als Hypothese (Hypothetisieren) mitgeteilt werden. Umdeutungen können dem Patienten/Klienten seitens des Therapeuten (Therapie) angeboten werden, oder sie können gemeinsam erarbeitet werden. Eine Möglichkeit des gemeinsamen Erarbeitens von Umdeutungen besteht in der Exploration der »guten Gründe« für ein bestimmtes Symptom oder Problem. Bei diesem Vorgehen geht es darum, Symptome und Probleme in funktionale Kontexte zu verorten. Dies ermöglicht es, die positiven und wertzuschätzenden Aspekte eines Symptoms/Problems zu erkunden und zu erfahren. Zudem kann dieses Vorgehen neue Handlungsweisen eröffnen, z. B. nach Wegen zu suchen, wie die positiven Aspekte des Symptoms auch ohne Symptombildung erreicht werden können. Außerdem kann der Umgang mit dem Symptom/Problem leichter fallen, wenn es wertgeschätzt werden kann und in seiner benignen (d. h. keine Tendenz zur Verschlimmerung zeigenden) Bedeutung auch verstanden wird. Ein Beispiel hierzu aus dem systemischen Arbeiten mit Familien mit einem Kopfschmerzkind (Kind): »Jetzt hätte ich noch eine Frage, die Ihnen auf den ersten Blick vielleicht etwas ungewohnt erscheint: Angenommen, die Kopfschmerzen wären für etwas gut oder wichtig, was könnte das sein? Sehen Sie, meine Erfahrung mit den Kopfschmerzen bei den Kindern ist, dass der Körper nichts ohne guten Grund macht. – Mich würde da interessieren, was für gute Gründe denn dein Körper haben könnte, die Kopfschmerzen, wenn man so will, einzuladen?« Typische Antworten sind etwa: sich ins Zimmer zurückziehen können; Pause machen müssen; Zuneigung/ Aufmerksamkeit von Eltern/Lehrer (Elternschaft) bekommen; sich an den Eltern rächen; eine Extra-Behandlung erfahren; nicht in die Schule müssen; Zusammenhalt der Familie stärken; auch andere in der Familie brauchen mal Ruhe; größere Aufmerksamkeit für seinen Körper bekommen; auf die eigene Sensibilität aufmerksam machen etc. (Ochs u. Schweitzer 2005).


Die Technik der Umdeutung ist deshalb so relevant, weil eine der Grundprämissen systemischen Arbeitens lautet, dass Phänomene überhaupt nur durch konnotative Rahmungen zu Problemen und Störungen werden. Vereinfacht ausgedrückt, ist die Überlegung beim therapeutischen Einsatz der Technik der Neurahmung, dass die zugrunde liegenden Phänomene nicht mehr (nur) als problematisch oder störend bewertet werden – und die Probleme damit (auch) »verschwinden« (können). Für die konzeptionelle Einordnung der Technik der Umdeutung in die systemische Praxeologie sind die Ausführungen von Simon (1995, S. 17 ff.) zur Unterscheidung der Beobachtungsdimensionen Beschreiben, Erklären, Bewerten hilfreich:


»Die Relevanz dieser drei Beobachtungsdimensionen wird deutlich, wenn wir Phänomene betrachten, die unter dem Etikett ›psychische Krankheit‹ zusammengefasst werden. Nehmen wir als Beispiel das Verhalten eines Individuums, das sozial auffällig und störend ist. Die Bezeichnungen ›störend‹ und ›auffällig‹ stellen bereits Bewertungen, wenn auch unterschiedlicher Art, dar. Wenn die Störung so weit geht, dass bei irgendwem das Bedürfnis entsteht, sie zu beseitigen, dann beginnt die Suche nach einer Erklärung. Das Verhalten könnte zum Beispiel bewusst gewählt sein (Erklärung: Bosheit eines eigenverantwortlichen Individuums) oder aber Ergebnis einer Krankheit sein (Erklärung: Wirkung eines vom individuellen Willen des ›Täters‹ unabhängigen, autonomen Prozesses). Die ursprüngliche Bewertung induziert die Suche nach einer Erklärung, und die jeweils gewählte Erklärung verändert die Bewertung. In der Folge werden vielerlei (Be-)Handlungskonsequenzen davon abhängen, wie Beschreibungen, Bewertungen und Erklärungen sich gegenseitig beeinflussen.« (Simon 1995, S. 20)


Systemische Umdeutung ähnelt Behandlungsansätzen aus der kognitiven Verhaltenstherapie, wie etwa der rational-emotiven Therapie von Albert Ellis, bei der es darum geht, per Fragen nach empirischen Beweisen und der logischen Konsistenz des Denkens dysfunktionale Kognitionen durch rationale zu ersetzen. Im systemischen Arbeiten geht es hingegen nicht um empirische Richtigkeit, sondern um konstruktivistische Nützlichkeit (vgl. hierzu Schweitzer u. Ochs 2008, S. 141): Welche (Um-) Deutung, welche (Neu-)Rahmung von als Problem/Störung erlebten Phänomenen hat (vermutlich) welche positiven und negativen Begleiterscheinungen und Konsequenzen für wen wann wie ausgeprägt?


Bei der Anwendung der Technik der Umdeutung ist zudem auf das angemessene Setting und Timing zu achten. Es ist notwendig, dass Umdeutungen auf dem Fundament einer tragfähigen beraterischen/therapeutischen Beziehung stattfinden, da sonst die Gefahr besteht, dass die Patienten/Klienten sich nicht ernst genommen oder verunsichert fühlen. Auch ist darauf zu achten, dass Umdeutungen in der Regel nicht allzu früh angeboten werden. Oft ist es hilfreich, dass Patienten/Klienten in ihren Deutungen (und damit in ihrem emotionalen Erleben; Gefühl) sich zunächst einmal ernst genommen und »gesehen« fühlen, bevor eine Um-Deutung stattfinden kann.


Verwendete Literatur


Bandler, Richard u. John Grinder (1985): Reframing. Paderborn (Junfermann)


Ochs, Matthias u. Jochen Schweitzer (2005): Systemische Familientherapie bei kindlichen Kopfschmerzen. Psychotherapie im Dialog 6 (1): 19–26. 440


Schlippe, Arist von u. Jochen Schweitzer (2009): Systemische Interventionen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)


Schweitzer, Jochen u. Matthias Ochs (2008): Systemisch-konstruktivistische Diagnostik. Vom Verfeinern des Möglichkeitssinns. In: Manfred Cierpka (Hrsg.): Handbuch der Familiendiagnostik. Heidelberg (Springer), 3. Aufl., S. 137–152.


Schweitzer, Jochen, Arist von Schlippe u. Matthias Ochs (2007): Theorie und Praxis der systemischen Psychotherapie. In: Bernhard Strauß, Fritz Hohagen und Franz Caspar (Hrsg.): Lehrbuch der Psychotherapie. Göttingen (Hogrefe), S. 261–286.


Simon, Fritz B. (1995): Die andere Seite der »Gesundheit«. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie. Heidelberg (Carl-Auer), 3., korr. u. überarb. Aufl. 2012.


Watzlawick, Paul, John H. Weakland u. Richard Fisch (1974): Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern (Huber).