Gefühl

engl. feeling, franz. sensation f. Über das Gefühl sachhaltig zu schreiben ist schon deshalb nicht einfach, weil mit dem Wort reflexartig selbst Gefühle verbunden werden. Es gehört in das moderne Zeitkolorit, Gefühle nicht nur haben zu müssen, sondern sie auch mitteilen zu dürfen und zu sollen – als unbestreitbare Argumente, die gelten, auch wenn sie nicht gelten. Diese Unanfechtbarkeit setzt zwingend voraus, dass Gefühle existieren. Sie sind wie Blutzirkulation, → Körperfett, wie das Gehirn: einfach da. Jeder und jede kann sich schließlich im Binnenkontakt davon überzeugen, dass er oder sie distinkte Gefühle hat. Allerdings ist die Bedingung der Möglichkeit dieser psychischen (→ Psyche) und sozialen → Evidenz geknüpft an ontologische bzw. ontologisierende Perspektiven, die wie Impedimenta (Last, Gepäck), also Erkenntnisblockaden, wirken. Sie erzeugen Tautologien der Art: »A rose is a rose is a rose …« Aber anders als diese Formulierung, die noch ästhetisch faszinieren kann, ist »Gefühl ist Gefühl ist Gefühl …« epistemologisch wenig instruktiv. Der einzige Ausweg ist dann hier wie immer die Strategie einer De-Ontologisierung. Sie fragt nicht nach dem Sein des Gedächtnisses, nicht nach seinem Wesen oder seiner Quintessenz, sondern nur danach, wie das, was der Ausdruck nennt, funktional bestimmt werden kann.
Psychische → Systeme sind basal wahrnehmungsgrundierte Systeme. Wenn sie via → Sozialisation sinnerschlossen (→ Sinn) operieren, differenzieren sie Subsysteme aus wie etwa das Bewusstsein und das Selbst, die eine dezidierte Operativität »fahren«. Sie sind, soll das heißen, wesentlich sprachorientierte Einheiten im Medium der Wahrnehmung, in das sie eine eigentümliche System-Umwelt-Differenz (→ Umwelt) einschreiben, im Falle des Bewusstseins, auf das wir uns hier konzentrieren, die Differenz zwischen Wahrnehmungskompaktheit und Digitalität. Wahrnehmungen sind immer »dicht« oder »massiv« und in gewisser Weise: vollständig an ihren Zeitstellen. Halluzinationen beispielsweise sind nicht falsche, sondern immer durch und durch richtige Wahrnehmungen, während sie sich ereignen. Sobald jedoch Bewusstsein im Spiel ist, macht sich der Einfluss einer von Lücken durchschossenen Sprache bemerkbar. Die Operativität dieses Systems gleicht einer »Springprozession« über den broad stream of perception oder, nüchterner: Bewusste Operationen nehmen Wahrnehmungen nie komplett in Anspruch. Ebendiese Differenz kann als Anhaltspunkt für die de-ontologisierende → Konstruktion der → Funktion von Gefühlen
dienen.
Zunächst sind sprachbasierte Kognitionen, die das Bewusstsein konstituieren, verglichen mit kompakter Wahrnehmung: »asketisch«. Sie reduzieren die → Komplexität der Wahrnehmung, die Fülle des Erlebens von Wahrnehmungen, auf das, was sich sprachlich sagen lässt. Genau in diesem Sinne ist → Liebe – nur ein Wort. Anders ausgedrückt: Das Bewusstsein ist eine → Informationsraffungsmaschine. Es ist eingestellt darauf, eine, gemessen am Wahrnehmungsreichtum, »verarmte« und deswegen praktikable Welt zu inszenieren. Die These ist, dass der Verlust mitregistriert werden kann als ein »Mangel« des bewussten Weltkontaktes, aber auch (in der Moderne) als Unfähigkeit, die eigene Einzigartigkeit, die als Individualität (→ Individuum) »gesollt« ist, in einem nicht privaten Medium (Sprache) zu artikulieren. Diese doppelte Insuffizienz liefert die → Problemkonstruktion, als deren → Lösung die Referenz auf Körperzustände gedeutet werden kann. In spitzer Formulierung: Gefühle sind beobachtete Körperzustände. Wenn man mit der Systemtheorie Beobachten als Operation des Unterscheidens und Bezeichnens auffasst, geht es um unterschiedene und bezeichnete Körperzustände. Dies bedeutet vor allem, dass die → Beobachtung von Körperzuständen als Gefühlen nicht angeboren, sondern erlernt wird. Evolutionär ist ein sozialer Thesaurus von Gefühlsunterscheidungen entstanden, der in seiner Fülle unauslotbar scheint.
Wie im Nebeneffekt kann die Beobachtung von Körperzuständen zusätzlich instrumentalisiert werden: als symbiotischer Mechanismus des Bewusstseins. Die zentrale → Krise jedes Sinnsystems ist der drohende Verlust von Anschlüssen, ein Verlust, der das Ende ihrer → Autopoiesis bedeuten würde, z. B. im Falle des Bewusstseins die Unmöglichkeit, zu einem weiteren Gedanken zu kommen. Dieser Drohung lässt sich begegnen dadurch, dass auf Körperzustände referiert wird, die – eben als Gefühle hinbeobachtet – eine Art von umwegiger Fortsetzung ermöglichen, das »Weitermachen« auf der Basis jener Referenz. Es fügt sich, wie hier nur angemerkt werden kann, dass zumindest → Interaktionssysteme, die sich in der Zone wechselseitiger Wahrnehmbarkeit ihrer relevanten Umwelt (der Leute) konfigurieren, ihrerseits auf sichtbare Körperzustände reagieren: »Sie sind ganz rot im Gesicht!« Oder: »Ihre Hände zittern ja!« Oder: »Ich sehe doch, dass Sie Angst haben!« etc. Solche sozialen Anschlüsse alarmieren und inzitieren das Bewusstsein zusätzlich durch den kommunikativen Zwang, etwas erwidern zu müssen.
Wie eingangs erwähnt, hat das »Haben« und hat das »Mitteilen von Gefühlen« in der funktional differenzierten → Gesellschaft eine hohe Prominenz erworben. Es ist erstaunlich, dass in einer hochtechnisierten und durchorganisierten Welt die Referenz auf Gefühle so alltäglich, so selbstverständlich geworden ist. Gefühl ist, um Goethe despektierlich zu zitieren, nicht nur »alles« – es ist allenthalben. Eine hier nur hintuschbare Erklärung greift den Gedanken des gefühlstechnischen Krisenmanagements (→ Management) erneut auf. Die heuristische Überlegung ist, dass der Boom der Gefühle und Gefühligkeiten sich einer (gleichsam Dauernormalität gewordenen) Krise verdankt, einem Epiphänomen der funktionalen Differenzierung, nämlich dem Verlust jeder eineindeutigen ontologischen Gewissheit. Was immer in dieser Gesellschaft gesagt, geschrieben, beobachtet wird, ist anders sagbar, kann anders geschrieben, kann gegenbeobachtet werden. Sie ist »durchschüttet« mit → Kontingenz, gegen die dann etwa (ebenfalls gefühlsbetonte) Fundamentalismen aufgeboten werden. Gefühle als beobachtete Körperzustände ziehen psychisch wie sozial inviolate levels ein, Negations- und Reflexionsblockaden, die Kontingenz nicht durchlassen. Sie schaffen und begründen fungierende Ontologien, die Unabweisbarkeiten installieren: Wir haben Gefühle, wir sind! – Und über Gefühle lässt sich unaufhörlich → Kommunikation betreiben.
Abschließend kann man noch eine offene → Forschungsperspektive nennen. Das Reden über Gefühle setzt an beobachteten Körperzuständen an und wird deswegen mit psychischen Systemen assoziiert. Die Frage ist dann, ob sich ein funktionales Äquivalent für das, was wir Gefühle nennen, auch sozial ausgemendelt hat, also unter der Bedingung, dass weder Wahrnehmungen noch Kognitionen mögliche Operationen für → Sozialsysteme sind. Sie fühlen, sie denken: nichts. Ihre Operationen sind einzig und allein Kommunikationen, die sich selbst nicht spüren können. Jenes funktionale Äquivalent kann demnach nur in der operativen Elementartriade »Information, Mitteilung und → Verstehen« bewerkstelligt werden. Wenn man die psychische Beobachtung von Körperzuständen als spezielle Weise der → Selbstreferenz auffasst, müsste man im Blick auf jene Triade die Selbstreferenz von Kommunikation als Referenz auf die Mitteilungsselektion begreifen, mit der Sozialsysteme sich die Möglichkeit zur Selbstnotifikation verschaffen. Abstrakt genommen, ist dann das soziale Äquivalent für Gefühle die Selektivitätsverstärkung der Mitteilung, die – wenn in diesem Prozess die Information, also die Fremdreferenz, minimiert wird – selbst als Information über die Unmöglichkeit von gleichsam gediegener Information behandelt wird und darüber die Kommunikation fortsetzbar hält. Anders wären, um Beispiele anzudeuten, religiöse → Rituale nicht möglich, aber auch nicht Intimsysteme oder komplexe Betreuungssysteme, die damit fertigwerden sollen, dass sie Mitteilungen daraufhin abtasten müssen, wie sie als Informationen zur Weiterführung komplexer Kommunikation strukturbildend ausgenutzt werden können.
Verwendete Literatur
Fuchs, Peter (2004): Wer hat wozu und wieso überhaupt Gefühle? Soziale Systeme 10 (1): 89–110.
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Weiterführende Literatur
Fuchs, Peter (2005): Die Psyche. Studien zur Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Weilerswist (Velbrück).
Fuchs, Peter (2010): Das System SELBST. Eine Studie zur Frage: Wer liebt wen, wenn jemand sagt: »Ich liebe Dich!«? Weilerswist (Velbrück).