Sounds of Science / Tom Levold - Emotionale Sicherheit

Tom Levold ist seit Jahrzehnten einer der führenden Experten im Feld systemischer Therapie und Beratung, Mitbegründer der Systemischen Gesellschaft, Gründer und Herausgeber des online-systemagazin, Autor und Herausgeber zahlreicher Artikel und bedeutender Bücher wie – gemeinsam mit Michael Wirsching – des Großen Lehrbuchs Systemische Therapie und Beratung sowie der gleichnamigen Roten Reihe im Carl-Auer Verlag. In dieser Reihe erschien aktuell ein Buch, das – O-Ton Tom Levold – „in seiner Bedeutung überhaupt nicht zu überschätzen ist“: Emotionale Sicherheit von Don R. Catherall.
Im Gespräch mit Carl-Auer Sounds of Science erläutert Tom Levold im Anschluss an Don Catherall und Silvan Tomkins unter anderem, warum die Unterscheidung von Affekt und Emotion so wichtig ist, wenn man mit Paarkonflikten und anderen Beziehungskonflikten professionell arbeitet oder selbst darin verstrickt ist. Eine zentrale Rolle spielt dabei Scham, ein Affekt, den Therapeut:innen und Berater:innen häufig nur schwer erkennen und zu dessen Konzeptionalisierung und Behandlung Catheralls Buch Bahnbrechendes leistet.


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Transkription des Interviews


Ohler Hallo lieber Tom Levold, danke, dass du bereit bist, wieder mit uns ein Gespräch zu führen. Ich grüße dich.


Levold Hallo Matthias, freut mich, dass wir reden können.


Ohler Da freue ich mich auch. Ich bin gerade in Zürich. Vielleicht ist ein bisschen Hall – nur damit die Hörerinnen und Hörer das wissen – ich bin in den Putzraum geflüchtet bei dem Kongress, wo ich gerade bin, die Hypnosystemisch Tagung. Du bist in Köln?


Levold Ich bin in Köln und gespannt auf unser Gespräch, darauf, was wir heute alles miteinander besprechen können in der Zeit, die uns zur Verfügung steht.


Ohler Ja, es geht ja in erster Linie um Emotionale Sicherheit, wir hatten ja schon mal darüber gesprochen. Ich fühle mich jetzt ein klein bisschen kompetenter, denn jetzt ist Don Catheralls Buch da auf Deutsch, ich habe es lesen können und bin umso dankbarer dafür, dass du dich dafür engagiert hast, dass das auf Deutsch rauskommt, und verstehe das jetzt auch wesentlich besser. Es ist unheimlich komplex, und man kann ja auch alles nachlesen. Aber ich will ein paar Dinge mit dir gerne ansprechen, was dieses Buch so besonders macht. Was mir als erstes einfällt dabei ist die für mich sehr nachvollziehbare und wichtige Klärung des Unterschieds zwischen Affekten und Emotionen, eine besondere Beziehung und Entwicklung. Vielleicht dazu einfach ein paar Ideen: Was unterscheidet Affekt und Emotion und wie sind sie trotzdem miteinander in Interaktion?


Levold Ja, das ist eine gute erste Frage, weil sie ein bisschen den Blick auf den Kontext wirft, in dem das Buch auch entstanden ist. Catherall ist ein amerikanischer Therapeut, der ursprünglich eine tiefenpsychologische Orientierung hatte und dann immer systemischer geworden ist. Er bezieht sich in diesem Buch ganz besonders auf die Affect Theory von Silvan, Tomkins. Tomkins ist im deutschsprachigen Raum sehr wenig bekannt, weil seine Arbeiten nicht wirklich übersetzt worden sind. Es gibt ein paar Auszüge, aber es ist für mich eine große Freude, dass dieses Buch viele Elemente von Tomkins Theorie auch hier in unserem Sprachraum bekannter machen kann. Tomkins war ein ganz brillanter Psychologe, eigentlich ein akademischer Außenseiter. Er hat nie eine akademische Karriere gemacht, weil er sich ganz auf seine Forschungen konzentriert hat – und damit hat er sehr früh angefangen, schon in den 50er und 60er Jahren. Er ist eigentlich der Begründer der modernen Affect Theory. Aber eben das ist, glaube ich, wichtig zu verstehen, denn wenn wir über Affekte, Gefühle, Emotionen sprechen, wird das in unserem Sprachraum häufig synonym verwandt. Und wichtig ist, dass damit eigentlich ganz unterschiedliche Phänomene, Bereiche gemeint sind. Affekte sind primär erst mal unmittelbar körperliche Reaktionen auf Reize, auf innere oder äußere Reize. Wir können uns das vorstellen: Wir bekommen bestimmte Affekte, oder wir werden in der Interaktion vor Situationen gestellt, die in uns Affekte auslösen, und diese Affekte sind in gewisser Weise hardwaremäßig verschaltet, weil sie in der Evolution entstanden sind, und die teilen wir eben auch mit vielen höheren Säugetieren. Gefühle sind sozusagen die subjektive Entsprechung, also Affekte plus Sprache, weil wir natürlich erst mal Affekte haben, die uns aber nicht immer unbedingt zwangsläufig bewusst sein müssen. Aber unsere Gefühle sind in gewisser Weise sozusagen der befindliche Ausdruck von unseren Affekten. Emotion ist etwas, das viel komplexer ist, und das ist etwas, was Tompkins wirklich schön herausgearbeitet hat. Emotionen sind nämlich gewissermaßen Affekte plus Geschichte, also Affekte plus Lernen. Wir machen von Beginn unseres Lebens an eine Vielzahl von Erfahrungen im Umgang mit unseren eigenen Affekten und im Umgang anderer mit unseren Affekten. Und das nennt Tomkins eine "Szene". Wir haben eine Vielzahl von Szenen, die etwas mit Wut oder Angst oder Freude zu tun haben, aber eben auch Scham und Verachtung. Aus dieser Vielzahl von Szenen setzen sich bestimmte Muster zusammen, die Tomkins "Skripte" nennt. Also unsere ganze Affekt-Erfahrung im Umgang mit uns selber und mit wichtigen Personen ist in hohem Maße geskriptet, könnte man sagen. Immer dann, wenn wir mit bestimmten Situationen konfrontiert werden, die emotional von Belang sind, dann haben wir natürlich in solchen Momenten einen unmittelbaren Affekt, der uns hilft, uns zu orientieren, der uns hilft, die Situation zu bewerten und einzuschätzen, und dann zu handeln. Aber mit diesem Affekt werden gleichzeitig die Skripte mobilisiert, die wir in unserer Kindheit, in unseren vielfältigen Beziehungsgeschichten, in unseren unterschiedlichen sozialen Kontexten erworben haben. Diese Affekte in Verbindung mit diesen Skripts ist das, was eigentlich unter Emotionen verstanden werden kann, und das sind sehr komplexe affektiv-kognitive Geschichten. Und in der Therapie geht es eben genau darum, diese Emotionen zu erkennen, mit ihrem Ursprung auch zu verbinden und dann auf diese Art und Weise vielleicht auch dabei helfen zu können, dass Klienten und Paare neue Muster und neue Skripte entwickeln können.


Ohler Das war sehr klar und ausführlich, hilfreich, diesen Unterschied zu sehen und diesen Herkunfts-Unterschied – so hab ich das verstanden. Du hast jetzt die Brücke auch schon gemacht zur therapeutischen Praxis. Im Original heißt der Untertitel des Buches ja "Viewing Couples through the Lense of Affect". Es geht also in erster Linie um Paarkonflikte, Paarentwicklung. Bevor ich dahin komme, noch mal eine Frage: Du hast vorhin die Sprache angesprochen. Emotion entwickelt sich mit Sprache. Nun ist es aber doch so, dass für Affekte und Emotionen manchmal auch die gleichen Begrifflichkeiten verwendet werden. Kann man das so sagen? Macht das auch was aus, was die Konflikte angeht?


Levold Na ja, ich würde erst mal sagen, wichtig ist, dass man weiß, mit welchem Begriff man welches Phänomen beschreiben will. Auch in der Literatur geht das manchmal durcheinander. Und auch international ist das schwierig, weil dort, wo ich zum Beispiel von Affekten sprechen würde, wird im englischsprachigen Raum von primary emotions gesprochen. Auch dort gibt es diese Differenzierung. Nur werden die Begriffe unterschiedlich verwandt, und insofern müssen wir uns, glaube ich, immer klarmachen, was passiert gerade jetzt, in diesem Moment. Und da ist erst mal womöglich ein Affekt. Wir sehen Mimik, wir sehen eine bestimmte Körperhaltung, die damit verbunden ist. Jeder Affekt hat auch eine spezifische Anbahnung der Bewegungsmuskulatur. Wenn wir wütend sind, dann wollen wir sozusagen auf den Gegenstand unserer Wut losgehen. Wenn wir Angst haben, wollen wir weggehen. Wenn wir uns ekeln, dann wird eine Körpermuskulatur angesprochen, die dafür sorgt, dass etwas aus unserem Körper rauskommt, was da nicht reingehört. All diese Dinge sind unmittelbar auch motorisch von Bedeutung. Das ist das, was wir im Moment sehen. Was die Leute empfinden, was sie dann sagen, das ist die Gefühlsebene. Aber das, was letzten Endes motiviert sich in bestimmten Situationen durch Handeln oder durch Kommunikation zu verhalten,das ist dann die Ebene der Emotion. Da sind wir bei dem wichtigen Punkt, dass Therapeuten sich natürlich immer schon mit Gefühlen beschäftigt haben, zum Beispiel die Psychoanalyse als ursprünglich Ein-Personen-Psychologie, könnte man sagen, sich intensiv mit der Rolle von Gefühlen beschäftigt hat. Aber was jetzt dazukommt, und das ist sozusagen der systemische Blick darauf, ist, dass wir Affekte unter dem Aspekt von Kommunikation begreifen müssen. Wenn zum Beispiel Luhmann sagt, soziale Systeme bestehen eigentlich aus Kommunikationsereignissen, dann würde ich das auch unterstreichen. Nur hat er als Soziologe einen ganz anderen Begriff von Kommunikation, der überwiegend über Sprache funktioniert und sich dann auf Gesellschaft bezieht. Aber wenn wir Tomkins hinzunehmen, können wir sehen: Affekte sind ein elementarer Bestandteil von Kommunikation. Und soziale Systeme sind eben nicht nur menschliche Systeme, sondern alle Systeme, die über Zeichenvermittlung miteinander kommunizieren. Und Affekte sind sehr starke Zeichen, die etwas über die Befindlichkeit unserer Partner mitteilen und über die eigene emotionale Sicherheit, die wir in bestimmten Situationen erleben können. Und damit sind wir schon bei dem Titel dieses Buches, Emotionale Sicherheit, als ein Grundbedürfnis, das eben ganz viel mit unseren unterschiedlichen Skripten zu tun hat, die wir in Hinblick auf Zugehörigkeit und auch Wertschätzung in sozialen Systemen erworben haben.


Ohler Da ist jetzt schon der nächste Begriff angesprochen. Es sind immer so Begriffspaare, die eine Rolle spielen, die miteinander in einem Beziehungsgeflecht stehen, zum Beispiel Wertschätzung und Bindung. Wir müssen das nicht alles berühren. Aber da fällt mir gerade ein: Vor 20 oder 30 Jahren gab es ja diesen Kongress "Gefühle und Systeme" in Zürich, wo du auch dabei warst. Es scheint da etwas zu sein, wo die systemische Szene noch ganz viel nachzuholen hat, wo Catherall da beitragen kann?


Levold Das war ein wunderbarer Kongress, den damals Rosmarie Welter-Enderlin in Zürich organisiert und damit wirklich einen Stein ins Rollen gebracht hat, wofür ich ihr sehr dankbar bin, weil ich eigentlich seit 40 Jahren mit diesem Thema Affekte und Gefühle unterwegs bin. Und das hat bis 1997 im systemischen Feld so gut wie keine Rolle gespielt. Damals wurde das sozusagen zum ersten Mal überhaupt als Thema akzeptiert. Ich glaube, es ist immer noch eher randständig. Aber ich finde, gerade solche Bücher wie dieses können helfen, deutlich zu machen, dass es da nicht einfach nur um Befindlichkeit oder intrapsychische Dinge geht, die natürlich auch eine wichtige Rolle spielen, sondern dass es wirklich zentral darum geht, unser Verständnis von Kommunikation zu erweitern und die affektive Seite dieser Kommunikation genauso in den Blick zu nehmen wie die sprachlichen Muster, mit denen wir uns beschäftigen.


Ohler Wie stellt man sich das vor? Es gibt ja sehr viele Beispiele, auch bei Catherall im Buch. Aber vielleicht mal ein zwei Blicke darauf: Wie stellt man sich vor, wenn man mit diesem Instrumentarium, was du jetzt angerissen hast, ausgestattet ist und erkennt ganz bestimmte Muster der Skripts oder der Kommunikation bei einem Paar beispielsweise, mit dem arbeitet? Wie bringt man diese kommunikative Steuerungsfunktion, nenne ich es jetzt mal, in Paarkonflikten ein, so, dass eine andere Form der Koregulation entstehen kann?


Levold Gut, also erst mal müsste man vielleicht noch mal deutlich machen: Paare kommen natürlich in Therapie, weil sie miteinander Konflikte haben. Diese Konflikte können ganz unterschiedlicher Natur sein. Und im Grunde genommen sind wir als Paartherapeuten ja auch Erfahrungen mit dieser Art von Konflikten. Die meisten Konflikte haben Paare, glaube ich, gar nicht mal unbedingt, weil sie ein Paar sind, sondern weil sie unter einem Dach leben und sich synchronisieren müssen in Hinblick auf ihre zeitlichen Bedürfnisse, auf ihre sexuellen Bedürfnisse, auf Fragen wie gehen wir mit Erziehung, mit Geld, mit Beruf usw. um. Alle diese Probleme sind nicht immer lösbar, weil womöglich die Präferenzen der beteiligten Partner völlig unterschiedlich sind. Ich glaube eher, dass sozusagen der Umgang mit unlösbaren Problemen ein lösbares Problem darstellt. Das ist das, was ich den Paaren eigentlich auch immer versuche nahezubringen. Alle diese Probleme haben eine inhaltliche Seite, wo die Frage ist: Was muss der eine tun, was muss der andere tun, kann man Kompromisse machen, kann man Konfliktfelder auflösen? Das ist alles das, was, aus meiner Perspektive, sich auf der Vorderbühne der Paarbeziehung abspielt. Wenn Paare aber die Erfahrung machen, dass sie immer wieder in ähnliche Problemmuster hineingeraten, immer wieder neue Schwierigkeiten miteinander haben und nur sozusagen das inhaltliche Feld des Problems wechseln, dann ist eigentlich die Annahme sehr berechtigt, dass auf der Hinterbühne etwas passiert, was sozusagen die Konflikte auf der Vorderbühne immer wieder neu mit Energie auflädt und immer wieder neues Öl ins Feuer gießt. Und das ist das, womit sich Catherall in diesem Buch beschäftigt, mit den Problemen auf der Hinterbühne. Er sagt, wir haben im Kern ein Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit, und es gibt zwei zentrale Bedrohungen für dieses Sicherheitsbedürfnis. Das eine hat etwas mit dem Wunsch nach Sicherheit in der Bindung zu tun. Das andere hat was mit unserem Bedürfnis nach Wertschätzung zu tun. Und beides, würde ich sagen, ist auch ein Stück weit biologisch verankert, weil wir als soziale Wesen existenziell davon abhängig sind, dass wir dazugehören, dass wir zu einer Beziehung, zu einer Familie, zu einer sozialen Gruppe, zu einem sozialen System gehören und dass eine ultimative Bedrohung ist, wenn unsere Sicherheit der Zugehörigkeit in Frage gestellt wird. Und da kommt die ganze Bindungstheorie mit rein. Welche Erfahrungen machen wir in unseren früheren Beziehungen? Haben wir das Gefühl, wir sind gewünscht und gewollt? Wir können uns der Beziehung sicher fühlen? Oder werden wir ständig abgewiesen, ausgegrenzt, misshandelt oder wie auch immer? Was dann wiederum zur Entwicklung von Skripten führt, die was mit unserer Orientierung in Hinblick auf Bindungserfahrung zu tun haben. Das ist sozusagen die eine Seite. Die andere Seite ist aber, dass über die Zugehörigkeit hinaus für uns auch wichtig ist, das Gefühl zu haben, wir haben einen gewissen Status, genießen eine gewisse Wertschätzung in Beziehungen aller Art, und wenn diese Wertschätzung nicht erfolgt, weil wir angegriffen werden, weil wir kritisiert werden, weil wir beschimpft werden und so weiter, dann ist das etwas, was massiv eingreift in unsere Möglichkeiten, so etwas wie Selbstachtung und Selbstsicherheit aufzubauen, also ein positives Selbstbild zu erwerben. Bindungssicherheit und Wertschätzung, das sind die beiden Dinge, die uns ein Gefühl von emotionaler Sicherheit und Beziehung verschaffen. Und viele Paare, die in diesen beiden Bereichen bedroht sind, haben Konflikte. Und wenn wir uns bedroht fühlen, weil wir das Gefühl haben, wir können uns auf den anderen nicht verlassen, der ist uns womöglich untreu geworden oder hat das vor, oder wir bekommen nicht mehr das an positiver Aufmerksamkeit, was wir uns vom anderen gewünscht haben – das ist eine Bedrohung unseres Bindungssystems. Und darauf reagieren wir dann defensiv. Entweder indem wir selber zum Angriff übergehen oder indem wir uns zurückziehen. An diesem Punkt spielt der Affekt der Scham eine zentrale Rolle. Und das ist auch ein ganz wichtiger Fokus in diesem Buch. Zurückgewiesen werden, entwertet zu werden, das sind erst mal alles primär Dinge, die eine Beschämungserfahrung auslösen, auch wenn sie den Beteiligten häufig nicht bewusst ist. Weil wir gelernt haben, Beschämung ist etwas, das wir kaum gut aushalten können, und gelernt haben, darauf mit bestimmten Abwehrmaßnahmen zu reagieren, indem wir zum Gegenangriff übergehen, oder indem wir uns zurückziehen, oder vielleicht auch, indem wir sozusagen die Entwertung übernehmen und uns selber schlecht machen. All das sind Strategien, mit Scham umzugehen. Und das ist in Paarbeziehungen sicher ein ganz, ganz zentrales Thema.


Ohler Scham das ist ja auch so ein Affekt mit dem umzugehen offensichtlich nicht jeder sich leicht tut, also sowohl in der eigenen Lebenserfahrung als auch in der paartherapeutischen Praxis. Würdest du sagen, dass der auf die Hinterbühne gehört? Oder dass er im Hinterbühnen-Aktivitäts-Muster eher auftaucht und sich auf der Vorderbühne ein Thema sucht?


Levold Affekte spielen auf der Hinterbühne eine unglaublich große Rolle. Und ich glaube, dass es sehr wichtig ist in der Arbeit mit Paaren, aber natürlich auch in der Arbeit mit Einzelnen genau dahin zu kommen, zu erkennen, welche Schamskripte eigentlich durch Auseinandersetzungen, durch Konflikte, durch Betrug usw. aktiviert werden. Das ist oft den Beteiligten selber nicht klar, denn der Schamaffekt selber ist oft sehr kurz, aber die Schamemotion, das ist das, was eigentlich dazu führt, welche Maßnahmen wir ergreifen, damit wir diesem Schamgefühl nicht ausgesetzt sind. Das ist viel umfassender. Und es gibt zum Beispiel Menschen, die sehr früh gelernt haben, wenn sie beschämt werden, mit Wut zu reagieren. Wut wäre dann in diesem Fall aber eigentlich ein sekundärer Affekt und nicht der primäre Affekt. Oder jemand, der, sobald er das Gefühl hat, er wird vom anderen kritisch beobachtet, zum Angriff übergeht und den anderen womöglich entwertet, der kriegt selber gar nicht mehr mit, dass er sich vor einer eigenen Beschämung schützt, sondern erlebt erst mal seine eigene Wut. Das ist eben häufig bei Paaronflikten, gerade eskalierenden Konflikten, dass dann beide Partner eine solche Strategie von Angriff als Verteidigung in Gang bringen, um sich vor Beschämung und Entwertung zu schützen, dann aber eben gar nicht verstehen, warum es so schwer ist, aus so einem Konflikt auszusteigen. Kommen sehr schnell rein und wissen dann nicht, wie sie wieder raus können. Und diese Landkarte, die Catherall da bietet, nämlich auf der einen Seite die Skala von Scham und Stolz, was das eigene Selbsterleben angeht in Hinblick auf Wertschätzung, und gleichzeitig die Regulierung von Achtung und Missachtung gegenüber dem Partner und auch gegenüber der eigenen Person, das ist unglaublich wertvoll. Das kann man Klienten unmittelbar zeigen, man kann es auf ein Flipchart aufmalen. Und meine Erfahrung ist, dass sie sofort wissen, was gemeint ist. Das ist unglaublich interaktionsnah und von daher therapeutisch auch außerordentlich hilfreich, weil es dann sozusagen einen anderen Blick auf die Dynamik der Konflikte bietet. Man ist ein Stück weit weg von dem Thema. Viele Therapeuten haben das, glaube ich, viel zu wenig im Blick, weil sie damit beschäftigt sind, wie man denn die konkreten Konfliktanliegen der Paare inhaltlich lösen kann. Sie schauen dann weniger auf die Muster, sondern sind eher schon auf der Suche nach Lösungen, die womöglich in diesem kleinen Ausschnitt helfen, einen Kompromiss zu machen oder den Streit zu beenden, aber die Dynamik nicht in den Griff kriegen. Die taucht dann an einer anderen Stelle wieder mit der gleichen Heftigkeit auf. Und das ist etwas, was mir wichtig ist. Es gibt eine interessante Studie, die mal an der Uni in Saarbrücken von Jörg Merten gemacht wurde. Der war damals Mitarbeiter von Rainer Krause, der dort den Lehrstuhl für Psychodynamik hatte. Merten hat untersucht: Wie gut sind Therapeuten im Erkennen von Affekten? Und er hat festgestellt: Im Vergleich zur Normalbevölkerung sind Therapeuten überdurchschnittlich gut im Erkennen von Wut, von Trauer und von Angst, aber in Hinblick auf das Erkennen von Scham und Verachtung leider total durchschnittlich. Das hat damit zu tun, dass wir diese Affekte gerne verstecken. Niemand zeigt sich gerne, wenn er sich schämt, und insofern ist es ein wichtiger Punkt – nnd dafür ist dieses Buch hoffentlich hilfreich – dass Therapeuten besser lernen, auch auf der Mikroebene solche Sequenzen von Scham und Verachtung zu identifizieren, weil sie dann auch den Paaren besser helfen können, genau diesen Punkt für sich zu erkennen und dann anders mit ihren Mustern umzugehen.


Ohler Mir fällt gerade ein gewagter Vergleich ein. Es gibt ja diese Studien von Immanuel Kant zum kategorischen Imperativ, für den es verschiedene Formulierungen gibt. Hier in dem Buch gibt es unterschiedliche Bild-Muster für diese Landkarte, oder auch für diesen Kompass. Also zunächst mal ist es wahrscheinlich hilfreich, dieses komplexe Feld für sich zu sortieren, wissenschaftlich, konzeptionell, und dann auch in seiner therapeutischen Praxis. Ist es tatsächlich so, dass man dann irgendwann den Punkt erwischt, wo man Leuten so ein Kompass-Bild am Flipchart vorstellen kann und sie dann quasi auf die Hinterbühne einlädt? Oder wie stellt man sich das vor?


Levold Jetzt sind wir ja nur auditiv unterwegs und können es nicht zeigen. Diese Landkarte unterscheidet sozusagen einmal immer auf der Ebene: Was erlebe ich selber in Hinblick auf Bindungssicherheit und in Hinblick auf Wertschätzung? Und das ist bei der Bindung einfach: Freude und Vergnügen, wenn ein positives Bindungserlebnis da ist, und Kummer und Schmerz, wenn das eben nicht da ist. Die senkrechte Achse dieser Karte wäre dann auf der Bindungsebene: Kann ich dem Partner vertrauen? Ist er wirklich für mich da? Bin ich derjenige, den der andere will? Oder bin ich nur zweite Wahl? Und so weiter. Also das ist sozusagen die Achse der Wahrnehmung des anderen in Beziehung zu einem selber. Und auf der Wertschätzungsebene geht es eben, auf der Ebene des Selbsterlebens, um Stolz und Scham. Und das ist ganz wichtig. Was hebt unseren Selbstwert? Was ist die Quelle von Selbstwert? Und wir haben natürlich als erwachsene Menschen viel breitere Quellen, als wir das als Kind haben. Ein neugeborenes Baby hat nur die Eltern, nur die Familie als Quelle von Selbstwert. Kinder, die dann schlecht behandelt werden, vernachlässigt werden, die können gar kein positives Bild von sich selber aufbauen. Wir haben Möglichkeiten, das beruflich zu kompensieren, oder mit Freunden und Verwandten, oder wie auch immer. Aber es gibt viele Paare, die sich sozusagen so in ihrer Paarbeziehung einigeln, dass der andere zur zentralen Quelle von Selbstwert wird, und wenn man dann vom anderen primär Entwertendes hört oder Kritik, Verachtung, dann ist das natürlich auch etwas, was es schwer macht, stolz auf sich selber zu sein und stolz auf den Partner. Also insofern ist es immer eine wichtige Frage, die ich den Paaren stelle: Was macht Sie stolz auf sich selber als Partner? Und haben Sie den Eindruck, Ihr Partner ist auch stolz auf Sie? Das ist eine gute Möglichkeit, auf das Thema Scham zu kommen, weil viele sagen: Scham? Nee, wofür sollten wir uns schämen? Aber wenn man merkt, alles, was sozusagen das Gegenteil von Stolz ist, nämlich Herabsetzung, dass man sich kleiner fühlt, dass man sich gedemütigt fühlt, das sind alles zentrale Scham-Initiatoren ... Scham ist leider, das ist das Hauptproblem, Antagonist von Freude und Interesse. Und wenn wir auf Veränderung gucken, darauf, was dazu führt, dass wir neue Muster entwickeln können, da brauchen wir als erstes natürlich das Gefühl: Wir sind auch in diesem therapeutischen Raum sicher, emotional anerkannt. Aber der zur Veränderung entscheidende Affekt ist Interesse. Und wenn ich mich schäme, dann finde ich nichts interessant. Da will ich einfach nur weg sein, dass die Erde sich auftut und ich bin verschwunden. Und da Paaren zu helfen, sich mit diesem Affekt auseinanderzusetzen, ist glaube ich sehr wichtig.


Ohler Vielen Dank. Erlaube mir noch zwei Fragen. Die eine frage ich deswegen, weil ich das Buch sehr verständlich und sortiert geschrieben finde, aus meiner Sicht. Also man wird, denke ich, gut an der Hand genommen und geführt. Für wen, außer für Leute, die professionell und spezifisch mit Paarproblemen bzw. paartherapeutisch arbeiten, wäre das Buch noch wichtig? So, dass man sagen könnte, es lohnt sich unbedingt, sich diese Sortierungsvorschläge sich anzueignen und mitzunehmen?


Levold Natürlich für alle Paare. Die werden immer Konflikte haben. Dafür ist es ein wunderbares Buch. Ich habe Paaren das Buch schon empfohlen, als es nur auf Englisch zu haben war – was schon eine gewisse Schwelle darstellt – und unglaublich positive Rückmeldungen gekriegt, weil viele gesagt haben, da habe ich ein Aha-Erlebnis nach dem anderen. Und es ist auch für alle, die keinen Partner haben. Letzten Endes würde ich sagen, die Frage, welche Erfahrungen wir mit unseren Affekten machen, welche Bedeutung das für unsere Fähigkeit hat, Beziehung aufzunehmen, aufrechtzuerhalten und auch in schwierigen Zeiten zu verändern, dafür ist das wirklich ein wunderbares Buch. Es wirft einen tollen Blick auf all das, was uns als soziale Wesen ausmacht. Und das gilt nicht nur für die Paarbeziehung. Auch die Sicherheit und Wertschätzung in Organisationen ist, finde ich, ein unheimlich wichtiger Punkt. Da es vielleicht weniger um emotionale Sicherheit, sondern mehr darum, ob ich einen sicheren Arbeitsplatz habe. Weiß ich, was ich zu tun habe? Kann ich mich orientieren oder nicht? Aber auch das sind natürlich soziale Systeme, in denen wir sofort in Schwierigkeiten geraten, wenn wir uns nicht mehr sicher fühlen können. Also insofern, würde ich sagen, ist die Zielgruppe schon eine ziemlich große Bandbreite von Leuten, auch über das therapeutische Feld hinaus.


Ohler Das kann ich von mir selbst her bestätigen. Ich habe sehr viel davon gehabt und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich mich drin bewegt habe in dem Buch. Auch für dich, Tom, die Carl-Auer Sounds-of-Science-Frage.


Levold Du hattest das noch eine andere Frage.


Ohler Die kommt jetzt. – Also wir sagen ja immer, okay, man trifft sich, man überlegt sich, das und das besprechen wir, dann mäandert man durch die Fragen, und hinterher denkt man vielleicht, das wäre ich gern noch gefragt worden, hätte ich gerne noch thematisiert, respektive während des Gesprächs fällt einem was ein, man legt es nach links, und jetzt liegt es da noch. Gibt es noch eine Frage, oder zwei, von denen du sagst, die hätte ich mir gewünscht, dann kannst du sie dir noch selber sozusagen vorlegen. Oder vielleicht auch sonst noch was, was dir eingefallen ist. Oder noch ein Statement.


Levold Na ja, beim letzten Mal habe ich ja schon gesagt, ich habe eigentlich da keine Fragen, weil ich immer ziemlich einfallslos bin. Deswegen bin ich immer darauf angewiesen, dass andere mich fragen, dann sprudelt es auch bei mir los. Also insofern glaube ich: nein, eine Frage eigentlich nicht. Bin nur noch wirklich glücklich, dass ich es geschafft habe, euch zu überreden, dieses Buch in Angriff zu nehmen. Ich möchte mich dafür wirklich bedanken, weil ich weiß, so eine Übersetzungsleistung – die ich hier auch mal gerne erwähnen möchte, Frau Ute Weber hat das wirklich gut gemacht, sie hat den Sound des Originals wirklich sehr gut getroffen – aber das ist für einen Verlag natürlich schon auch eine Herausforderung, und ich hoffe sehr, dass sich das auch auszahlt und viele Leute sich dieses Buch besorgen werden.


Ohler Ja, das hoffen wir mit. Natürlich sind wir ein Wirtschaftsbetrieb. Aber man hat ja als Verlag auch einfach die Aufgabe, Wichtigem zur Leserschaft zu verhelfen. Dafür ist man auch da. Und wenn man dann so starke Protagonisten und Überzeuger hat, finde ich, ist es auch nicht verkehrt.


Levold Insofern Ich glaube, wir haben unseren Hörern doch ein bisschen was nahebringen können, worum es in diesem Buch geht.


Ohler Vielen Dank, Tom, für die Zeit.


Levold Danke für die Einladung.