Krise

engl. crisis, franz. crise f, griech. krisein (Verb) = »scheiden, trennen, entscheiden«; verweist auf einen Wendepunkt. In der griechischen Antike hat der Begriff die Bedeutung von Leben oder Tod (Medizin), Recht oder Unrecht (Jura) bzw. Heil oder Verdammnis (Theologie). In römischer Zeit fokussiert der lateinische Begriff crisis auf den Medizinbereich. Die Krise ist hier der Höhepunkt einer Erkrankung, die zu Heilung (Leben) oder Gefahr (Tod) führt; in China wird der Begriff Krise durch zwei Schriftzeichen dargestellt, die die Bedeutung von Gefahr (wei) und Chance/Gelegenheit (ji) haben.


Der Begriff Krise erfährt im 19. Jahrhundert eine Übernahme in Philosophie, Psychologie, Soziologie und Politik. Im Laufe des 20. Jh. wird er zum beliebigen Schlagwort für alle möglichen Situationen bis hin zum Eingang in die Jugendsprache (»Ich glaube, ich krieg die Krise!«). Im Kontext dieses Beitrags ist Krise mit Cullberg (1980, S. 17) »durch den Verlust des seelischen Gleichgewichts gekennzeichnet, wenn ein Mensch mit Ereignissen oder Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie seine bisherigen Problemlösungsfähigkeiten übersteigen« (Lösung). Zentrales Kennzeichen einer Krise ist daher die momentane Unfähigkeit, sich mit eigenen Kräften aus der als überfordernd erlebten Belastungssituation befreien zu können. Weder besteht die Möglichkeit zu fliehen (Hilflosigkeit), noch sind ausreichende Problemlösungsmöglichkeiten gegeben, weshalb der Mensch die Eigendynamik eines Geschehens erlebt, ohne selbst wirksam werden zu können (Kontrollverlust, Lähmung). Eine Krise kann auf der Ebene der eigenen Person (intrapersonell), durch Probleme mit anderen Menschen (interpersonell), durch Probleme mit äußeren Umständen (situativ) oder als Problem mit Wertoder Glaubensfragen (transitiv) erfahren werden. Von einer Krise sollte gesprochen werden, wenn ein auslösendes Ereignis vorliegt, wenn die psychische Belastung kaum zu ertragen ist, eine emotionale Destabilisierung droht und wenn das bisherige Leben durch Verlust, Schädigung, Bedrohung oder Überforderung aus eigener Kraft derzeit nicht mehr zu bewältigen ist. Der Begriff »Krise« hat vielfältige Bezüge zu den Begriffen »Stress«, »Notfall«, »Trauma« und »Burn-out«. Im Rahmen wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Phänomen »Krise« wurden verschiedene Phasenmodelle entwickelt (z. B. Caplan 1964; Cullberg 1980; Sonneck 2000). Jenseits aller Phasenmodelle sind sich erfahrene Praktiker darüber im Klaren, dass Krisen individuell (Individuum) zu betrachten und zu behandeln sind.


In einer hilfreichen Systematisierung unterscheidet Sonneck (2000) zwischen »psychosozialer« und »psychiatrischer« Krise oder (medizinischem) »Notfall«. Die psychosoziale Krise wiederum unterteilt er in »Veränderungskrise« und »traumatische« Krise (Trauma). Als Prototyp einer Veränderungskrise kann die Entwicklungskrise nach Erik H. Erikson verstanden werden. Anzeichen für eine traumatische Krise ist nach ICD-10 eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Zwischen diesen beiden psychosozialen Krisenformen steht bei Sonneck die sogenannte chronisch-protrahierte Krise, d. h. eine Veränderungskrise, die durch Vermeidungsverhalten oder destruktive Bewältigungsversuche festfährt, was unter anderem auch zu Burn-out-Phänomenen führen kann. In Kontexten der Jugend- und Familienhilfe (Helfen) sowie auch im Gesundheitswesen gewinnen chronifizierte Krisen in Theorie und Praxis eine zunehmende Bedeutung. In der wissenschaftlichen Literatur werden normative von nichtnormativen Krisen unterschieden. Im Rahmen der Arbeitsfelder der Jugendhilfe und der Gesundheitshilfe gilt die Entwicklungskrise bei Kindern und Jugendlichen als prototypische normative Krise. Es ist zu erwarten (Erwartung), dass alle Kinder und Jugendlichen im Laufe ihrer Entwicklung in krisenhaftes Geschehen involviert werden. Nichtnormative Krisen treten dagegen unverhofft oder »maskiert« (Aguilera 2000) auf und folgen keinen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten.


Krisen können sich auf der Ebene von Klienten oder Patienten zeigen, aber auch auf der Ebene von Helfersystemen (System). Dabei sind die Unterschiede zu beachten, die jeweils in ambulanten oder stationären Kontexten gegeben sind. Generell gilt, dass bei Krisen in der Begleitung/Beratung/Therapie anfänglich durch eine angemessene Präsenz der Krisenhelfer für eine Sicherheit bietende emotionale Beruhigung und organisch-körperliche (Körper) Entspannung zu sorgen ist. Erstarrte oder aufgelöste Klienten in einer akuten Krise fühlen sich hilflos und nicht in der Lage, ihre sonst verfügbaren Stärken und Ressourcen zu nutzen. Grundsätzlich vertrauen systemisch handelnde Helfer den autonomen (Autonomie) Lösungsressourcen der Klienten. Dennoch besteht die Möglichkeit, vor einer Krisenbegleitung auf Kriseninterventionen (Intervention) zurückgreifen zu müssen. Dabei gilt, dass ein systemisches Krisenverständnis die Entscheidungsverantwortung bei den Klienten belässt. Ist eine Beruhigung eingetreten, können systemische Interventionen helfen (Helfen), die Krise im Kontext der Lebenswelt und der Lebensgeschichte zu reflektieren. Ziel ist dann, die Perspektive der Klienten wieder zu erweitern und ihre eigenen Gestaltungsspielräume neu auszuloten. Krisenereignisse in ambulanten wie in stationären Kontexten sind für Fachkräfte eine Herausforderung, weil die Kooperationserfordernisse in Helfersystemen bei Krisen komplexer (Komplexität) sind. Öfter kommt es infolge einer Klientenkrise auch zu einer Krise im Helfersystem. Damit systemische Krisenbegleitung und -intervention wirksam werden können, bedarf es in einem Team oder einer Arbeitsgruppe (Gruppe) klarer Absprachen und Abstimmung, die helfen, das Auftreten kontraproduktiver Ereignisse zu vermeiden.


Ein Sonderfall einer Krise in stationären Kontexten ist die »therapeutisch induzierte Krise« (Ciompi 1977). Bei dieser werden Klienten oder Patienten aus fachlichen Erwägungen herausgefordert, sich einer neuen Anforderung zu stellen, die bequeme Routine, problematisches Verhalten und Nichtverantwortlichkeit infrage stellt.


Verwendete Literatur


Aguilera, Donna C. (2000): Krisenintervention. Grundlagen – Methoden – Anwendungen. Bern (Huber).


Caplan, Gerald (1964): Principles of preventive psychiatry. New York (Basic Books).


Ciompi, Luc (1977): Gedanken zu den therapeutischen Möglichkeiten einer Technik der provozierten Krise. Psychiatria Clinica 10: 98–101.


Cullberg, Johan (1980): Krise als Entwicklungschance. Gießen (Psychosozial), überarb. u. erw. Neuausg. 2008.


Erikson, Erik H. (2003): Jugend und Krise: Die Psychodynamik im sozialen Wandel. Stuttgart (Klett-Cotta).


Sonneck, Gernot (2000): Krisenintervention und Suizidverhütung. Wien (Facultas).


Weiterführende Literatur


Egidi, Karin u. Marion Boxbücher (Hrsg.) (1996): Systemische Krisenintervention. Tübingen (DGVT).


Müller, Wolf, Ulrike Scheuermann u. Silke Gahleitner (Hrsg.) (2009): Praxis Krisenintervention. Ein Handbuch für helfende Berufe: Psychologen, Ärzte, Sozialpädagogen, Pflegeund Rettungskräfte. Stuttgart (Kohlhammer), 2. Aufl.


Schweitzer, Jochen u. Arist von Schlippe (2009): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Göttingen (Vandenhoek & Ruprecht).