Ritual

engl. ritual, franz. rituel m; Ritual kennzeichnet eine Handlungspraxis nach festgelegter Ordnung. Das Wort geht zurück auf lat. ritus = »religiöse Vorschrift, Zeremonie«. Ursprünglich bezeichnet der Begriff einen definierten, wiederholbaren Handlungsablauf nach verbindlichen Regeln und mit religiösen Zielsetzungen. Aus systemischer (System) Perspektive bezeichnet ein Ritual eine Sequenz von ausdrucksvollen und standardisierten, individuellen (Individuum) oder kollektiven Verhaltensweisen und dient der kognitiv-emotionalen und sozialen Stabilisierung in instabilen Lebenssituationen. Systemtheoretisch handelt es sich bei einem Ritual um einen Ordnungs-Ordnungs-Übergang, d. h., ein System wandelt seinen Zustand in eine neue Ordnung. So markiert ein Hochzeitsritual den Wandel einer Partnerschaft in eine Ehegemeinschaft. Schiepek (2001) formuliert acht generische Prinzipien von Ordnungs-Ordnungs-Übergängen in Systemen, die sich auf Ordnungs-Ordnungs-Übergänge von Ritualen übertragen lassen (Vogt 2008). Dazu zählen:



  • Schaffen von Stabilitätsbedingungen

  • Identifizieren von Handlungsregeln relevanter Systeme, auf deren Grundlage ein Phasenübergang stattfinden kann

  • Sinnbezug herstellen

  • Kontrollparameter identifizieren und aktivieren

  • Fluktuationsverstärker erkennen und realisieren

  • den Kairos (den bedeutungsvoll passenden Zeitpunkt) nutzen

  • gezielte Symmetrieunterbrechungen erzeugen

  • Restabilisieren bzw. Stabilisieren neuer Ordnungsmuster.


Zum Wesen von Ritualen gehören: (a) das Thema: Rituale sind zweckgebunden, zielgerichtet und markieren Ereignisse im Kontinuum der Zeit. Im Zentrum des Rituals steht ein Thema oder eine leitende Metapher (Trauer beim Verlust eines Menschen, Loslösung oder Übergang in eine neue Lebensphase). (b) Struktur und Wiederholbarkeit: Rituale folgen festgelegten Abläufen, die durch einen Anfang und einen Abschluss definiert sind. Ihre Struktur beruht auf einer Vorbereitungsphase, der eigentlichen Realisierungs- oder Neuordnungsphase und der Reintegrationsphase. So wird ein sicherer Rahmen geschaffen, in dem individuelle Handlungsentscheidungen weitgehend unnötig sind. (c) Handlungen, Internalisieren und Externalisieren (Externalisierung): Gedanken und Gefühle finden im Ritual durch das Tun körperlichen (Körper) Ausdruck. Die wechselseitige Dynamik von Internalisierungs- und Externalisierungsprozessen ist ein Bindeglied zwischen psychisch und sozial konstruierenden Prozessen. Erleben wird distanziert und reflektierbar, wenn es externalisiert wird, und Elemente der äußeren Welt werden ins Leben integriert, wenn sie internalisiert werden. (d) Symbolik, emotionale Beteiligung und immanenter Sinn: Rituale beinhalten stilisierte Handlungen, die symbolische Bedeutung erhalten. Die Bedeutungsdichte des Rituals geht über das sprachliche Erfassen hinaus. Das Stimulieren der visuellen, auditiven, kinästhetischen, olfaktorisch-gustativen Wahrnehmung führt zum Einbeziehen aller Sinne und lässt ritualisierte Handlungen in einem konzentrativen, tranceähnlichen Bewusstseinszustand »sinn-voll« werden. (e) Soziale Dimension: Die gemeinschaftliche Planung, Vorbereitung und Durchführung erzeugt soziale Bedeutungen bei den Teilnehmern. Teilnehmende Beobachter erhöhen durch ihr Bezeugen die Intensität symbolischer Handlungen und vermitteln soziales Zugehörigkeitsgefühl.


Rituale beinhalten offene und geschlossene Anteile. Ihre Strukturiertheit weisen auf die geschlossenen, unabänderlichen Anteile und vermittelt Geborgenheit und Sicherheit. Offene Anteile ermöglichen den Teilnehmern, einzelne Handlungen mit eigenen, sich entwickelnden Bedeutungen anzureichern und abzuändern (van der Hart 1983). Bleibt dieses Entwicklungsmoment aus, kann aus einem sinnvollen Ritual eine sinnentleerte, bedeutungslose Handlung werden, die sich mit der Zeit überlebt hat.


Unterschieden werden: Alltagsrituale wie gemeinsame Nahrungsaufnahme, Einschlafrituale, religiöse Praktiken, Rituale im Jahreslauf wie Feiern zum Geburtstag, Hochzeitstag oder Todestag auf der Mikroebene; Unabhängigkeitstag, Gründungstag, religiöse Feiertage und Jahreszeitenfeste, sportliche Wettkämpfe auf der Makroebene; Rituale im Lebenslauf: Namengebung und Taufe, Hochzeit, Berufsjubiläum, Abschied.


Hierzu zählen die Übergangsriten, wie sie von van Gennep (1909) bei seinen Beobachtungen von Naturvölkern beschrieben wurden. Zeremonielle Handlungen kennzeichnen den Eintritt in eine neue Gemeinschaft (Geheimbund, soziale Gruppe, Familie) oder den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt. Mit Erlangen der Geschlechtsreife symbolisieren Rituale die Loslösung aus der Kindheit und den Eintritt in das Leben der Erwachsenen. Als Initiationsriten symbolisieren sie die Themen »Ende«, »Tod«, »Transformation« und »Neubeginn«. Häufig sind sie mit physischen und psychischen Belastungen verbunden und schließen mit einem gemeinsamen Fest ab.


Die Möglichkeit, mit Ritualen Gegensätze auszudrücken und Ambivalenzen aufzulösen, macht sie für therapeutische Prozesse attraktiv; sie ermöglichen es, das Entwicklungs- und Veränderungspotenzial therapeutischer Prozesse zu intensivieren. Psychotherapie (Psyche; Therapie) selbst kann in weiten Teilen als ein Übergangsritual beschrieben werden, das innere Prozesse zu strukturieren, neu zu ordnen und aufzulösen hilft.


Als erste hat die Gruppe um Selvini Palazzoli (1982) Rituale in Form von ritualisierten Verschreibungen in die systemische Therapie eingeführt. Dabei wurden Familienmitglieder aufgefordert, zu festgelegten Zeiten an bestimmten Orten ritualisierte Handlungen, verbunden mit verbalen Äußerungen, zu begehen, um festgefahrene Handlungsmuster und verstrickte Familienbeziehungen zu destabilisieren und neu zu ordnen. So in einer Familie, in der ein sechsjähriger Sohn wegen seines aggressiven Verhaltens seit Langem Sedativa bekam. Das durch die Medikamente als Krankheit definierte Verhalten erlaubte ihm, es aufrechtzuerhalten. Um den Eltern (Elternschaft) zu ermöglichen, das kindliche Verhalten zu beeinflussen, erhielt die Familie eine Hausaufgabe. In einer Familienprozession, in der alle Familienmitglieder gemeinsam durch die Wohnung gehen und die Toilette aufsuchen, sollen die Medikamente des Sohnes hinuntergespült und das Verhalten des Sohnes mit den Worten umgedeutet werden, dass es sich dabei nicht um eine Krankheit, sondern um kindliches Verhalten handele, das vom Sohn und den Eltern beeinflussbar sei (ebd., S. 272). In der Psychotherapie können Rituale Kontinuität und Gemeinsamkeit fördern, Schutz und Kraft geben, soziale und psychische Übergangsprozesse strukturieren, Heilungsprozesse unterstützen.


Verwendete Literatur


Hart, Onno van der (1983): Rituals in psychotherapy: Transition and continuity. New York (Irvington).


Gennep, Arnold van (1909): Les rites de passage. Paris (Nourry). [dt. (1986): Übergangsriten. Frankfurt a. M. (Campus).]


Schiepek, Günter (2001): Ordnungswandel in komplexen dynamischen Systemen: Das systemische Paradigma jenseits der Therapieschulen. Hypnose und Kognition 18: 89–119.


Selvini Palazzoli, Mara (1982): Magersucht. Stuttgart (Klett-Cotta).


Vogt, Manfred (2008): Rituale – Ihre Funktion und Wirksamkeit zum Gestalten von Kontinuität, Wandel und Bedeutung. In: Ders. u. Heinrich Dreesen (Hrsg.): Rituale, Externalisieren und Lösungen. Dortmund (Modernes Lernen), S. 9–17.


Weiterführende Literatur


Imber-Black, Evan, Janine Roberts u. Richard A. Whiting (1993): Rituale. Rituale in Familien und Familientherapie. Heidelberg (Carl-Auer), 5. Aufl. 2006.


Turner, Victor (1969): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M. (Campus).


Welter-Enderlin, Rosemarie u. Bruno Hildenbrand (2002): Rituale – Vielfalt in Alltag und Therapie. Heidelberg (Carl-Auer), 3. Aufl. 2011.