Ambivalenz

engl. ambivalence, franz. ambivalence f, von lat. ambo = »beide« und lat. valeo = »ich bin wert, bedeute, gelte«; ist in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Referenzbegriff in unterschiedlichen human- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen und Professionen geworden. So konstatiert der Philosoph Wolfgang Welsch (1990, S. 192), dass »Ambivalenz [...] das Mindeste (ist), womit man bei den gegenwärtigen Weltverhältnissen rechnen muss«. Daher sei heute keine »Wirklichkeitsbeschreibung tragfähig [...], die nicht zugleich die Plausibilität der Gegenthese verfolgt« (ebd.). Dirk Baecker (2004, S. 14) hält aus der Perspektive seiner Disziplin fest, dass es nichts gebe, »was ein Soziologe [...] nicht sofort als ambivalent betrachten könnte. Er hält jede Eindeutigkeit für einen Fehler«. Wir können jedoch nicht nur von einer »ambivalenten Gesellschaftlichkeit« (Junge 2000; Gesellschaft) ausgehen, sondern ebenso zeigen sich individuelle (Individuum) Prozesse des Denkens und Handelns als von Ambivalenz gekennzeichnet. Daher ist es nicht zufällig, dass das Ambivalenzkonzept eine seiner Wurzeln in der Psychoanalyse hat; dort bezeichnet es insbesondere konfligierende, widerstreitende Gefühle (Bauriedl 1980, S. 30; Luthe u. Wiedenmann 1997, S. 18).


Mit der Differenztheorie Georg Spencer-Browns (1996) lässt sich Ambivalenz als ein Formbegriff verstehen (Kleve 2007, S. 21 ff.). Eine Form ist eine Unterscheidung, die zwei Seiten hervorbringt, von denen mindestens eine, bei einer Ambivalenz jedoch beide Seiten bezeichnet werden – wie z. B. die Unterscheidungen Mann/Frau, Problem/Lösung, Theorie/Praxis. Obwohl zur Bestimmung eines Phänomens jeweils nur eine Bezeichnungsseite benutzt wird (Frau und nicht Mann, Problem und nicht Lösung, Theorie und nicht Praxis), wird die nicht benutzte Seite bei jeder Bestimmung mitgeführt. Jeder Begriff verweist damit zugleich auf seinen Gegenbegriff, der den Begriff und seine Bedeutung erst konturiert. Der Begriff »Problem« verweist also zugleich auf »Lösung«. Beide Begriffe konstituieren sich gegeneinander, grenzen sich mithin voneinander ab, sind aber zugleich untrennbar aufeinander bezogen. Ohne Probleme gibt es keine Lösungen, ohne Lösungen keine Probleme. Ebenso verhält es sich beispielsweise mit den Begriffspaaren Frau und Mann sowie Theorie und Praxis. Solange die Bezeichnungsseiten klar voneinander getrennt sind, sich eindeutig voneinander abgrenzen lassen, ist die Ordnung gesichert. Ein Problem ist eben ein Problem und keine Lösung. Eine Frau ist eben eine Frau und kein Mann. Eine Theorie ist eben eine Theorie und keine Praxis. Ambivalenz kommt ins Spiel, wenn die Grenzen zwischen den Unterscheidungsseiten diffundieren, wenn wir z. B. sagen, dass eine Frau auch männlich ist und ein Mann auch weiblich. Noch uneindeutiger wird es, wenn die Kategorien »männlich« und »weiblich« als geschlechtsidentifizierende Schablonen gänzlich infrage gestellt werden oder versagen, wie dies in den Gender-Studien oder in der Queer-Theorie diskutiert wird (siehe etwa Perko u. Czollek 2004). Die Ordnung der Bezeichnungen wird ebenso gestört, wenn wir sehen, dass Probleme immer auch Lösungen sind und dass Lösungen zugleich Probleme sein können, wie uns dies die funktionale Analyse der Systemtheorie plausibel macht (siehe Luhmann 1984, S. 83 ff.). Die Eindeutigkeit löst sich schließlich auch auf (und die Liste der Begriffspaare ließe sich freilich fortsetzen), wenn deutlich wird, dass die Praxis zugleich theoretisch und die Theorie zugleich eine Praxis ist, wie Heinz J. Kersting (1996) am Beispiel des Praxisbezugs in der Lehre deutlich macht.


Ambivalenzen zeigen sich dann, wenn die zunächst nicht benutzte andere Seite der jeweiligen Unterscheidung nicht mehr ausgeblendet werden kann, sondern mit dem einen Begriff, der sich grundsätzlich von ihr unterscheiden soll, selbst ins Spiel kommt. Mit Zygmund Bauman (1991, S. 13 f.) können wir sagen, dass eine Situation ambivalent wird,


»wenn die sprachlichen Werkzeuge der Strukturierung sich als inadäquat erweisen; entweder gehört die Situation zu keiner der sprachlich unterschiedenen Klassen oder sie fällt in verschiedene Klassen zugleich [...]; was immer der Fall ist, das Ergebnis ist das Gefühl der Unentschiedenheit, Unentscheidbarkeit und infolgedessen des Verlustes an Kontrolle.«


Jacques Derrida umschreibt das Aufleuchten der Ambivalenz, wenn er deutlich macht, dass Begriffsgegensätze zunächst und normalerweise durch eine Hierarchie (etwa Mann, nicht Frau; Praxis, nicht Theorie; Lösung, nicht Problem) gekennzeichnet sind: »Einer der beiden Ausdrücke beherrscht (axiologisch, logisch usw.) den anderen, steht über ihm« (1972, S. 88). Die Ambivalenz entsteht mit der Dekonstruktion, dem Umsturz dieser Hierarchie. Dadurch gerät eine Symmetrie von mindestens zwei gegensätzlichen Positionen in den Fokus: zugleich Mann und Frau, zugleich Problem und Lösung, zugleich Theorie und Praxis.


Eine ambivalente Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass in der Beobachtung einer Situation, eines Ereignisses, einer Handlung, einer gesellschaftlichen Praxis zwei oder mehr gegensätzliche, sich widersprechende Blickpunkte, Beobachtungen bzw. Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen gleichermaßen plausibel erscheinen. Das Charakteristische einer ambivalenten Situation ist nun das Oszillieren, das permanente Kreuzen zwischen den unterschiedlichen, aber gleichermaßen plausiblen Möglichkeiten. In diesem Sinne kann eine Ambivalenz auch wie die Betrachtung eines Vexierbildes verstanden werden: Sobald sein Betrachter sieht, dass es sich um verschiedene, zwar nicht zeitgleich beobachtbare, aber sich gegenseitig voraussetzende Bilder handelt, kann er kaum noch anders, als immer wieder zwischen den beiden Betrachtungsmöglichkeiten hin und her zu oszillieren. Weil nicht beide Bilder (Seiten, Ausdrücke, Bedeutungen etc.) zeitgleich fixiert werden können, stellt sich »die Hierarchie des dualen Gegensatzes [...] immer wieder her« (Derrida 1972, S. 88). Ähnlich könnte mit Dietmar Kamper (1984, S. 169) metaphorisch formuliert werden, dass die Ambivalenz, dass das


»bestimmte Unbestimmte der Realität [...] wie ein maskierter Gegenstand (wirkt), wie eine Kipp-Bilder-Realität, die den Betrachter vexiert, der noch an Standpunkte und Perspektiven gewöhnt ist.«


In der Praxis haben wir mit Ambivalenz insbesondere im Kontext von Entscheidungen zu tun, und dies aus zwei Gründen: Entscheiden müssen wir nur, wenn wir erstens mindestens zwischen zwei Möglichkeiten wählen können und wenn sich zweitens diese Wahl nicht von selbst versteht, wenn und weil sie eben eine Entscheidung voraussetzt. Systemische Berater und Therapeuten (Beratung, Therapie) gelten als Anwälte der Ambivalenz. In scheinbar eingefahrenen, eindeutigen und in problematischer Weise optionsfreien Situationen helfen (Helfen) sie ihren Adressaten dabei, die Ambivalenz wieder zu sehen, also die Parallelität von zwei oder bestenfalls noch weiteren Möglichkeiten des Denkens und Handelns. Sie unterstützen zudem dabei, dass Klienten mit der wiederentdeckten Ambivalenz passend umgehen können, dass sie mithin Entscheidungen treffen können, die sie nachhaltig als passend bewerten. Dem geht freilich eine ausgiebige Reflexion voraus, die z. B. mit dem Tetralemma sehr gut realisiert werden kann.


Verwendete Literatur


Baecker, Dirk (2004): Wozu Soziologie? Berlin (Kadmos).


Bauman, Zygmunt (1991): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt a. M. (Fischer).


Bauriedl, Thea (1980): Beziehungsanalyse. Das dialektisch-emanzipatorische Prinzip der Psychoanalyse und seine Konsequenzen für die psychoanalytische Familientherapie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Derrida, Jacques (1972): Positionen. Graz/Wien (Passagen).


Junge, Matthias (2000): Ambivalente Gesellschaftlichkeit. Die Modernisierung der Vergesellschaftung und die Ordnungen der Ambivalenzbewältigung. Opladen (Leske & Budrich).


Kamper, Dietmar (1984): Nach der Moderne. Umrisse einer Ästhetik des Posthistoire. In: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Berlin (Akademie), S. 163–174.


Kersting, Heinz J. (1996): Der Praxisbezug der Lehre in der Sozialen Arbeit. In: Fachhochschule Köln, Fachbereich Sozialarbeit (Hrsg.): Theorie – Praxis. Zusammenhänge – Widersprüche – Komplementarität. Köln, S. 4–11.


Kleve, Heiko (2007): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. Wiesbaden (VS).


Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Luthe, Heinz O. u. Rainer E. Wiedenmann (Hrsg.) (1997): Ambivalenz. Studien zum kulturtheoretischen und empirischen Gehalt einer Kategorie der Erschließung des Unbestimmten. Opladen (Leske & Budrich).


Perko, Gudrun u. Lea Czollek (Hrsg.) (2004): Lust am Denken. Queeres jenseits kultureller Verortungen. Köln (PapyRossa).


Spencer-Brown, George (1996): Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft. Heidelberg (Carl-Auer).


Welsch, Wolfgang (1990): Identität im Übergang. Philosophische Überlegungen zur aktuellen Affinität von Kunst, Psychiatrie und Gesellschaft. In: Wolfgang Welsch (Hrsg.) (2010): Ästhetisches Denken. Stuttgart (Reclam), 7. Aufl., S. 168–200.


Weiterführende Literatur


Jekeli, Ina (2002): Ambivalenz und Ambivalenztoleranz. Soziologie an der Schnittstelle von Psyche und Sozialität. Osnabrück (Der Andere Verlag).