Krankheit

engl. illness, disease, franz. maladie f. Als Krankheit wird wissenschaftlich ursprünglich ein körperlicher (Körper) Zustand bezeichnet, der von einer erwarteten (Erwartung) Norm abweicht und durch materielle Veränderungen im Bereich der Anatomie und/oder Physiologie des Organismus erklärt werden kann. Dieser Zustand zeigt sich dem Beobachter durch die Bildung von (in der Regel) körperlichen Symptomen. Seit etwa Mitte des 19. Jh. wird der Krankheitsbegriff auch zur Erklärung von Verhaltensweisen, die von den jeweils gesellschaftlich (Gesellschaft) vorgegebenen normativen Erwartungen abweichen, verwendet. Dabei werden Verhaltensweisen und die Art, wie ein Mensch sich an der Kommunikation beteiligt (z. B.: für andere nicht verstehbar), als Symptome klassifiziert und als Ausdruck von Krankheiten erklärt – entweder von Krankheiten des Geistes und der Psyche oder als Resultat körperlicher Krankheiten (Symptomträger). Im ersten Fall wird eine »Normalität« geistiger und psychischer, d. h. ideeller, Prozesse unterstellt, von der krankhaft abgewichen wird, im zweiten wird eine biologisch-materielle Genese angenommen, die es erst noch aufzuklären gilt. Ob diese Medizinisierung sozialer Phänomene sinnvoll (Sinn) und nützlich ist, wird innerhalb der Psychiatrie und Psychotherapie (Therapie), aber auch der Sozialen Arbeit seit Ende der 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts kontrovers diskutiert.


Wenn man zwischen der Beschreibung von Phänomenen, ihrer Erklärung und ihrer Bewertung unterscheidet, so resultieren die Auseinandersetzungen über den Krankheitsbegriff daraus, dass in ihm alle drei Aspekte von Wirklichkeitskonstruktionen vermischt sind. Wenn er verwendet wird, ist nicht eindeutig, ob damit ein – im Idealfall: objektivierbares – Phänomen beschrieben wird, ob es erklärt oder ob es bewertet wird. Werden körperliche Symptome als Ausdruck eines krankhaften körperlichen Prozesses kategorisiert, dann wird damit ein autonomes (Autonomie) körperliches Geschehen unterstellt, das nicht auf die bewusste Entscheidung des daran Leidenden (des »Patienten«) zurückgeführt werden kann. Es mag zwar Langzeitfolge von Entscheidungen sein (Rauchen, Trinken, Extremsport etc.), aber Krankwerden ist keine Handlung, für die in unserem westlichen Kulturkreis einem handelnden Subjekt die Verantwortung zugeschrieben wird. Und die Beziehung zwischen demjenigen, der eine Krankheit zu behandeln hat, und dem Patienten ist komplementär: ein aktiver Experte (der Arzt) auf der einen Seite, der passive Patient, dessen Organismus Gegenstand der Therapie ist, auf der anderen Seite.


Die Problematik des Konstrukts Geisteskrankheit und psychische Krankheit besteht u. a. darin, dass damit unter den von der Norm abweichenden Verhaltensweisen einige einen Sonderstatus erhalten: Sie werden als Symptome definiert und erklärt, die der Fürsorge und Behandlung bedürfen, während alle anderen abweichenden Verhaltensweisen eines mündigen, schuldfähigen Erwachsenen (Schuld) gemäß den Regeln des jeweiligen Sozialsystems als Resultat der Entscheidungen eines eigenverantwortlich handelnden Subjekts bewertet und sanktioniert werden. Im Extremfall, der sich beispielhaft in Strafprozessen zeigt, kommt es zur Konkurrenz zweier Normsysteme: des Gesundheitssystems und des Rechtssystems. Aber auch für den alltäglichen (Alltag) Umgang mit Menschen, die solche Verhaltensweisen zeigen, stellt sich die Frage nach dem angemessenen Paradigma: Soll der »Patient«/»Delinquent« behandelt oder bestraft werden? Sind seine Verhaltensweisen Symptome (= nicht verstehbar) oder Handlungen, für die er in die Verantwortung genommen und für die ihm Schuld zugeschrieben werden kann?


Aus systemtheoretischer Sicht ist das Verhalten eines menschlichen Individuums, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht im Sinne eines Entweder-oder zu erklären. Das Funktionieren des Organismus ist Voraussetzung des psychischen Funktionierens des Individuums, und diese wiederum ist die Voraussetzung der Teilnahme an der Kommunikation des sozialen Systems. Das Verhalten eines Menschen ist immer (1) vom aktuellen sozialen Kontext bestimmt, aber es ist immer auch (2) von seiner individuellen, im Laufe des Lebens geformten, aktuellen psychischen Struktur bestimmt und ebenfalls (3) von den aktuellen biochemischen Prozessen und ihren Mustern, die den einzelnen Organismus eines Menschen charakterisieren. Die Frage, ob ein abweichendes Verhalten »wirklich« biologisch oder psychisch oder sozial bedingt ist, ist prinzipiell unentscheidbar, da es keine empirischen Verfahren gibt, die solch eine Zuschreibung von Kausalität objektivieren könnten.


Für die praktische Arbeit ist angesichts der Unentscheidbarkeit der Frage nach den tatsächlichen Ursachen »symptomatischen« bzw. »abweichenden« Verhaltens entscheidend, wie mit dem Krankheitsbegriff umgegangen wird bzw. welche Implikationen und Folgen die Diagnose einer Krankheit und die Etikettierung eines Menschen als »krank« haben. Denn Krankheit als Erklärung eines Verhaltens hat eine exkommunizierende Wirkung, d. h., ihm werden die Bedeutung, der Mitteilungscharakter innerhalb des Kommunikationssystems abgesprochen. Anders gesagt: Ihm wird der Sinn, es sei »sinnlos« zugeschrieben, da es nicht als Handlung durch die Motive des Akteurs verstanden wird, sondern nur durch die – nicht durchschaubaren, aber vermutlich irgendwie oder -wo vorhandenen – pathogenetischen Mechanismen der Hirnphysiologie oder eine »gestörte« psychische Struktur erklärt wird. Wenn dies der Fall ist, dann ist die betreffende Person – und alle Angehörigen um ihn herum – als ohnmächtig definiert und dazu verdammt, auf irgendeine äußere Macht, z. B. einen genialen Therapeuten oder ein Wundermedikament, zu warten. Um alle Beteiligten wieder in eine handlungsfähige Position zu versetzen, hat sich in der systemischen Praxis die Dekonstruktion des Krankheitsbegriffs bewährt (vgl. Simon u. Weber 2004). Dazu wird das monolithische Konzept der »Krankheit« als Entität »verflüssigt«, d. h., der Fokus der Aufmerksamkeit wird vom Berater oder Therapeuten auf das jeweils als »symptomatisch« definierte Verhalten gelegt, das in einen charakteristischen sozialen und zeitlichen Kontext gestellt wird, damit ihm ein neuer Sinn zugeschrieben (Umdeutung) werden kann. Ein nichtverstehbares Symptom kann so zur Handlung umdefiniert werden, die einer – wenn auch vom Durchschnitt abweichenden – Rationalität folgt.


Verwendete Literatur


Simon, Fritz B. (1995): Die andere Seite der »Gesundheit«. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie. Heidelberg (Carl-Auer), 3., korr. u. überarb. Aufl. 2012.


Simon, Fritz B. u. Gunthard Weber (2004): Das Ding an sich. Wie man »Krankheit« erweicht, verflüssigt, entdinglicht ... In: Fritz B. Simon u. Gunthard Weber: Vom Navigieren beim Driften. »Post aus der Werkstatt« der systemischen Theorie. Heidelberg (Carl-Auer), 3. Auflage 2009.


Weiterführende Literatur


Simon, Fritz B. (1990): Meine Psychose, mein Fahrrad und ich. Zur Selbstorganisation der Verrücktheit. Heidelberg (Carl-Auer), 13. Aufl. 2012.


Szasz, Thomas (1972): Geisteskrankheit. Ein moderner Mythos. Freiburg (Walter). [erw. Neuausg. (i. Vorb.) Heidelberg (Carl-Auer).]