Gedächtnis

engl. memory, franz. mémoire f; damit wird eine kognitive oder kommunikative Einrichtung in psychischen (→ Psyche) oder → Sozialsystemen bezeichnet, die in einer immer nur gegenwärtigen Weise aktuelle Ereignisse auf ihre Konsistenz oder Inkonsistenz bezüglich dessen überprüft, was die → Systeme für sich als Realität konstruiert haben. Die Systemtheorie bestimmt das (soziale) Gedächtnis in einer funktionalen Weise. Es besteht aus den semantischen Strukturen, die die → Funktion haben, kommunikative Operationen, die Anschlüsse zwischen diesen Operationen und damit die → Autopoiesis eines Systems zu ermöglichen. Das soziale Gedächtnis wird als die zentrale Instanz der Genese von → Kultur betrachtet. Die → Forschungen über das Gedächtnis von psychischen wie sozialen Systemen haben spätestens seit den 1990er-Jahren in den Sozial- und Kulturwissenschaften eine enorme Relevanz erhalten. Mitunter bildet das »Gedächtnis« den zentralen Topos, unter dem sich eine Neuformierung von wissenschaftlichen Fragestellungen und Disziplinen abzeichnet. Diese Inflation von wissenschaftlicher Forschung über das Gedächtnis wird wissenssoziologisch oftmals mit einer Modifikation der zeitgenössischen Gedächtnismedien und mit einem Bruch in zeitgenössischen Gedächtnisformationen begründet.
In der Geschichte der Gedächtnistheorien herrschen zwei Modelle vor (vgl. Assmann 1999). Die Vorstellung des Gedächtnisses als ars knüpft an die antike Mnemotechnik an und begreift das Gedächtnis als Speicher, in welchem → Informationen abgelagert und nach Bedarf wieder abgerufen werden. Diese Vorstellung herrscht auch heute noch in manchen Modellen von storage and retrieval vor. Im Übergang zum 19. Jh. setzte sich die Vorstellung des Gedächtnisses als vis durch, der zufolge das Gedächtnis als eine mentale Kraft anzusehen ist, die gegenwärtig operiert und in einer rekonstruktiven Weise Erinnerungen ermöglicht. Das Gedächtnis wird in der Folge vor allem unter kognitionswissenschaftlichem Einfluss nicht als Speicher, sondern als eine über alle kognitiven Aktivitäten eines Systems verteilte Funktion konzipiert, in welcher auf der Grundlage der aktuellen, die eigene Lerngeschichte und damit die eigenen Zustände repräsentierenden Schemata, Skripte oder frames, ein Abgleich mit neuen Situationen und neuen Erfahrungen mithilfe der Differenz von konsistent/nichtkonsistent vollzogen wird. Das Gedächtnis arbeitet konstruktiv, setzt Relevanzrahmen und weist Ereignissen Bedeutungen zu. Dies ist die Prämisse der systemtheoretischen Forschung (vgl. Luhmann 1997, Bd. 1, S. 576 ff.). Die Funktion des Gedächtnisses wird darin gesehen, dem jeweiligen System eine autonome (→ Autonomie → Selbstorganisation in den Wahrnehmungs- und kognitiven Synthesen sowie in den Verhaltens- und Handlungsabläufen zu ermöglichen. Demzufolge betrachtet man das Gedächtnis nicht mehr nur als eine mentale Aktivität, sondern als einen umfassenden Funktionskreislauf, der auch auf der körperlichen (→ Körper; vgl. Hahn 2010) wie auf der sozialen Ebene verankert ist.
Häufig wird auch heute noch nicht zwischen Gedächtnis und Erinnerung unterschieden. Mit der neueren Forschung ist es jedoch notwendig geworden, zwischen dem Gedächtnis als einer über die (neuronalen, mentalen, kommunikativen) Operationen eines Systems verteilten Funktion einerseits und der bewussten Erinnerungsleistung andererseits zu unterscheiden. Das Gedächtnis repräsentiert die eigene Lerngeschichte, in welcher Muster für konvergierende oder divergierende Schemata ausgebildet werden, in der bewussten Erinnerung werden → Konstruktionsleistungen in Bezug auf die eigene Geschichte vollzogen. Das Gedächtnis steht für eine latente → Sinnproduktion, das Erinnern für eine manifeste Sinnproduktion in Bezug auf Ereignisse. Während die Sinnproduktion des Gedächtnisses schemageleitet ist, so ist diejenige der Erinnerung eng an die narrative (→ Narrativ) Sinnproduktion gebunden. Erinnerungen werden sinnhaft, insofern das Erinnerte zumindest in rudimentäre Narrationen eingebunden werden kann. Für beide, für Gedächtnis wie für Erinnerung gilt das Prinzip der Autokonstitutivität – sie realisieren sich in dem Maße, wie sie eine eigene, sich von den »wahren« Begebnissen ablösende Ordnung aufbauen können. Die Schemata schließlich, die nicht zur Erinnerung benutzt werden, werden vergessen. Damit wird mit dem Vergessen eine weitere wichtige Funktion des Gedächtnisses bezeichnet. Würde das Gedächtnis nicht vergessen, so gäbe es kein Lernen. Vergessen ist die komplementäre Funktion der Erinnerung.
Die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung setzt die temporale Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Forschungen werden wesentlich von ihren Klassikern inspiriert. Unter ihnen sind Maurice Halbwachs (1925/1985) und Aby Warburg (2000) zu nennen. Halbwachs machte auf den wechselseitigen Konstitutionszusammenhang von individueller (→ Individuum) und kollektiver Erinnerung aufmerksam. Das organische Gedächtnis operiert mithilfe von sozial reproduzierten Rahmen, cadres sociaux. Warburg untersuchte die engen Zusammenhänge zwischen kunstgeschichtlichen Entwicklungen und dem kollektiven Gedächtnis. Weitere Impulse gingen von Untersuchungen aus, die sich mit den Auswirkungen spezieller → Kommunikationsmedien (von Sprache, Bild, digitalen Medien) auf die Formen des sozialen Gedächtnisses und der damit verbundenen Kontinuierung von Kultur befassen. Kulturell erinnert wird das, was für die kollektive → Identität von Bedeutung ist. In den gesellschaftlichen (→ Gesellschaft) → Funktionssystemen bestimmen die Codes und Programme die Selektion des Gedächtnisses So orientiert sich das Gedächtnis von → Familien an dem, was den Mitgliedern der Familie geschehen ist, das Gedächtnis des politischen Systems an den Auseinandersetzungen um die politische → Macht und etwa das Gedächtnis eines Funktionssystems der Sozialen Arbeit an legitimen Unterstützungsgründen und -leistungen für Hilfesuchende.
Verwendete Literatur
Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München (Hanser).
Hahn, Alois (2010): Körper und Gedächtnis. Wiesbaden (Springer VS).
Halbwachs, Maurice (1925): Les cadres sociaux de la mémoire. Paris (Alcan). [dt. (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).]
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Warburg, Aby (2000): Der Bilderatlas Mnemosyne. (Hrsg. v. Martina Warnke.) Berlin (Akademie).
Weiterführende Literatur
Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. München (Beck).
Esposito, Elena (2002): Soziales Vergessen. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Foerster, Heinz von (1985): Gedächtnis ohne Aufzeichnung. In: ders. (Hrsg.): Sicht und Einsicht. Braunschweig (Vieweg), S. 123–175. [Online-Ausgabe (2006): Heidelberg (Carl-Auer).]
Nora, Pierre et al. (1984–1992): Les lieux de mémoire. 7 Vol. Paris (Gallimard).
Pethes, Nicolas u. Jens Ruchatz (Hrsg.) (2001): Gedächtnis und Erinnerung. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt).
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