Paradoxie

engl. paradox, franz. paradoxe m, vom griech. parádoxos = »gegen die geltende Meinung«, im Deutschen auch Paradox oder Paradoxon; bezeichnet eine Aussage, die in einem nicht auflösbaren Widerspruch steht zu einer grundlegenden, geltenden Annahme, die sie selbst implizit bestätigt und voraussetzt. Eine Paradoxie kann also nur unter Verletzung dieser Annahmen (doxa) bzw. jenseits (para) dieser Annahmen geäußert werden. In einer typischen Form der Paradoxie wird der Widerspruch offenbar, wenn man der Aussage einen Wahrheitswert zuspricht. Das führt zu einer logischen Konsequenz, mit der man gezwungen ist, eben deswegen der Aussage auch den gegenteiligen Wahrheitswert zuzusprechen, was wiederum dazu führt, dass der Wahrheitswert in sein Gegenteil umschlägt und so ad infinitum. Zwei der berühmtesten Paradoxien lauten: »Ein Kreter sagt: Alle Kreter lügen« und: »Hier rasiert der Barbier alle Männer, die sich nicht selbst rasieren« (Sainsbury 1993, S. 190–194). Das Para-Doxe wird offenkundig, wenn man fragt, ob der Kreter lügt, bzw. wenn man fragt, ob dieser besagte Barbier sich selbst rasiert. Die Wahrheitsbedingungen (Verifikation) des Satzes oszillieren mit seinen Falschheitsbedingungen (Falsifikation). Pointiert ließe sich sagen: der Satz ist wahr, wenn er falsch ist, und umgekehrt. Die grundlegende Struktur einer solchen Paradoxie könnte man als sich selbst negierende Autoreflexion (→ Selbstreferenz) formal beschreiben.
Paradoxien galten lange Zeit und gelten landläufig noch heute als ein epistemologisches Skandalon, das es besser zu vermeiden oder gar zu »eliminieren« (Luhmann 1991, S. 58) gilt. Die → Systemtheorie, insbesondere in ihrer konstruktivistischen Fundierung (→ Konstruktivismus), hat erkannt und herausgearbeitet, dass Paradoxien keine Aporie oder Blockade bedeuten müssen, sondern vielmehr selbst eine epistemologisch produktive und kreative → Funktion haben können, weil sie zeigen können, wo – selbst eine paradoxale Formulierung – das Nicht-Erkennbare eben doch erkannt werden kann, wo man von einer geschlossenen, auf fixen Gesetzen beruhenden zu einer – wie dies Gumbrecht und Pfeiffer nennen – »offene[n] Epistemologie« (Kray u. Pfeiffer 1991, S. 23 f.) kommen kann, was für die systemische Arbeit eine besondere Bedeutung gewinnt. Denn die Paradoxie hat eine performative, eine prozessuale und eine zeitliche Dimension (→ Zeit), die gerade im Korsett einer Aussagenlogik nicht erfasst wird. Mit Systemtheorien, insbesondere der Luhmannschen Prägung und mit der damit verbundenen Umstellung von einer statischen zu einer prozessualen Perspektive, ändert sich daher die Bewertung der Paradoxie radikal. Was als Aporie gegolten hatte, wird zu einem Faszinosum der Theorie. Was als Blockade der Theorie gegolten hat, wird ihr Antriebsmoment. Das beginnt schon damit, dass Luhmann bei dem Systembegriff die grundsätzliche Regel einer Definition verletzt, indem er das Definiendum (System) wieder im Definiens vorkommen lässt. Am Beispiel eines sozialen Systems definiert Luhmann ein System als Differenz von System und → Umwelt. Diese Definition hebt also nicht mehr auf eine wesensmäßige Bestimmung und mithin auf eine Ontologie des Gegenstandes, sondern auf eine Differenzierung ab. Wenn das System mit seiner Umwelt interagieren will, muss es die System-Umwelt-Differenz in sich hineinkopieren: Die Umwelt ist – ein Paradox – im und außerhalb des Systems (Esposito 1991, S. 37).
Luhmann hat diese Umstellung immer wieder als Umstellung von Was- zu Wie-Fragen (Luhmann 1992, S. 95; Luhmann 1990, S. 15 ff.) und damit als Übergang von der Ontologie zur Epistemologie charakterisiert. Damit ist schon der Grundstein für die spätere konstruktivistische Fundierung der Systemtheorie gelegt. Paradoxien können sowohl auf der Objektebene als auch auf der Metaebene wissenschaftlicher Theorien auftreten, aber gerade die Differenz zwischen Objekt- und Metaebene wird nun nicht ontologisch als Unterschied zwischen Empirie und Theorie gehandhabt, sondern als Differenz zweier Ebenen: es handelt sich um → Beobachtungen erster und zweiter Ordnung. Das ist deswegen auch für die systemische Arbeit von größter Bedeutung, weil sich somit soziale Prozesse (→ Kommunikation oder → Interaktion) nicht wesentlich (wesensmäßig) von dem Prozess unterscheiden, mit dem sie beobachtet werden.
Somit hängen Beobachtung und Paradoxie eng zusammen. Beobachtung meint dabei eine Operation, die zwei Seiten unterscheidet und die eine Seite davon bezeichnet (Luhmann 1993, S. 203). Damit ist
»Beobachten […] eine paradoxe Operation. […] Und sie beruht auf der Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung, aktualisiert also eine Unterscheidung, die in sich selbst wiedervorkommt« (Luhmann 1992, S. 95).
Beobachten heißt Unterscheiden, und dem Unterscheiden ist das Paradox schon
a priori mitgegeben (Luhmann 1991, S. 62). Das Paradox scheint auf, wenn man fragt, was denn die Beobachtung dann ihrerseits sei. Eine solche Was-Frage müsste also zugleich etwas und sich unterscheiden, und das ist nicht möglich. Der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty hat auf diese Weise das menschliche Bewusstsein sehr prägnant beschrieben: »Was es nicht sieht, sieht es [aus] prinzipiellen Gründen nicht, weil es Bewusstsein ist« (Merleau-Ponty 1986, S. 313). Der Bogen zu Luhmann lässt sich leicht schlagen, indem man das Bewusstsein als beobachtendes psychisches System identifiziert.
Genau an diesem Punkt lässt sich der veränderte Umgang mit der Paradoxie durch eine konstruktivistische Systemtheorie erkennen, denn sie macht deutlich, dass nicht nur jeder Beobachtung eine Paradoxie zugrunde liegt, sondern auch, dass es gerade die Paradoxie ist, die jene Beobachtung ermöglicht, die aus der Paradoxie herausführt:
»Damit ist zugleich alles, was überhaupt beobachtet oder nicht beobachtet wird, auf eine Paradoxie gegründet und zugleich angegeben, welche Unterscheidung aus dieser Paradoxie herausführt, nämlich die Unterscheidung von Operation und Beobachtung« (Luhmann 1993, S. 198).
Denn das heißt nichts anderes, als dass die Beobachtung sich nicht selbst beobachten kann, wohl aber als Operation beobachtbar ist. Die Paradoxie zwingt also zur Beobachtung der Beobachtung und konstituiert damit einen Prozess.
Die epistemologischen Auswirkungen, zumal wenn man die Implikationen des Begriffs der Beobachtung (griech. für »Theorie«) für wissenschaftliche Theoriebildungen in Rechnung stellt, können kaum überschätzt werden. Erst die Paradoxie macht es möglich, dass die Resultate der Operationen zur Grundlage und zum Gegenstand neuer Operationen werden, ja, dass überhaupt ein solcher Prozess in Gang kommen und bleiben kann:
»An die Stelle der für das System unsichtbaren, weil paradoxen Einheit tritt die Rekursivität, die Führung der Operationen durch die Resultate der Operationen oder, auf der Ebene des Beobachtens, die Führung des Beobachtens durch die Resultate des Beobachtens« (Luhmann 1991, S. 61).
Damit ist bereits eine Definition von einem autopoietischen System (→ Autopoiesis) als Prozess gegeben; es reproduziert sich mit den Elementen in den Elementen, aus denen es besteht. Und insofern ließe sich die Definition auch auf die Paradoxie beziehen: Autopoiesis ist prozessuale Entparadoxierung.
Eine weitere Wendung der Systemtheorie hin zum Formenkalkül von George Spencer-Brown hat zur epistemischen Universalisierung der prozesskonstitutiven Paradoxie beigetragen. Die Form entsteht durch den Befehl: »draw a distinction«, also: »unterscheide«, nämlich eine Form von dem sie Umgebenden. Die Frage nach der Form der Form lässt sich ebenso stellen: »die Form der Form [ist] eine Unterscheidung und damit eine Bedingung der Möglichkeit von Beobachtung« (Luhmann 1993, S. 198). Luhmann unterscheidet (!) seinerseits die Form vom Medium und beschreibt diese Unterscheidung als Unterscheidung zwischen Elementen mit fester bzw. loser → Kopplung und kann damit die Paradoxie, aber zugleich die konstitutive Kraft der Paradoxie, auf die Spitze treiben (Luhmann 1992, S. 52). So aber wird gerade beobachtbar, wie aus der Ausgangsparadoxie aus Formen im Medium immer neue Formen entstehen. Nun ist Beobachtung ein sehr spezifischer Prozess, aber durch diese immer neuen Differenzierungen auf der Basis einer Ausgangsparadoxie (System/Umwelt, Beobachtung/Operation, Form/Medium) kann ersichtlich werden, dass damit ein Modell vorliegt für alle komplexen systemischen Prozesse, insbesondere für soziale Prozesse (→ Sozialsystem) und für psychische Prozesse (Bewusstsein) und vor allem für ihre strukturelle Kopplung (Luhmann 1988, S. 891).
Damit ist das Terrain auch einer systemischen Arbeit auf dieser Grundlage bereitet, denn es geht um dieselben Prozesse und dieselben → Probleme. → Krisen, die aporetisch erscheinen, können in ihrer paradoxalen Veranlagung durchschaut und aufgelöst werden – und zwar mithilfe von Paradoxien und ihren Prozessualisierungen (Luhmann 1991, S. 76 f.). Es kommt nicht darauf an, → Konflikte – in Habermas’scher Manier – konsensualistisch zu lösen, sondern die Paradoxie als Ausgangspunkt einer konfligären Blockade wieder in ihre konstitutive, d. h. prozessbegründende und antreibende, Funktion zu setzen. Es geht darum, aus der »Bewegungslosigkeit« wieder in den Stand zu kommen, »beobachten [zu] können« (Luhmann 1991, S. 58). In der systemischen Arbeit wird damit der Übergang von der Ontologie zur Epistemologie, von den Was- zu den Wie-Fragen, als soziale Arbeit oder als interventionistische Praxis wiederholt, indem paradoxale Blockaden eines Prozesses identifiziert und aufgehoben werden. Dies geschieht durch eine Entparadoxierung, die die Theorie schon vorgezeichnet hat. Auch hier »kommt Zeit ins Spiel« (Luhmann 1993, S. 201), es kommt darauf an, Beobachtungen zu beobachten, über Kommunikation zu kommunizieren, neue Formen im Medium zu finden und zu bilden.
Verwendete Literatur
Esposito, Elena (1991): Paradoxien als Unterscheidungen von Unterscheidungen. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 35–57.
Kray, Ralph u. K. Ludwig Pfeiffer (1991): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Vom Ende und Fortgang der Provokationen. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 13–31.
Luhmann, Niklas (1988): Wie ist Bewußtsein an der Kommunikation beteiligt? In: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. Suhrkamp), S. 884–905.
Luhmann, Niklas (1990): Identität – was oder wie? In: ders.: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven (Springer VS), 4. Aufl. 2009.
Luhmann, Niklas (1991): Stenographie und Euryalistik. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. Suhrkamp), S. 58–83.
Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1993): Die Paradoxie der Form. In: Dirk Baecker (Hrsg.): Kalkül der Form. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 197–212.
Merleau Ponty, Maurice (1986): Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen. Hrsg. v. Claude Lefort. München (Fink).
Sainsbury, Richard M. (1993): Paradoxien. Stuttgart (Reclam), erw. Ausg. 2001.
Weiterführende Literatur
Bühl, Walter L. (2000): Luhmanns Flucht in die Paradoxie In: Gerhard Wagner u. Peter-Ulrich Merz-Benz (Hrsg.): Zur Logik der Systeme. Konstanz (UVK), S. 225–256.
Faletta, Nicolas (1988): Paradoxon. Widersprüchliche Streitfragen, zweifelhafte Rätsel, unmögliche Erläuterungen. Frankfurt a. M. (Fischer).
Gumbrecht, Hans Ulrich u. Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.) (1991): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Poundstone, William (1995): Im Labyrinth des Denkens. Wenn Logik nicht weiterkommt: Paradoxien, Zwickmühlen und die Hinfälligkeit unseres Denkens. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt).
Schulte, Günter (1993): Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie. Frankfurt a. M./New York (Campus).
Watzlawick, Paul, Janet H. Beavin u. Don D. Jackson (1969): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern/Stuttgart/Wien (Huber), 8. Aufl. 1990.
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