Intervention

engl. intervention of treatment techniques, franz. auch application f, von lat. intervenire = »dazwischenkommen, dazwischentreten«. Unter einer Intervention wird üblicherweise die Durchführung einer bestimmten Maßnahme oder die Anwendung eines Programms auf ein zu veränderndes → System (z. B. ein → Individuum, eine → Familie, ein Team oder eine → Organisation) verstanden, womit eine bestimmte Zustands-, Verhaltens- oder Strukturänderung beabsichtigt ist. Interventionen werden also zweckgerichtet durchgeführt und sollen bestimmte Effekte erzielen (→ Ziel). Unterstellt wird eine bestimmte Regelhaftigkeit zwischen Input (der Durchführung einer Intervention) und Output (dem Erzielen eines Effekts; → Evaluation), wenngleich in den seltensten Fällen eine gesicherte und z. B. in Modellrechnungen oder Computersimulationen getestete Theorie für die Wirkung einer Intervention in Anspruch genommen werden kann. Häufig handelt es sich um Versuch und Irrtum oder um Erfahrungswissen, welchem »technologische Regeln« zugrunde gelegt werden. Interventionen können unterschiedlich lange dauern und unterschiedlich aufwendig sein, d. h., auch eine kleine Bemerkung, eine Deutung oder der Wechsel zwischen Sitzpositionen, z. B. in einem → Therapiegespräch, können als Mikrointerventionen gelten (Orlinsky, Ronnestad a. Willutzki 2004).
»Interventionen« sind in der Psychotherapie weitgehend synonym mit »Behandlungstechniken« oder bestehen im Einsatz solcher Techniken. Im Rahmen des »medizinischen« oder »Standardmodells« (Schiepek 2008; Wampold et al. 2018) kommt ihnen ein zentraler Stellenwert zu – sie sind gewissermaßen das Verum im Unterschied zum Placebo, sie sind die zentrale Ursache für den Therapie- oder → Beratungserfolg, sie lassen sich nach ihrer Effektivität beurteilen, und sie machen den Kern von Therapie- oder Beratungsansätzen aus. Der Großteil aller bisher zur Wirkung von Psychotherapie durchgeführten Untersuchungen (mit und ohne Kontrollgruppen und Vergleichsbedingungen) fokussierte auf die Wirkung von Interventionen und Techniken, und all diese Studien beschreiben die Effekte aus der Perspektive der eingesetzten Methoden und Interventionen.
Trotz der übermächtigen Dominanz dieser linearen »Erzählung« haben Jahrzehnte von Psychotherapieforschung (→ Forschung) (im Bereich von Beratung und → Coaching stehen vergleichbare Daten noch aus) zu einer erheblichen Relativierung der Rolle von Interventionen und technikbezogenen Variablen geführt. Ihr Anteil an der Ergebnisvarianz wurde in verschiedenen Metaanalysen als eher gering eingestuft, verglichen mit z. B. Therapeuten- und Therapeutinnenvariablen, unspezifischen Variablen (common factors) wie Unterstützung, Einfühlung, Ermutigung, Settingvariablen und insbesondere mit den Merkmalen des Klienten oder der Klientin selbst, etwa seiner eingebrachten Kompetenz oder seiner intrinsischen Veränderungsmotivation (Bohart a. Tallman 1999; Clarkin a. Levy 2004; Norcross 1999; Lambert a. Ogles 1971; Wampold 2015; Wampold et al. 2018). Hinzu kommen Befunde zu spontanen und diskontinuierlichen Veränderungen in der Symptomatik oder anderen Zielgrößen einer Psychotherapie, noch bevor entsprechende Interventionen durchgeführt wurden, welche auf die Zielgrößen (z. B. »dysfunktionale« Kognitionen) einen Einfluss haben könnten oder sollten (z. B. Heinzel, Tominschek a. Schiepek 2014; Schiepek, Tominschek a. Heinzel 2014; Stiles et al. 2003; Stulz et al. 2007). Und schließlich können auch die Befunde zur Wirksamkeit von Laientherapeuten und -therapeutinnen – sie erwiesen sich in direkten Vergleichen den professionellen Therapeuten und Therapeutinnen hinsichtlich ihrer Effektivität als durchaus ebenbürtig (Hattie et al. 1984; Gunzelmann et al. 1987) – als Beitrag zum Zweifel an der Bedeutung von Behandlungstechniken und Interventionen gelesen werden, denn Laien verfügen offensichtlich nicht über spezifische Behandlungstechniken.
Was die Rolle von Interventionen in Psychotherapie, Beratung oder Coaching betrifft, so ist möglicherweise ein Umdenken notwendig. Vielleicht können wir hier eine Analogie zur Quantenphysik herstellen. Sowie zumindest in der »Kopenhagener Deutung« zunächst nur potenzielle Quantenzustände erst durch den Kontakt mit einer Messapparatur zu einem realen, d. h., in den Größen der klassischen Physik ausdrückbaren und damit manifesten Ereignis werden (Heisenberg 1979), so ist es auch mit den Interventionen. Sie sind – zumindest aus Sicht des »Systems« Patient/Patientin – nur potenziell vorhanden, auch wenn sie vom Therapeuten oder von der Therapeutin gezielt und überlegt und aus seiner Sicht real eingesetzt werden. Zu Interventionen können aber auch andere als intendiert vollzogene Maßnahmen, nämlich im Prinzip alle → Umweltereignisse, werden. Eine Intervention ist ein Ereignis in der Umwelt des »Systems« Patient, das in ihm einen Resonanzeffekt erzeugt (zur Modellierung von Resonanz- und Synchronisationsprozessen zwischen nichtlinearen Systemen vgl. Osipov, Kurths a. Zhou 2007). Neben diesen Umweltereignissen können auch Dynamiken im Inneren des Systems zu Veränderungen von Kognitions-Emotions-Verhaltens-Mustern führen, auch wenn ihnen kein erkennbares Umweltereignis entspricht. Für diese spezielle Eigendynamik gibt es meines Wissens noch keinen Begriff, aber es gibt eine aktuelle neurobiologische Forschungsrichtung, die sich mit der Eigenaktivität des Gehirns ohne externe Einflüsse – dem default mode – befasst (Raichle et al. 2001). Wenn nun das System, in das interveniert wurde, definiert, was eine manifeste (im Gegensatz zu einer vorher nur potenziellen) Intervention ist, welche Rolle spielen dann Interventionen noch in der Therapie? Ihre → Funktionen bestehen außer in der Verstärkung von intrinsisch und eigendynamisch auftretenden Fluktuationen des Systems, in das interveniert wurde, unter anderem in der Vermittlung von Strukturierungshilfen für den Therapeuten bzw. die Therapeutin, in der Vermittlung plausibler Modelle – und damit von kognitiver wie emotionaler Sicherheit – und im Erzeugen von Zuversicht und Vertrauen bei allen Beteiligten. Interventionen im Sinne sämtlicher therapeutischer Maßnahmen und Hilfestellungen können in einem systemischen Verständnis generell der prozessangemessenen Realisierung der generischen Prinzipien dienen (Haken u. Schiepek 2006; Schiepek et al. 2019).
In einem systemischen Modell wird Psychotherapie als Schaffen von prozessualen Bedingungen für → Selbstorganisationsprozesse des fokussierten Systems verstanden (Haken u. Schiepek 2006). Damit liegt der Schwerpunkt auf dem Prozessmonitoring (SNS, → Diagnose) und der Prozessgestaltung. Eine neue Theorie der Psychotherapie bringt States (Zustandsgrößen) und Traits von Klienten und Klientinnen im Sinne von Ordnungs- und Kontrollparametern in einen dynamischen Zusammenhang, wobei Interventionen als äußere und innere Einflüsse auf die Zustandsgrößen verstanden werden (Schiepek et al. 2017; Schöller et al. 2018). Dieser Input muss nicht als beabsichtigte Intervention eines Therapeuten oder einer Therapeutin verstanden werden, sondern schlicht als dynamisches Rauschen. Dieses kann den Übergang des Systems in einen neuen Attraktor (Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster) triggern, kann aber auch die Landschaft der verfügbaren Attraktoren (die sogenannte Potenziallandschaft) selbst verändern, sofern die Dynamik der Kontrollparameter eine selbstorganisierte Schwelle überwindet (Schiepek et al. 2019).
Verwendete Literatur
Bohart, Arthur C. a. Karen Tallman (1999): Clients: The neglected common factor in psychotherapy. In: Barry Duncan, Scott Miller, Bruce Wampold a. Mark Hubble (eds.): The heart and soul of change. Delivering what works in therapy. Washington, DC (American Psychological Association), 2. ed. 2010, pp. 83–112.
Clarkin, John F. a. Kenneth N. Levy (2004): The influence of client variables on psychotherapy. In: Michael J. Lambert (ed.): Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change. New York (Wiley), pp. 194–226.
Gunzelmann, Thomas, Günter Schiepek u. Hans Reinecker (1987): Laienhelfer in der psychosozialen Versorgung: Meta-Analysen zur differentiellen Effektivität von Laien und professionellen Helfern. Gruppendynamik 18: 361–384.
Haken, Herman u. Günter Schiepek (2006): Synergetik in der Psychologie. Selbstorganisation verstehen und gestalten. Göttingen (Hogrefe), 2. Aufl. 2010.
Hattie, John A., Christopher Francis Sharpley a. Hiram F. Rogers (1984): Comparative effectiveness of professional and paraprofessional helpers. Psychological Bulletin 95: 534–541.
Heinzel, Stefan, Igor Tominschek a. Günter Schiepek (2014): Dynamic patterns in psychotherapy – discontinuous changes and critical instabilities during the treatment of obsessive compulsive disorder. Nonlinear Dynamics, Psychology, and Life Sciences 18 (2): 155–176.
Heisenberg, Werner (1979): Quantentheorie und Philosophie. Vorlesungen und Aufsätze. Stuttgart (Reclam).
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Norcross, John C. (1999): The therapeutic relationship. In: Barry L. Duncan, Scott Miller, Bruce Wampold a. Mark Hubble (eds.): The heart and soul of change. Washington DC (American Psychological Association), 2. ed. 2010, pp. 113–142.
Orlinsky, David E., Michael Ronnestad a. Ulrike Willutzki (2004): Fifty years of psychotherapy process-outcome research: continuity and change. In: Allen Bergin a. Sol Garfield (eds.): Handbook of psychotherapy and behavior change. New York (Wiley), pp. 307–389.
Osipov, Grigory V., Jürgen Kurths a. Changsong Zhou (2007): Synchronization in oscillatory networks. Berlin (Springer).
Raichle, Marcus E., Ann Mary MacLeod, Abraham Z. Snyder, William J. Powers, Debra A. Gusnard a. Gordon L. Shulman (2001): A default mode of brain function. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS) 98: 676–682.
Schiepek, Günter (2008): Psychotherapie als evidenzbasiertes Prozessmanagement. Ein Beitrag zur Professionalisierung jenseits des Standardmodells. Nervenheilkunde 27: 1138–1146.
Schiepek, Günter, Igor Tominschek a. Stefan Heinzel (2014): Self-organization in psychotherapy – testing the synergetic model of change processes. Frontiers in Psychology for Clinical Settings 5 (1089): 1–11.
Schiepek, Günter, Helmut Schöller, Roswitha Carl, Wolfgang Aichhorn a. Anna Lichtwarck-Aschoff (2019): A nonlinear dynamic systems approach to psychological interventions. In: E. Saskia Kunnen, Naomi M. P. de Ruiter, Bertus F. Jeronimus a. Mandy A. E. van der Gaag (eds.): Psychosocial Development in Adolescence: Insights from the Dynamic Systems Approach. New York (Routledge), pp. 51–68.
Schiepek, Günter, Kathrin Viol, Wolfgang Aichhorn, Marc-Thorsten Hütt, Katharina Sungler, David Pincus a. Helmut Schöller (2017): Psychotherapy is chaotic – (not only) in a computational world. Frontiers in Psychology for Clinical Settings 8: 379.
Schöller, Helmut, Kathrin Viol, Wolfgang Aichhorn, Marc-Thorsten Hütt a. Günter Schiepek (2018): Personality development in psychotherapy: a synergetic model of state-trait dynamics. Cognitive Neurodynamics 12 (5): 441–459.
Stiles, William, Chris Leach, Michael Barkham, Mike Lucock, Steve Iveson, David A. Shapiro, Michaele Iveson a. Gillian E. Hardy (2003): Early sudden gains in psychotherapy under routine clinic conditions: practice-based evidence. Journal of Consulting and Clinical Psychology 71: 14–21.
Stulz, Niklaus, Wolfgang Lutz, Chris Leach, Mike Lucock a. Michael Barkham (2007): Shapes of early change in psychotherapy under routine outpatient conditions. Journal of Consulting and Clinical Psychology 75: 864–874.
Wampold, Bruce E. (2015): How important are the common factors in psychotherapy? An update. World Psychiatry 14: 270–277.
Wampold, Bruce E., Zac E. Imel u. Christoph Flückiger (2018): Die Psychotherapie-Debatte. Göttingen (Hogrefe).
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