Elternschaft

Neologismus aus dem 20. Jahrhundert, engl. parenthood, franz. parentalité f. Jedes → Kind hat Mutter und Vater als biologische Eltern, welche ab der Geburt die Elternschaft wahrnehmen. Die das Kind de facto versorgenden und erziehenden → Personen (→ Erziehung) können aber auch andere Personen sein, die sozialen Eltern. Dies können auch Personen einer Großfamilie (→ Familie) oder → Gruppe sein. Neben einer biologisch-evolutionären Komponente, welche die Bindung an das Kind und somit seine überlebenswichtige physische und psychische Versorgung sichert (vgl. Chasiotis 2008), sehen viele Autoren und Autorinnen in der Elternschaft einen besonderen psychischen Zustand. Stern (2006) spricht von der Mutterschafts- und äquivalent auch Vaterschaftskonstellation. Er versteht darunter eine neu entstehende intrapsychische Organisationsstruktur als spezifische Reaktion auf die Schwangerschaft und das Baby als neuen Teil ihres → Systems. Diese Konstellationen sind allerdings nur in kulturellen (→ Kultur) → Kontexten zu erwarten (→ Erwartung), in denen der Mutter oder dem Vater eine zentrale Stellung eingeräumt wird, wie z. B. in westlichen Industrienationen. In weiten Teilen der Welt findet Elternschaft in komplexen (→ Komplexität) Systemen von Großfamilien und Dorfgemeinschaften statt, in denen viele Personen (Großeltern, Geschwister, Tanten, Nachbarn etc.) Verantwortung für die Kinder übernehmen. Die dort vorherrschenden Vorstellungen und Handlungsroutinen bezüglich Elternschaft unterscheiden sich deutlich von den westlichen (Keller 2007). Kulturelle und subkulturelle Einflüsse wirken aber ebenso auf verschiedene Familienformen innerhalb einer → Gesellschaft. Insbesondere in sogenannten nichttraditionellen Familienformen sind die konstituierenden intra- und interpsychischen Charakteristika oftmals sehr spezifisch organisiert (z. B. Alleinerziehenden-, Stief- oder auch gleichgeschlechtliche Familien; vgl. Funcke u. Hildenbrand 2009). Jahrzehntelang wurden in der Psychologie vor allem die Mutter und ihre Bedeutung für die Familie thematisiert. Erst seit den 1980er-Jahren wurden dort auch die Väter interessant, wobei aktuell ein deutlicher Anstieg ihrer Popularität zu verzeichnen ist (z. B. Machin 2020; Walter u. Eickhorst 2012). Im systemischen Feld gibt es bis dato erst wenige einschlägige Werke über Väter und die Anforderungen an Therapie und Beratung mit ihnen (z. B. Eickhorst u. Röhrbein 2016, S. 6).
Ein spezifischer systemischer Ansatz überwindet dyadische Denkmuster von Elternschaft hin zu einer Betrachtung der gemeinsamen primären → Triade aus Vater, Mutter und Kind als gleichzeitig agierendem und Bedeutung generierendem System (Fivaz-Depeursinge u. Corboz-Warnery 2001). Beim gemeinsamen Spiel mit dem Kind gewinnt die Zusammenarbeit als Eltern große Bedeutung und wird als Co-Parenting beschrieben, worunter Verhaltensweisen wie etwa Solidarität, Konkurrenzverhalten oder unterstützendes Engagement zählen (McHale et al. 2000). Eltern haben in der systemischen → Therapie von Anbeginn an eine wichtige Bedeutung gehabt, wobei zunächst häufig ihre (potenziell pathogene) Wirkung und weniger die Hilfsbedürftigkeit der elterlichen Dyade gesehen wurde. Inzwischen existiert erfreulicherweise eine Reihe von therapeutischen Ansätzen für Eltern in verschiedenen Lebensabschnitten. Dabei wird der Blick insbesondere auf die → Beziehungsmuster gelegt (vgl. Eickhorst u. Röhrbein 2019). Dies beginnt in der frühesten Kindheit bei den dort häufig anzutreffenden Regulationsschwierigkeiten der Säuglinge. Aus systemischer Sicht werden diese vor allem als ein kommunikatives und interaktives → Problem der Passung von Eltern und Kind betrachtet, welches durch Veränderungen von Mustern auf beiden Seiten beeinflussbar ist. Hierfür bieten sich viele Techniken der Familientherapie an (→ Genogramm; Video-Feedback, Familienpicknick etc.; Überblick in Borke u. Eickhorst 2008). In der weiteren Kindheit sind vor allem Ansätze systemischen → Coachings mittels Videofeedback populär, etwa das Konzept »Marte Meo« (lat. marte meo = »aus eigener Kraft«) (Hawellek u. von Schlippe 2005). Im Jugendalter herrschen dann oft andere Themen vor; so kann es hier z. B. um Abgrenzung (→ Individuation) und → Identitätsfindung (der Kinder) und um Loslassen und Neuorientierung (der Eltern) gehen. → Interventionen finden vor allem im Rahmen des sogenannten Elterncoachings statt, bei welchem die Eltern Anleitung bekommen, wie sie durch cleveres, wertschätzendes und gewaltfreies Aufzeigen von elterlicher Präsenz → Konflikte auflösen können (z. B. Tsirigotis et al.
2006).
Verwendete Literatur
Borke, Jörn u. Andreas Eickhorst (2008): Grundsätze einer systemisch-entwicklungspsychologischen Beratungsarbeit. In: dies. (Hrsg.): Systemische Entwicklungsberatung in der frühen Kindheit. Wien (Facultas/UTB), S. 15–19.
Chasiotis, Athanasios (2008): Zur Evolutionspsychologie der ersten drei Lebensjahre: Theoretische Grundlagen, empirische Befunde und praktische Konsequenzen. In: Jörn Borke u. Andreas Eickhorst (Hrsg.): Systemische Entwicklungsberatung in der frühen Kindheit. Wien (Facultas/UTB), S. 60–83.
Eickhorst, Andreas u. Ansgar Röhrbein (Hrsg.) (2016): Wir freuen uns, dass Sie da sind. Beratung und Therapie mit Vätern. Heidelberg (Carl-Auer).
Eickhorst, Andreas u. Ansgar Röhrbein (Hrsg.) (2019): Systemische Methoden in Familienberatung und -therapie. Was passt in unterschiedlichen Lebensphasen und Kontexten? Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).
Fivaz-Depeursinge, Elisabeth u. Antoinette Corboz-Warnery (2001): Das primäre Dreieck. Vater, Mutter und Kind aus entwicklungstheoretisch-systemischer Sicht. Heidelberg (Carl-Auer).
Funcke, Dorret u. Bruno Hildenbrand (2009): Unkonventionelle Familien in Beratung und Therapie. Heidelberg (Carl-Auer).
Hawellek, Christian u. Arist von Schlippe (Hrsg.) (2005): Entwicklung unterstützen – Unterstützung entwickeln. Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).
Keller, Heidi (2007): Cultures of Infancy. Mahwah (Erlbaum).
Machin, Anna (2020): Papa werden. Die Entstehung des modernen Vaters. München (Antje Kunstmann).
McHale, James P. P., Regina Kuersten-Hogan, Allison Lauretti a. Jeffrey L. Rasmussen (2000): Parental reports of coparenting and observed coparenting behavior during the toddler period. Journal of Family Psychology 14: 220–236.
Meyers, Mimi, Margot Weinshel, Constance Scharf, David Kezur, Ronny Diamond a. Douglas Rait (1995): An infertility primer for family therapists II: Working with couples who struggle with infertility. Family Process 34: 231–240.
Röhrbein, Ansgar (2010): Mit Lust und Liebe Vater sein. Gestalte die Rolle deines Lebens. Heidelberg (Carl-Auer).
Stern, Daniel N. (2006): Die Mutterschaftskonstellation – Eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-Psychotherapie. Stuttgart (Klett-Cotta).
Tsirigotis, Cornelia, Arist von Schlippe u. Jochen Schweizer-Rothers (Hrsg.) (2006): Coaching für Eltern. Mütter, Väter und ihr »Job«. Heidelberg (Carl-Auer).
Walter, Heinz u. Andreas Eickhorst (2012): Das Väterhandbuch. Frankfurt a. M. (Psychosozial).
Weiterführende Literatur
Borke, Jörn u. Andreas Eickhorst (Hrsg.) (2008): Systemische Entwicklungsberatung in der frühen Kindheit. Wien (Facultas/UTB).