Digitalisierung

engl. digit, von lat. digitus = »Finger«; bezeichnet die Umwandlung von analoger zu diskreter Erfassung und Darstellung von → Informationen mit dem → Ziel, Daten in digitaltechnischen → Systemen speichern und verarbeiten zu können. Die Umwandlung in ein digitales Signal in Form einer binären Kodierung der Informationen in 0 und 1 bildet die Voraussetzung für die systeminterne Verarbeitung der Daten und führt gleichzeitig zur operationalen Schließung des Systems.
Die darauf aufbauenden Möglichkeiten digitaler Verarbeitung von Informationen führen in der Zwischenzeit in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu tiefgreifenden Transformationen – vielfach wird hier von disruptiven (= etwas Bestehendes auflösend, zerstörend) Veränderungen gesprochen wie etwa in der Medienbranche (u. a. durch Streaming) oder im Handel (u. a.durch Online-Versand). Digitalisierung wird daher auch als einer der umfassenden Megatrends wahrgenommen und die möglichen Folgen für das Arbeits- und Privatleben werden in → Familien, → Organisationen und in der → Gesellschaft intensiv erörtert. Die Diskussionen sind dabei vor allem geprägt von Semantiken der Auflösung bestehender Strukturen, des digitalen Wandels der Gesellschaft und des Kontrollverlusts. Im → Kontext von Organisationen führen diese Semantiken zur Verunsicherung durch die (vermuteten) Folgen der Digitalisierung, aber auch zu neuen Selbstbeobachtungen, Entscheidungslagen und neuen Erfolgsparametern.
Aus systemtheoretischer Perspektive ist hervorzuheben, dass die Kodierung von Sachverhalten in Datenform als solche keine Abbildung der Welt ist, sondern es handelt sich bei der digitalen Repräsentation um eine Umwandlung analoger Informationen in elektronisch messbare Differenzen. Die Digitalisierung ermöglicht durch die einfache Form der diskreten Repräsentation in Form von Spannungszuständen 0 und 1 die Bearbeitung großer Datenmengen und komplexer Formen. Vordergründig könnte man hier von einer Abbildung beziehungsweise Repräsentation der Wirklichkeit sprechen. Genauer gesagt kommt es hier aber zu einer »Verdopplung« der Wirklichkeit.
Darauf aufbauende digitale Techniken wie z. B. Self-Tracking oder auch soziale Medien finden im Prozess der Digitalisierung an vielen Stellen Eingang in das Arbeits- und Privatleben und bieten vordergründige Gebrauchswerte an (etwa die einfache → Kommunikation über Social Media Plattformen, das Internet der Dinge, bei dem etwa Kühlschränke mit dem Internet verbunden sind, Möglichkeiten des Online-Shoppings oder einfacher Navigation). Durch den Gebrauch dieser Möglichkeiten produzieren die Nutzer der digitalen Techniken Sinnüberschüsse, da die Nutzung Datensätze generiert, die Muster enthalten, die erst durch die digitale Technik sichtbar gemacht werden und für unterschiedliche Anwendungen von Interesse sein können.
Insbesondere die automatische Deutung des Sinnüberschuss kann auch zu fragwürdigen Folgen führen, wie das Phänomen des Microtargeting zeigt. Dabei stimmen Unternehmen wie z. B. meta (ehem. facebook) auf der Basis entsprechender Nutzungsprofile speziell auf die Bedürfnisse einzelner Zielgruppen zugeschnittene Botschaften zur Erreichung eines Ziels (z. B. die Stimmabgabe oder den Kauf eines Produkts) ab. Dabei werden Muster automatisiert gedeutet und die User sehen nur noch Informationen, die für sie interessant sein könnten, und sorgen damit für ein sich selbst verstärkendes System (Stichwort »Filterblase«). Solche Ansätze lassen sich manipulativ nutzen und können massiv gesellschaftlichen Einfluss nehmen (Beispiel: Cambridge Analytica). Kritisch nimmt hierzu insbesondere Zuboff (2018) Stellung, wenn sie davon spricht, dass die digitale Infrastruktur sich wandelt von einem Etwas, das wir haben, zu einem Etwas, das uns hat.
Der Sinnüberschuss der digitalen Praktiken ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Digitalisierung, weil die analog kaum zugängliche Musterhaftigkeit das eigentliche Material der Digitalisierung darstellt. Digitalisierung reagiert damit auf die Unsichtbarkeit sozialer Systeme für sich selbst, denn in analogen Formen bleiben die Informationen über die Gesellschaft, die Organisation oder das → Individuum und die in ihnen enthaltenen jeweiligen Muster vielfach unsichtbar. Auf der Basis der digital zugänglichen und identifizierten Musterhaftigkeit bieten sich gesellschaftlichen Institutionen neue Möglichkeiten zu handeln. Beispiele dafür sind die individuell zugeschnittenen politischen Botschaften, die das Wählerverhalten beeinflussen, die Mustererkennung im Nutzungsverhalten von Konsumenten und die Anpassung entsprechender Werbeinhalte an individuelle Nutzer, die forensische Identifikation von Bewegungsprofilen durch Sicherheitsbehörden oder die Verbesserung der Diagnostik in der Medizin.
Die digital erkannten Muster führen zu neuen Optionen und Entscheidungslagen, auf die die heutige Gesellschaft und ihre Organisationen vielfach nicht vorbereitet sind. Transparente Dashboards, die in Echtzeit den Produktionstand zeigen, führen zu einer Beschleunigung und zu neuen Anforderungen an die Interpretations- und Entscheidungsfähigkeit sozialer Akteure. Wenn es zutrifft, dass »the data is not the meaning«, dann wird die Deutungs- und Handlungsfähigkeit sozialer Systeme wegen der Mehrfachkodierung von allem und der → Komplexität der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Perspektiven zur zentralen Herausforderung für gesellschaftliche Instanzen wie Organisationen, Familien und → Personen.
Hier eröffnet sich für systemisches Arbeiten, das nicht von Daten als objektiver »Wirklichkeit« an sich ausgeht, den Beobachter der Daten selbst als Teil der → Beobachtung begreift und keine simplen linearen Ursache-Wirkung-Zusammenhänge unterstellt, ein breites Betätigungsfeld, um Möglichkeiten der informationstechnischen (Weiter-)Verarbeitung der digitalen Transformation im Wirtschafts-, Gesellschafts-, Arbeits- und Privatleben zu gestalten und zu nutzen.
Drei Beispiele dazu:
- Neue Formen der Zusammenarbeit gewinnen durch die Digitalisierung und das Internet und dem damit verschärften Innovations- und Preiswettbewerb, rascheren Kundenwechsel und der höheren Preistransparenz enorm an Bedeutung. Für die gestiegenen kunden- und marktseitigen Ungewissheiten bieten agile Formen der → Führung und Zusammenarbeit mit den damit verbundenen iterativen Arbeitsweisen Möglichkeiten, den Anforderungen des digitalen Wandels zu begegnen. Für die Entwicklung entsprechender komplexitätsangemessener Kooperationsmuster bieten sich systemische Herangehensweisen aufgrund ihrer angemessenen Theoriekomplexität an.
- Organisationsintern wie auch -übergreifend wird Kooperation zukünftig durch die Digitalisierung deutlich höhere Prozesstransparenz mit sich bringen. In Steuerungscockpits oder Dashboards werden nicht nur die Selbst-, sondern auch die Fremdbeobachtung in der Zusammenarbeit mit Kunden und Kundinnen oder Zulieferern zu einer → Paradoxie der Offenheit führen. Die Kooperationspartner und -partnerinnen müssen sowohl Wissen teilen, um gemeinsam Wert zu schaffen, als auch ihr Wissen schützen, um für sich die zukünftige Wertschöpfung sicherzustellen. Solche paradoxen Fragestellungen verlangen zwingend komplexitätsangemessene Landkarten zur erfolgreichen Bearbeitung, weil sonst die Anforderungen an Gesellschaft, Organisationen und → Gruppen kaum zu bewältigen sein werden.
- In vielen Institutionen und insbesondere in der Arbeitswelt verändern sich Abläufe stark, wenn simple, repetitive Aufgaben digitalisiert werden. Wenn z. B. die Zeit- oder Rechnungserfassung nicht mehr händisch erfolgt und Mitarbeitende stattdessen höherwertige Aufgaben übernehmen. Die damit einhergehenden Veränderungsanforderungen für Organisationen, Teams und Personen sind enorm und nicht jeder möchte eine solche Veränderung oder ist dazu in der Lage.
Verwendete Literatur
Baecker, Dirk (2017): Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? In: Rainer Gläß u. Bernd Leukert (Hrsg.): Handel 4.0 Die Digitalisierung des Handels – Strategien, Technologien, Transformation. Berlin/Heidelberg (Springer), S. 3–24
Baecker, Dirk (2020): Die Digitalisierung der Arbeit. Verfügbar unter: https://kilpad.de/wp-content/uploads/2020/06/Baecker_Digitalisierung_der_arbeit_v1.6-1.pdf [07.01.2022].
Nassehi, Armin (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München (C. H. Beck).
Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a. M. (Campus).
Weiterführende Literatur
Daugherty, Paul R. a. H. James Wilson (2018): Human + Machine: Reimagining work in the age of AI. Boston (HBR Press).
Davenport, Thomas H., Paul Daugherty, H. James Wilson a. Michael E. Porter (2019): HBR’s 10 must reads on AI analytics, and the new machine age. Boston (HBR Press).
Iansiti, Marco a. Karim R. Lakhani (2020): Competing in the age of AI: strategy and leadership when algorithms and networks run the world. Boston (HBR Press).
Precht, Richard D. (2020): Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens: Ein Essay. München (Goldmann).