Protest

franz. protester = »beteuern, versichern, Einspruch erheben«, von lat. protestari = »öffentlich als Zeuge auftreten, beweisen, dartun«; stellt eine höchst voraussetzungsvolle Sonderform oftmals kollektiv artikulierter → Kommunikation dar, die explizit an bestimmte Personen oder → Organisationen gerichtet ist, deren Verantwortung für bestimmte soziale → Probleme eingefordert wird, so Niklas Luhmann (1991, S. 135). Voraussetzungsvoll ist Protestkommunikation, weil ihr zumeist ein längerer Eskalationsprozess vorausgeht und oft sogar nachfolgt.


So entsteht Protest selten ad hoc und ganz spontan. Vielmehr geht die Manifestation von Protest in der Regel auf das anhaltende Enttäuscht-werden bestimmter → Erwartungen zurück, die zuvor durch gewisse Personen oder Organisationen geweckt wurden, so die Zurechnung der Protestierenden. Die öffentliche Thematisierung solcher Missstände (Erwartungsenttäuschungen) kann dann zur → Konstruktion und Perzeption sozialer Probleme führen, deren → Lösung durch die dafür verantwortlich gemachten Personen oder Organisationen qua Protest eingeklagt wird (Hellmann 1994; 1997).


Völlig variabel ist hierbei, wogegen protestiert wird. Protestanlass kann ebenso der Bau von Windkrafträdern sein wie eine als verfehlt eingeschätzte Migrationspolitik. Was hingegen konstant bleibt, ist die Form des Protestes, d. h., eine Opposition, bei der die protestierende Seite an die Verantwortung einer für diese Probleme verantwortlich gemachten Gegenseite appelliert und von ihr bestimmte Korrekturen verlangt.


Was Protest prinzipiell antreibt und ihn initiiert, ist somit die vorherige Enttäuschung einer bestimmten Erwartung, die einer bestimmten Entscheidung anderer zugerechnet wird, und der Anspruch, diese Entscheidung zu berichtigen oder rückgängig zu machen.


Für den öffentlichkeitswirksamen Protesterfolg sollte es allerdings gelingen, die Perzeption derartiger Problemkonstruktionen von der individuellen auf eine kollektive Ebene zu hieven und dort längerfristig zu aggregieren, ob durch interaktive oder digitale Mobilisierung bewerkstelligt (Lofland 1985). Andernfalls verebbt die erste, zaghaft aufkommende Protestwelle schon im kleinsten Unterstützerkreis gleich wieder und bleibt größtenteils unbemerkt.


Protest tritt häufig als Provokation auf, und Provokation zielt wiederum auf Überraschung, die es ihrerseits darauf anlegt, Erwartungen der Gegenseite zu enttäuschen, deren Normen zu brechen und sie zu reizen. Das Fernziel jeder Provokation ist dann → Konflikt. Dabei appellieren Provokationen nicht nur an die Verantwortung der anderen Seite, sie bewerten sie auch. Dies stärkt die eigene → Identität: Man selbst befindet sich auf der moralisch richtigen Seite, die anderen auf der moralisch falschen. Wobei allein Konfrontation schon Selbstvergewisserung und Selbstvertrauen verschafft. Nicht zuletzt haben Provokationen die Öffentlichkeit im Blick, die von der Rechtmäßigkeit des eingeklagten Anspruchs überzeugt werden soll. Während die Gegenseite damit argumentiert, was gerade Recht ist, reklamiert man auf seiner Seite für sich, was eigentlich rechtens ist.


Dieses Ausspielen der Differenz von Legalität und Legitimität ist sehr verbreitet. Häufig nimmt Protest das Anrecht in Anspruch, moralisch berechtigten Anlass zum Protest zu haben. Protest spielt mit dem Anspruch, legitim zu sein und dafür anerkannt zu werden. Gerade dieser Anspruch auf Legitimität des Anspruchs macht Protest selbstgewiss und selbstwirksam. Dabei wird zumeist auf Werte rekurriert, um den eigenen Ansprüchen legitimen Kredit zu verschaffen. Werte, die sich hierfür besonders eignen, sind solche, denen kaum widersprochen werden kann, wie Freiheit, Frieden, Gleichheit, Gerechtigkeit, Sicherheit. Selbst wenn im Einzelnen etwas ganz anderes darunter verstanden werden mag, würde man sich nachhaltig diskreditieren, äußerte man dagegen abweichende Meinungen.


Insbesondere für den Anspruch auf Legitimität des Anspruchs ist überdies entscheidend, dass der Protest möglichst vor Publikum vorgebracht wird, letztlich mit Blick auf die gesamte Öffentlichkeit. Weiß man diese hinter sich, weiß man sich doppelt im Recht, und es ist für die Gegenseite dann besonders schwer, dagegen noch wirkungsvoll vorzugehen, ohne sich öffentlich ins Unrecht zu setzen. Deshalb birgt gerade der Anspruch auf Legitimität eines solchen Anspruchs, wird er durch die Gegenseite bestritten, Konfliktpotenzial. Denn warum sollte man nachgeben und zurückweichen, wenn man sich im Recht wähnt, zumal dann, wenn davon auszugehen ist, dass man die Öffentlichkeit auf seiner Seite hat? Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, dass gerade dann, wenn der Anspruch auf Legitimität des Anspruchs durch die Gegenseite bestritten wird, der Anspruch dennoch aufrechterhalten wird, besonders hoch, damit aber auch das Konfliktpotenzial. Bevor es aber zum Konflikt kommt, muss der Anspruch von der Gegenseite überhaupt abgelehnt werden.


Auf eine solche Anspruchshaltung in Form von Protest kann nämlich auf zweierlei Weise reagiert werden: Entweder wird ihr nachgegeben oder nicht. Im Falle der Anerkennung des Anspruchs lässt sich die Gegenseite auf den Protest positiv ein; sie kooperiert, nimmt dem Protest damit aber die Initiative aus der Hand. Mit anderen Worten: Der Protest verliert seine Form, da er nicht länger fordern kann, was plötzlich zugestanden wird. Gewiss mögen Meinungsverschiedenheiten darüber fortbestehen, in welcher Form die Forderung en détail zu erfüllen ist. Wird aber nicht grundsätzlich geleugnet, dass man die zugerechnete Verantwortung hat und annimmt, und die Forderung nach Änderung der Entscheidungslage nicht abgelehnt, zerfällt die Form des Protestes tendenziell, weil keine Anschlussfähigkeit mehr besteht. Eine Forderung kann schwerlich aufrechterhalten werden, wenn sie im Grundsatz akzeptiert
wird.


Anders dagegen, wenn die zugewiesene Verantwortung durch die Gegenseite geleugnet wird oder gar, wenn diese die ihr zugewiesene Verantwortung zwar anerkennt, dafür jedoch die fällige Anschlusshandlung zur Änderung der Entscheidungslage unterlässt oder gar verweigert. In diesem Fall wird der Erwartung der Protestierenden, dass der vorgebrachten Forderung Folge geleistet werden muss, nicht entsprochen; vielmehr wird diese Forderung von der Gegenseite, zudem als legitim inszeniert, öffentlich sichtbar bestritten und zurückgewiesen. Und in einem solchen Falle stellt sich wiederum auf der Seite der Protestierenden die Bifurkation von Nachgeben oder Dagegenhalten: Entweder wird der eigene Anspruch wegen der Ablehnung der Gegenseite aufgegeben. Damit wird der Anspruch zwar nicht gegenstandslos, weil er erfüllt ist, sondern weil er zurückgezogen wird, sei es aus Einsicht oder Erschöpfung. Somit findet der Protest ein Ende, weil man sich mit der Ablehnung des eigenen Anspruchs abfindet. Anders, wenn der eigene Anspruch trotz Ablehnung durch die Gegenseite weiter aufrechterhalten bleibt. Dann kommt es zu einer Festigung und Steigerung der Protestwelle, wodurch sich die Konfliktdynamik weiter entfalten und zu noch größer werdender Mobilisierung führen kann.


Beobachtet man Protest nicht aus der Binnenperspektive, sondern von der gesellschaftlichen Ebene, verbindet sich mit ihm immer die Chance auf soziale Evolution. Denn Protest bedeutet Negation des Status quo, und jede Negation, so Luhmann (1981), birgt das Potenzial, im Sinne einer Variation des Bestehenden Veränderung zu initiieren und damit sozialen Wandel anzustoßen. Dies gilt in besonderem Maße für das politische → System und gerade für Demokratien, die es auf maximal durchlässige Offenheit für aus der Zivilgesellschaft vorgebrachte Ansprüche anlegen (Hellmann 2003).


Allerdings kann ein Überhandnehmen von Protestereignissen auch zu deren Inflation führen, weil der ständig sich überbietende Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit irgendwann an Grenzen der individuellen Aufnahmebereitschaft stoßen kann. Dann herrscht nur noch Verdrängungswettbewerb ohne jede Nachhaltigkeit, unaufhörliches Protestflackern, gleichsam ein außer Kontrolle geratendes Proteststroboskop, das selbst zum Normalbetrieb deformiert und weitestgehend folgenlos bleibt, weil jede Selektivität verloren geht.


Verwendete Literatur
Hellmann, Kai-Uwe (1994): Zur Eigendynamik sozialer Probleme. Soziale Probleme 5 (3/4): 144–167.
Hellmann, Kai-Uwe (1997): Protest: Eine andere Politik der Unterscheidung. In: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Oktober 1996 in Dresden. Band 2: Sektionen, Arbeitsgruppen, Foren, Fedor-Stepun-Tagung. Wiesbaden (Westdeutscher Verlag), S. 423–427.
Hellmann, Kai-Uwe (2003): Demokratie und Evolution. In: Kai-Uwe Hellmann, Karsten Fischer u. Harald Bluhm (Hrsg.): Das System der Politik. Niklas Luhmanns politische Theorie. Wies­baden (Westdeutscher Verlag), S. 179–212.
Lofland, John (1985): Protest studies of collective behavior and social movements. News Brunswick/London (Transaction Publishers).
Luhmann, Niklas (1981): Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen. In: ders. (Hrsg.): Soziologische Aufklärung. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Wiesbaden (Westdeutscher Verlag), S. 35–49.
Luhmann, Niklas (1991): Soziologie des Risikos. Berlin (de Gruyter).


Weiterführende Literatur
Hellmann, Kai-Uwe (1996). Systemtheorie und neue soziale Bewegungen. Identitätsprobleme in der Risikogesellschaft. Wiesbaden (Westdeutscher Verlag).
Luhmann, Niklas (1996): Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen. Herausgegeben von Kai-Uwe Hellmann. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).