Viabilität

engl. viability, franz. viabilité f; bedeutet so viel wie »gangbar« (wörtlich) oder »passend«, »brauchbar«, »tauglich«, »erfolgreich« oder »funktional«. Entsprechend bezeichnet Viabilität die »Gangbarkeit« oder »Brauchbarkeit«, die »Tauglichkeit«, »Erfolgswahrscheinlichkeit« oder »Funktionalität« eines Weges, den man einschlägt, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Da es systemisch-konstruktivistisch (System) um die Viabilität von kognitiven Konstrukten geht, d. h. von Annahmen, Theorien oder Modellen über die Wirklichkeit, beschreibt der Begriff eine Relation zwischen Konstrukten und Erfolgserfahrungen. Evolutionstheoretisch wurde der Begriff für die Überlebensfähigkeit von Arten benutzt. Angenommen wurde, dass Arten dann überlebensfähig sind, wenn sie an eine bestimmte Realität (Humberto Maturanas »Nische«) angepasst sind. Ernst von Glasersfeld, der den Begriff der Viabilität im Anschluss an seine Auslegung der genetischen Epistemologie von Jean Piaget in das radikalkonstruktivistische Denken eingeführt hat, transformiert ihn von der Evolutionstheorie der Arten zu einer Evolutionstheorie des subjektiven Wissens. Allerdings ist der Maßstab hier nicht mehr das existenzielle Überleben (nur ausnahmsweise), sondern die Fähigkeit, ein subjektiv wahrgenommenes Problem zu lösen. Zu unterscheiden ist der erkenntnistheoretische Begriff der Viabilität vom Begriff der »kulturellen Viabilität«, der in zweierlei Bedeutung verwendet wird. Im »interaktionistischen Konstruktivismus« (Interaktion) von Kersten Reich bedeutet kulturelle Viabilität das soziokulturell determinierte »Zusammenpassen« von Menschen in Beziehungen (vgl. Reich 1998, S. 54 f.); kulturtheoretisch bezeichnet kulturelle Viabilität die Fähigkeit einer Kultur, ihre Funktionen dauerhaft zu erfüllen. Der Begriff ist darüber hinaus in den Naturwissenschaften im Sinne von »Überlebensfähigkeit« gebräuchlich.


Im erkenntnistheoretischen Verständnis von Viabilität ist der Ausgangspunkt für von Glasersfeld die Frage nach der Funktion von Wissen. Er stellt fest:


»Ganz allgemein ist unser Wissen brauchbar, relevant, lebensfähig, wenn es der Erfahrungswelt standhält und uns befähigt, Vorhersagen zu machen und gewisse Phänomene zu bewerkstelligen oder zu verhindern.« (von Glasersfeld 1985, S. 22)


Viabel sind Begriffe und Denkstrukturen, wenn sich die gemachten Erfahrungen konfliktfrei in sie integrieren lassen – im Sinne des piagetschen Begriffes der Assimilation (vgl. Piaget 1937) – und wir sie im Gedächtnis bewahren. Die Assimilierbarkeit von Erfahrungen an schon vorhandene Begriffe und Denkstrukturen, die Auffassung von etwas Neuem als etwas Bekanntem (vgl. von Glasersfeld 1995, S. 113), hat den Charakter einer Bestätigung, dass die Sicht der Dinge »richtig« ist. Hingegen zwingt der ausbleibende Erfolg zu einer neuen Auffassung des Wahrgenommenen, zu neuen, »viablen« Begriffen oder zur Änderung von Denkstrukturen. Dieser Prozess entspricht dem piagetschen Terminus der Akkomodation. Durch beide Prozesse gelingt es dem Organismus bzw. dem Nervensystem, Perturbation zu kompensieren und ein Gleichgewicht wiederherzustellen (»Äquilibration«, vgl. Piaget 1983, S. 12). Viabel können freilich nicht nur Begriffe und Denkstrukturen sein, sondern auch organismische Strukturen, Handlungsweisen, Wahrnehmungsroutinen, Lernvorgänge, kurzum alle Strukturen und Prozesse, die der Autopoiesis unterworfen sind.


Der Begriff der Viabilität ersetzt im radikalkonstruktivistischen Konzept von von Glasersfeld den konventionellen Begriff »Wahrheit«. Viabilität rückt damit in die Nähe des pragmatistischen Wahrheitsbegriffs nach William James und John Dewey (sinngemäß: »Wahr ist, was sich praktisch bewährt«) bzw. – wie von Glasersfeld darstellt – in die Nähe von Giambattista Vicos »Verum ipsum factum« (vgl. von Glasersfeld 1985, S. 26 f.). Da es dem konstruktivistischen Denken entsprechend keine Objektivität von Wahrheit(en), d. h. keine überprüfbare Übereinstimmung von Konstrukt und Realität, geben kann, vielmehr die »Bewährung« von alltäglichen (Alltag) oder auch wissenschaftlichen Annahmen auf subjektiver Erfahrung beruht, muss auch die Attribution von Tauglichkeit ins Ermessen des Subjekts gestellt sein. Mit dem Begriff der Viabilität verbindet sich – im Gegensatz zum korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff – eine Relativierung des Ausschlusspostulats (»Es gibt nur eine Wahrheit«): Der Begriff erkennt an, dass es neben einem bestimmten, durch das Subjekt genutzten Weg zur Lösung des Problems auch andere, ebenbürtige Wege geben kann. Zugleich verbindet die Vorstellung von viablen Lösungen Konstrukte mit den Gegebenheiten der Realität; denn in der Auseinandersetzung mit der Realität wird sich zeigen, ob ein Konstrukt erfolgreich ist oder nicht. Die Viabilität eines Konstruktes wird in dieser Hinsicht in seiner Anwendung bei einer Handlung geprüft. Daneben kann es aber auch eine Prüfung der Viabilität durch Gedankenexperimente geben, in der weitere Prüfkriterien zur Anwendung kommen, wie sie etwa aus der Wissenschaftstheorie bekannt sind (»Viabilität 2. Ordnung«): logische Widerspruchsfreiheit, Modellstabilität (Vereinbarkeit mit bisherigen Erfahrungen), Konsistenz (Vereinbarkeit von Konstrukten miteinander) und Konsensualität (Vereinbarkeit mit den sprachlichen Repräsentationen anderer) (vgl. von Glasersfeld 1994, S. 34 f.; 1998, S. 560 f.). Die praktischen Folgerungen, die mit dem Viabilitätskonstrukt verbunden sind, sind vornehmlich perspektivischer Natur.


1) Anerkennung der Pluralität möglicher Lösungen: Für einen systemisch orientierten Umgang miteinander ist die im Begriff der Viabilität implizierte Pluralität von Lösungen ein Anlass zu einer offenen, toleranten Haltung dem anderen gegenüber. Damit ist nicht nur eine Abkehr von der Arroganz der »wahren«, »besten« oder gar »einzigen Lösung« induziert (vgl. Kraus 2002, S. 160), sondern auch eine Haltung der »Fehlerfreundlichkeit«: Um Lösungen oder bessere Lösungen für ein Problem zu finden, bedarf es des Ausprobierens und der Variation. Die Anerkennung der Pluralität möglicher Lösungen steigert auch das Vertrauen in die schöpferische Kraft des Subjekts. Entsprechend bedarf es einer Zurückhaltung bei der Führung anderer bei ihrer Wissenskreation und einer Haltung der »pädagogischen Gelassenheit« (Arnold u. Schüßler 1998, S. 80).


2) Förderung viabler Alternativen: Manchmal sind die gefundenen Lösungen selbst ein Problem und verstellen den Blick darauf, dass es bessere Alternativen geben kann. Entsprechend dem »ethischen Imperativ« von Heinz von Foerster (»Handle stets so, dass weitere Möglichkeiten entstehen«), gilt es daher insbesondere in therapeutischen (Therapie), pädagogischen (Erziehung) und sozialarbeiterischen Settings, Bedingungen zu schaffen, die die Suche nach alternativen Lösungen provozieren.


3) Beachtung der Kontext- und Systemabhängigkeit: Wenn sich Lösungen an der Realität zu bewähren haben, dann muss auch konzediert werden, dass ihre Viabilität von der jeweils gegebenen Realität abhängig ist. Ob sich ein Konstrukt als problemlösend bewährt, hängt wesentlich vom Kontext ab. Veränderungen in der Realität können viable Lösungen unbrauchbar machen. Das gilt auch für einen Wechsel im Bezugssystem: Konstrukte und Handlungsweisen, die in einem Bezugssystem (z. B. in der Familie) erfolgreich sind, können in einem anderen Bezugssystem (z. B. am Arbeitsplatz) untauglich sein.


4) Prüfung der Anschlussfähigkeit: Individuelle Lösungen haben sich in den Kontexten subjektiver Lebensgeschichte bewährt. Dies gilt freilich auch für sozial abweichende oder aus der Sicht externer Beobachter schwer nachvollziehbare Verhaltensformen oder Denkweisen. Im Sinne einer Orientierung an der Lebenswelt von Klienten sind von Professionellen aber deren individuelle (Individuum) Lösungen als Formen des Bewältigungshandelns zu akzeptieren bzw. zumindest zum Ausgangspunkt des Kommentierens zu nehmen. Grundsätzlich haben Professionelle, die pädagogisch oder therapeutisch auf ihre Klientel Einfluss nehmen, zu bedenken, ob die von ihnen provozierten Lösungen auch in den Lebenskontexten der Klientel viabel sein können.


Verwendete Literatur


Arnold, Rolf u. Ingeborg Schüßler (1998): Wandel der Lernkulturen. Ideen und Bausteine für ein lebendiges Lernen. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft).


Glasersfeld, Ernst von (1985): Einführung in den Radikalen Konstruktivismus. In: Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München (Piper), S. 16–38.


Glasersfeld, Ernst von (1994): Piagets konstruktivistisches Modell: Wissen und Lernen. In: Gebhard Rusch u. Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Piaget und der Radikale Konstruktivismus. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 16–42.


Glasersfeld, Ernst von (1995): Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Glasersfeld, Ernst von (1998): Die radikal-konstruktivistische Wissenschaftstheorie. Ethik und Sozialwissenschaften 4: 503–511.


Kraus, Björn (2002): Konstruktion, Kommunikation, Soziale Arbeit. Radikalkonstruktivistische Betrachtungen zu den Bedingungen des sozialpädagogischen Interaktionsverhältnisses. Heidelberg (Carl-Auer).


Piaget, Jean (1937): Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde. Gesammelte Werke. Bd. 2. Stuttgart (Klett).


Piaget, Jean (1983): Biologie der Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen. Frankfurt a. M. (Fischer).


Reich, Kersten (1998): Die Ordnung der Blicke. Perspektiven des interaktionistischen Konstruktivismus. Bd. 2: Beziehung und Lebenswelt. Neuwied/ Kriftel/Berlin (Luchterhand).


Weiterführende Literatur


Glasersfeld, Ernst von (1987): Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus. Braunschweig/Wiesbaden (Vieweg).


Glasersfeld, Ernst von (1996): Über Grenzen des Begreifens. Bern (Benteli).


Glasersfeld, Ernst von (1997): Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken. Heidelberg (Carl-Auer), 2. Aufl.


Reich, Kersten (2008): Fragen zur Bestimmung des Fremden im Konstruktivismus. In: Stefan Neubert, Hans-Joachim Roth u. Erol Yildiz (Hrsg.): Multikulturalität in der Diskussion. Neuere Beiträge zu einem umstrittenen Konzept. Wiesbaden (VS), 2. Aufl., S. 177–197.