Funktionssystem

engl. function system oder functional system, franz. système fonctionnel m. → Funktions­systeme sind soziale → Systeme, die sich selbst erhalten und ausdifferenzieren (→ Autopoiesis), indem sie die Anschlussfähigkeit von → Kommunikation in einem bestimmten Erfolgsmedium wie → Macht, → Geld oder Wahrheit sicherstellen oder erhöhen. Das jeweilige Medium ist dabei binär codiert: Geld etwa wird als Zahlung oder deren Ausbleiben zum flüchtigen Ereignis, bevor sich bereits die nächste Nicht-/Zahlung anschließt. Auch bilden Funktionssysteme Programme aus, die festlegen, unter welchen Bedingungen welche Seite des binären Codes zu beobachten ist. So bestimmen im Funktionssystem Wissenschaft wortwörtliche Theorieprogramme, ob Unterscheidungen zwischen wahr und unwahr un-/wahrheitsgemäß getroffen worden sind.


Der Theorie sozialer Systeme zufolge setzt die → Beobachtung von Funktions­systemen die Möglichkeit sozialer Differenzierung voraus. Dabei gilt:


»Nur wenige Differenzierungsformen haben sich in der bisherigen Gesellschaftsgeschichte ausgebildet. Offensichtlich gibt es auch hier ein ›Gesetz begrenzter Möglichkeiten‹, auch wenn es nicht gelungen ist, sie logisch geschlossen (etwa über eine Kreuztabelle) zu konstruieren« (Luhmann 1995, S. 612). 


Ein Vorschlag für eine solche Kreuztabelle wurde mittlerweile vorgelegt (Roth 2021a, S. 719). Demnach handelt es sich bei der funktionalen Differenzierung um eine von nur vier Grundformen von Unterscheidungen, namentlich der Unterscheidung von



  1. ähnlichen und gleichwertigen Systemen: segmentäre Differenzierung

  2. ähnlichen und ungleichwertigen Systemen: Zentrum-Peripherie-Differenzierung

  3. unähnlichen und ungleichwertigen Formen: Stratifikation

  4. unähnlichen und gleichwertigen Formen: funktionale Differenzierung.


Während segmentäre Differenzierung vielfach als älteste Form sozialer Differenzierung gehandelt wird, gilt funktionale Differenzierung gemeinhin als die jüngste. Entscheidend ist hierbei, dass jüngere Differenzierungsformen ältere nicht verdrängen, sondern überlagern oder unterstellen, und sich gesellschaftliche Epochen demnach mit Blick auf die jeweils dominierende Differenzierungsform unterscheiden lassen (Luhmann 1995, S. 611 ff.). Entsprechend lässt sich das Mittelalter charakterisieren als eine Epoche, in der Segmente (maßgeblich: → Familien) in unähnliche und ungleichwertige Formen umgedeutet und damit in Rangordnungen verortet wurden.


Im Übergang zur Neuzeit wird die gesamtgesellschaftliche Primärorientierung an Rangordnungen ihrerseits überlagert durch eine Neuordnung der Dinge mittels funktionaler Differenzierung. So zeigt Sean Ward (2003; 2005; 2017) in einer Reihe äußerst lesenswerter Arbeiten, wie sich frühneuzeitliche Adelskonversation zunehmend in funktionaler Differenzierung übt und sich somit von den selbst von den oberen Bevölkerungsschichten als hochgradig einengend empfunden Erwartungsstrukturen (→ Erwartung) und Wertehierarchien ihrer Zeit emanzipiert. Während frühneuzeitliche Diskussionen über Gütekriterien wissenschaftlichen Arbeitens dann noch einige Zeit in dem aus heutiger Sicht überraschenden Einvernehmen geführt werden, dass kein guter Wissenschaftler sein könne, wer nicht zumindest zum niederen Adel gehöre (Shapin 1988), vertritt man heutzutage in ebenso selbstverständlicher Über­einstimmung die Ansicht, dass bei der Besetzung wissenschaftlicher Leitungspositionen das promovierte Arbeiterkind dem adeligen Kretin vorzuziehen sei.


Im Übergang zur Neuzeit verschiebt sich die soziale Mathematik demnach recht grundsätzlich: Während ältere Differenzierungsformen die → Gesellschaft auseinanderdividieren in Familien oder Stämme, Stadt oder Land, Adel oder Volk, multipliziert funktionale Differenzierung die Beobachterperspektiven. Während Angehörige des dritten Standes einst schlecht zugleich dem zweiten angehören konnten, lässt sich ein und derselbe Sachverhalt heute recht vielseitig funktionalisieren: ein Artefakt wird zum Kunstwerk, wenngleich oder weshalb es auch zum Anlageobjekt taugt oder als Politikum behandelt werden kann. Bei all dem verwandelt die Verwandlung das Verwandelte just ebenso wenig und doch so viel wie im Fall von Marcel Duchamps Fountain, der nicht aufhörte ein handelsübliches Urinal zu sein und doch als Schlüsselwerk in die Geschichte der modernen Kunst einging. So zeigt sich, dass es sich bei der Basisoperation der Moderne, der Funktion, nicht nur in der Mathematik um eine Transformation handelt.


Wie viele eigenständige Transformationsformen sich unterscheiden lassen ist bislang nicht abschließend geklärt. Während Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, Recht, und → Erziehung recht einhellig als Funktionssysteme gehandelt werden, scheint mit Blick auf weitere Kandidaten Diskussionsbedarf zu bestehen. Roth und Schütz (2015) ergänzen die eben genannte Liste um Sport, → Gesundheit und Massenmedien und legen somit einen »Kanon« von zehn Funktionssystemen vor. Weitere Funktionssystemkandidaten lauten: Moral, soziale Bewegungen, Ethik (Reese-Schäfer 1999), soziale Arbeit (Baecker 1994), Zivilgesellschaft (Reichel 2012), Tourismus (Pott 2011), → Familie (Burkart 2005), Liebe bzw. Leidenschaft (Reese-Schäfer 1999; Andersen 2003), Sexualität (Lewandowski 2004) und Kleidung (Bohn 2000). Vor allem mit Blick auf das Massenmediensystem lassen sich zudem regelmäßig Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Erfolgs- und Verbreitungsmedien (Schrift, Buchdruck, Computer, …) beobachten. Entsprechend wird aktuell auch über Internet oder soziale Medien als Funktionssysteme diskutiert.


Als praxisrelevant hat sich vor allem die konzeptionelle Schnittstelle von Funktion und → Organisation erwiesen, die über den Programmbegriff verläuft. Hier zeigt sich, dass organisationale Entscheidungsprogramme mit den Codes aller Funktionssysteme umgehen können. Dabei wurden Organisationen anfangs noch »ihrem« Funktionssystem zugeordnet, also etwa eine Bank der Wirtschaft oder eine → Schule der → Erziehung, was aber die Beobachtung nicht ausschloss, dass sich diese Organi­sationen gewissermaßen durch die Linse ihres primären Funktionssystems »multi-­referent« auf andere Funktionssysteme beziehen können (Tacke 2001). Im Kontrast dazu wurden vor allem im Anschluss an Niels Åkerstrøm Andersen (2003) polyphone oder heterophone Organisationen beobachtet, die sich durch beständig wechselnde Funktionsbezüge ohne stabile Primärorientierung an einem Funktionssystem aus­zeichnen. Galten derartige Organisationsformen hierbei zunächst noch als Sonderfälle, geht eine Reihe von Autoren und Autorinnen mittlerweile davon aus, dass alle Organisationen multifunktional sind und sich durch ihre aktuellen oder historisch wechselhaften Funktionssystempräferenzen charakterisieren lassen (siehe etwa Will et al. 2018; Valentinov et al. 2021).


Auch mit Blick auf umfassendere soziale Systeme lassen sich funktionale Trends, Prä­ferenzen und Verzerrungen beobachten, denen auch Theoriemoden zu ent­spre­chen scheinen. So zeigt sich, dass neben zeitgeistigen Pars-pro-Toto-Gesell­schafts­beschreibungen wie → Informations- oder Risikogesellschaft auch ganze Theo­rie­tra­di­tio­nen mit den Funktionssystempräferenzen bestimmter Epochen oder Regionen der Welt­gesellschaft besser korrespondieren als mit anderen (Roth 2021b).


Zu guter Letzt gilt auch im → Kontext der funktionalen Differenzierung: »Die evolutionäre Diversifikation und Vermehrung der Systeme ist zugleich eine Diversifikation und Vermehrung von Umwelten« (Luhmann 1995, S. 433). Daraus folgt, dass die → Umwelt der Politik nicht die der Religion oder der Wissenschaft sein kann. Bei der alltagssprachlich geläufigen Gleichsetzung von Umwelt mit Natur, dem Umweltkonzept der Naturwissenschaften, handelt es sich demnach um einen folgenreichen intellektuellen Kurzschluss (Roth u. Valentinov 2020).


Verwendete Literatur
Andersen, Nils Å. (2003): Polyphonic organizations. In: Tor Hernes a. Tore Bakken (eds.): Autopoietic organization theory. Drawing on Niklas Luhmann’s social systems perspective. Copenhagen (CBS), pp. 51–182.
Baecker, Dirk (1994): Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. Zeitschrift für Soziologie 23 (2): 93–110.
Bohn, Cornelia (2000): Kleidung als Kommunikationsmedium. Soziale Systeme 6 (1): 111–135.
Burkart, Günter (2005): Die Familie in der Systemtheorie. In: Gunter Runkel (Hrsg.): Funktionssysteme der Gesellschaft. Beiträge zur Systemtheorie Niklas Luhmanns. Wiesbaden (Springer VS), pp. 101–128.
Lewandowski, Sven (2004): Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung. Eine systemtheoretische Analyse. Bielefeld (Transcript).
Luhmann, Niklas (1995) Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Pott, Andreas (2011): Die Raumordnung des Tourismus. Soziale Systeme 17 (2): 255–276.
Reese-Schäfer, Walter (1992): Luhmann zur Einführung. Hamburg (Junius), 3., überarb. Aufl. 1999.
Reichel, André (2012): Civil society as a system. In: Ortwin Renn, André Reichel a. Joa ­Bauer (eds.): Civil society for sustainability. A Guidebook for Connecting Science and So­ciety. Bremen (Europäischer Hochschulverlag), pp. 56–72.
Roth, Steffen (2021a): Draw your organization! A solution-focused theory-method for business school challenges and change. Journal of Organizational Change Management 34 (4): 713–728.
Roth, Steffen (2021b): The great reset of management and organization theory. A European perspective. European Management Journal 39 (5): 538–544.
Roth, Steffen a. Anton Schutz (2015): Ten systems: Toward a canon of function systems. Cybernetics & Human Knowing 22 (4): 11–31.
Roth, Steffen a. Vladislav Valentinov (2020): East of nature. Accounting for the environments of social sciences. Ecological Economics 176: 106734.
Shapin, Steven (1988): The house of experiment in seventeenth-century England. Isis 79 (3): 373–404.
Tacke, Veronika (2001): Funktionale Differenzierung als Schema der Beobachtung. In: dies. (Hrsg.): Organisation und gesellschaftliche Differenzierung. Wiesbaden (Westdeutscher Verlag), S. 141–169.
Valentinov, Vladislav, Steffen Roth a. Ingo Pies (2021): Social goals in the theory of the firm: a systems theory view. Administration & Society 53 (2): 273–304.
Ward, Sean (2003): Honesty and dissimulation in upper-class interaction in early modern France: Madame and the old German sincerity. Seventeenth-Century French Studies 25 (1):
247–258.
Ward, Sean (2005): Madame chats with coquettes: The evolution of early modern theories of conversation. The Seventeenth Century 20 (2): 281–293.
Ward, Sean (2017): From Fontainebleau to Facebook: The early modern discourse of personal sincerity and its echoes in the contemporary discourse of organisational transparency. Systems Research and Behavioral Science 34 (2): 139–147.
Will, Matthias G., Steffen Roth a. Vladislav Valentinov (2018): From nonprofit diversity to organizational multifunctionality: a systems – theoretical proposal. Administration & Society 50 (7): 1015–1036.