Soziales Atom

engl. social atom; (a) von Jacob Levy Moreno (1889–1974) geprägter Begriff für das Netz (Netzwerk) von Beziehungen, die für eine Person subjektiv relevant sind, (b) Technik der visuellen Darstellung dieses Beziehungsnetzes. Moreno betrachtet den Menschen als konstitutiv soziales Wesen und grenzt sich damit von der freudianischen Psychoanalyse seiner Zeit ab. Diese Haltung, aus der heraus er als einer der Ersten mit Paartherapie (Therapie) experimentiert und die Gruppenpsychotherapie (Psyche) begründet, macht ihn zu einem der historischen Wegbereiter systemischen (System) Denkens. Für Moreno ist jedes Individuum eingebunden in einen Nukleus von Beziehungen, den Moreno als »soziales Atom« bezeichnet. Dieses Konzept des sozialen Atoms (im Gegensatz zur gleichnamigen Technik, die weiter unten dargestellt wird) bezeichnet die Gesamtheit der zu einem gegebenen Zeitpunkt relevanten Beziehungen eines Menschen. In der Regel werden dies die Kernfamilie (Familie), Lebenspartner, enge Freunde, eventuell Kollegen etc. sein:


»Das soziale Atom umfasst den Kern aller Individuen, mit denen eine Person in einer emotionalen Beziehung steht oder die [...] mit ihm in Beziehung stehen« (Moreno 1977, S. 184).


Für die Zugehörigkeit zum sozialen Atom ist kein objektives Kriterium wie etwa das Ausmaß der tatsächlichen Interaktion entscheidend, sondern die subjektiv erlebte psychische Relevanz der Beziehungen. So können zum sozialen Atom eines Klienten auch Menschen zählen, mit denen sich der Klient eine Beziehung wünscht, weit entfernt lebende Menschen, ehemalige Partner oder Verstorbene. Das soziale Atom kann positive Beziehungen (emotionale Anziehung, Sympathie, Liebe ...) ebenso enthalten wie negative (emotionale Abstoßung, Antipathie ...).


In therapeutischen bzw. beraterischen Kontexten ist das soziale Atom aus Morenos Sicht von höchster Relevanz, da für ihn »nicht das Individuum, sondern das soziale Atom die kleinste Einheit« (Moreno 1981, S. 93) jeder psychologischen und soziologischen Betrachtung darstellt. Moreno beschreibt das soziale Atom als weitestgehend personenunabhängig und kommt damit neueren systemtheoretischen Perspektiven nahe:


»Wenn ein Mitglied es verlässt, tritt ein anderes Individuum, das eine ähnliche Rolle einnimmt, an seine Stelle. [...] Soziale Regeneration scheint fast automatisch einzusetzen« (ebd., S. 94); oder: »Die einzelnen Mitglieder mögen wechseln, die Konstellation bleibt [...] ungefähr gleich« (Moreno 1996, S. 370).


Dies gilt jedoch nur in Phasen psychischer und sozialer Stabilität – in Lebenskrisen (Krise) oder im Alter schrumpft das soziale Atom. Die verschiedenen Varianten, das soziale Atom einer Person zu visualisieren, werden ebenfalls mit dem Begriff »soziales Atom« bezeichnet. Methodologisch betrachtet, sind diese Techniken Varianten des bekannteren Soziogramms. Das soziale Atom ist eine gerade für die Einzeltherapie und -beratung (Beratung) hervorragend geeignete diagnostische Technik, die sich leicht anwenden lässt: In die Mitte eines größeren Papierbogens wird ein Symbol gezeichnet, das den Klienten repräsentiert. Die Personen, die der Klient als für sich und sein Leben am bedeutsamsten empfindet, werden um dieses Symbol herum gezeichnet, wobei die Entfernung emotionale Nähe bzw. Distanz ausdrückt.



Entsprechend der Qualität der jeweiligen Beziehung, werden der Klient und die anderen Personen mit Linien verbunden. Dabei werden die Selbstwahrnehmung (»Wie stehe ich zu der Person?«) und die eingeschätzte Fremdwahrnehmung (»Was glaube ich, wie die andere Person die Beziehung zu mir erlebt?«) berücksichtigt (siehe Abb.) Die Darstellungsweise kann je nach Zielsetzung und individueller Präferenz angepasst werden (positive Wahlen z. B. in grüner, negative Wahlen roter und Ambivalenz in gelber Farbe, unterschiedliche Linienstärke als Ausdruck für die Stärke der Emotion, Verwendung von Symbolen, Holzfiguren oder Knöpfen statt geometrischer Formen usw.). Das soziale Atom lässt sich unter verschiedenen Blickwinkeln auswerten. Mögliche Kriterien und Fragen, die gemeinsam mit dem Klienten näher beleuchtet werden können, sind:


a) Die Quantität der im sozialen Atom befindlichen Bezugspersonen: Wird die Person von ihrer Umgebung abgelehnt? Will oder kann sie nicht genügend Beziehungen aufbauen? Was sagt eine hohe Anzahl von Bezugspersonen über die Beziehungsgestaltung seitens des Klienten aus? Etc.


b) Die Qualität der Beziehungen: Wie viele als positiv/negativ erlebte Beziehungen gibt es? Wie ist das Verhältnis kongruenter (z. B. aufgrund gegenseitiger Sympathie), inkongruenter (A steht B positiv gegenüber, B lehnt A aber ab) und unerwiderter Beziehungen?


c) Die Entwicklung des sozialen Atoms über die Zeit hinweg: Wie sieht das Atom heute aus, wie sah es vor einem kritischen Lebensereignis (Umzug, Tod des Partners, Pensionierung ...) aus?


d) Ist-Zustand vs. mögliche alternative Wirklichkeiten: Welche Veränderungen wünscht sich der Klient in seinem Beziehungsnetz? Welche Veränderungen befürchtet er? e) Kohäsion: In welcher Beziehung zueinander stehen die Personen im sozialen Atom des Klienten?


Neben der klassischen Form gibt es eine Reihe methodischer Varianten:


• Arbeit mit Haftnotizen: Kulenkampff (1991) schlägt vor, mit einem in drei konzentrische Zonen eingeteilten Kreisdiagramm von 60 cm Durchmesser zu arbeiten. Die Bezugspersonen werden mit farbigen Haftnotizen dargestellt, sodass Veränderungen leicht durch Hin-und-Herschieben vorgenommen werden können. Dabei wird zwischen den Beziehungsfeldern »Familie«, »Beruf«, »Nachbarschaft«, »Sexualität« und »Kultur/Freizeit« unterschieden.


• Szenische Umsetzung: Das soziale Atom wird mit leeren Stühlen oder in Form einer Aufstellungsarbeit szenisch umgesetzt. Dabei exploriert der Klient die Beziehungen in seinem sozialen Atom mithilfe von Techniken aus dem Psychodrama wie dem Rollentausch, spontanen Dialogen mit den dargestellten Personen oder der Spiegeltechnik.


• Das Soziale-Netzwerk-Inventar (SNI; nach Kulenkampff 1991) erhebt vier soziale Atome des Klienten (vom Autoren als »Quadranten« bezeichnet), die mithilfe von Fragebogen erfasst werden: den psychologischen Quadranten (signifikante Personen, die das Leben des Klienten beeinflussen), den kollektiven Quadranten (Gruppen, denen der Klient angehört und die sein Leben beeinflussen), den individuellen Quadranten (Menschen aus dem kollektiven Quadranten, zu denen der Klient eine Freundschaft entwickelt) und den Wunschtraumquadranten (die kleinste Anzahl von Personen, die nach der Einschätzung des Klienten sein Leben »perfekt« machen würden). Die Selbst- und die wahrgenommene Fremdeinschätzung werden auf einer 7-stufigen Skala erhoben.


• Das Netzwerk-Coaching-System: Stimmer und Stimmer (2008) haben eine Software entwickelt, mit der sich soziokulturelle Atome gemeinsam mit dem Klienten am Computer erstellen und verändern lassen (Demoversion unter www.netzwerk-coaching-system.de [28.09.2020]).


• Auch die VIP-Karte von Johannes Herwig-Lempp basiert auf denselben Prinzipien.


Darüber hinaus steht es dem Anwender frei, eigene Varianten zu entwickeln.


Verwendete Literatur


Königswieser, Roswitha u. Jürgen Pelikan (2006): Anders – gleich – beides zugleich. Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Gruppendynamik und Systemansatz. In: Martin Hillebrand, Ebrû Sonuç u. Roswitha Königswieser (Hrsg.): Essenzen der systemischen Organisationsberatung. Konzepte, Kontexte und Kommentare. Heidelberg (Carl-Auer), S. 26–57.


Kulenkampff, Miguel (1991): Das »Soziale Netzwerk Inventar – SNI«. Psychodrama 4 (2): 173–184.


Moreno, Jacob Levy (1977): Die Psychiatrie des zwanzigsten Jahrhunderts als Funktion der Universalia Zeit, Raum, Realität und Kosmos. In: Hilarion Petzold (Hrsg.): Angewandtes Psychodrama in Therapie, Pädagogik und Theater. Paderborn (Junfermann), S. 101–112.


Moreno, Jacob Levy (1981): Soziometrie als experimentelle Methode. Paderborn (Junfermann).


Moreno, Jacob Levy (1996): Die Grundlagen der Soziometrie. Wege zur Neuordnung der Gesellschaft. Opladen (Leske & Budrich), 2. Aufl.


Stimmer, Franz u. Ernst Stimmer (2008): »Soziokulturelle Atome« computergestützt? Das Netzwerk-Coaching-System (NCS). Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie 7 (2): 281–290.


Weiterführende Literatur


Ameln, Falko von, Ruth Gerstmann u. Josef Kramer (2009): Psychodrama. Heidelberg (Springer), 2. Aufl. »Soziales Atom« (1991): Themenheft Psychodrama 4 (2).