Kybernetik

engl. cybernetics, franz. cybernétique f, von griech. kybernētikḗ téchnē = »Steuermannskunst« und kybernētikós = »zum Steuern gehörig, geeignet«, abgeleitet von griech. kybernān = »steuern, leiten, regieren«; geht zurück bis zu Platon, der den Begriff u. a. zur Bezeichnung der Kunst der Staatenlenkung benutzte, und bezeichnet eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich mit der Erforschung selbsttätiger Steuerung und Regelung des Verhaltens technischer, biologischer und sozialer → Systeme (→ Sozialsystem) befasst – auch bekannt als Lehre selbstregulierender Systeme. Ferner ist die Kybernetik eine intellektuelle Bewegung, die aus einem Austausch von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen → Forschungsbereichen resultierte.
Der amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener (1894–1964) gab der Kybernetik mit seinem 1948 erschienenen gleichnamigen Buch ihren Namen. Analog dazu prägte der österreichische Physiker Heinz von Foerster (1911–2002), angeregt durch Margret Mead (Müller u. Müller 2011, S. 551 ff.; vgl. auch von Foerster u. Bröcker 2002, S. 251 ff.), mit seinem gleichnamigen Buch die »Kybernetik der Kybernetik«. Kurz darauf folgte die logische Hierarchisierung und damit einhergehende Unterscheidung zwischen Kybernetik 1. Ordnung und Kybernetik 2. Ordnung (Kybernetik der Kybernetik), die von Foerster selbst später als Fehler bezeichnet, da sie weitere Ordnungen einlade (ebd.; Bröcker 2002, S. 56). Wiener und von Foerster haben die beiden Begrifflichkeiten geprägt und wesentliche Beiträge zur Entwicklung der Kybernetik geleistet, jedoch ist die Kybernetik das Resultat eines internationalen und interdisziplinären Austausches einer Vielzahl an Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen über Jahrzehnte hinweg. Es handelt sich um eine Entwicklung, die kaum linear nachverfolgt werden kann und sich nur schwer auf allgemeingültige Aussagen festlegen lässt. So gingen auch die Entwicklungen des radikalen → Konstruktivismus, der neueren Systemtheorie (Luhmann 1997) und der Kybernetik stark miteinander einher, bedingten sich wechselseitig und lassen sich nur schwer genau voneinander abgrenzen. Auch bezüglich einer Definition lassen sich diverse Versuche von den maßgeblich an der Entwicklung beteiligten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen finden. Von Foerster weist darauf hin, dass gerade diese Diversität das Faszinierende an der Kybernetik sei: Man erfahre beim Erfragen einer Definition wenig über Kybernetik, jedoch viel über die Antwort Gebenden sowie ihren jeweiligen Bezug zur Kybernetik (vgl. hierzu ausführlich von Foerster u. Pörksen 1998, S. 105–121) und wechselt damit, bereits ganz im Sinne der Kybernetik 2. Ordnung, den Fokus weg von der Frage danach, was ist, hin zu der Frage danach, wie wir erkennen.
Kybernetik 1. Ordnung, auch bekannt als Theorie beobachteter Systeme (von Foerster 1974, S. 1), bezeichnet die Lehre selbstregulierender Systeme, bei denen die Beobachtenden (→ Beobachtung) selbst nicht Teil des beobachteten Systems sind, wie es bei technischen und biologischen Systemen der Fall ist. Zu Beginn der Entwicklung befassten sich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vordergründig mit Fragen der Steuerung und Regelung lebender Organismen und Maschinen, wie → Netzwerken von Nervenzellen, der Temperaturregelung und des Blutkreislaufs eines menschlichen → Körpers bzw. der Zielsteuerung und des Abfeuerns von Flugabwehrgeschützen, Thermostaten, die die Wärmezufuhr von Heizungen regulieren und Drehzahlregelung von Dampfmaschinen anhand von Fliehkraftreglern. Eine neue Idee, die die Kybernetik dabei verfolgte, war, dass die Regeln der Kontrolle universal sind und für organische und nicht-organische Systeme gleichermaßen gelten. Bezeichnend für kybernetische Systeme ist, dass sie dazu tendieren, anhand von negativer Rückkopplung (→ Kopplung) einen Gleichgewichtszustand aufrechtzuerhalten. Negative Rückkopplung, auch als → Feedback bezeichnet (im heutigen Alltagssprachgebrauch meist im Sinne von Rückmeldung verwendet), meint dabei den Vorgang des rückbezüglichen Korrigierens von Prozessen und trägt zur Stabilität eines Systems bei (Bateson 1985, S. 158; 605). Das 1956 von Ashby geprägte Konzept der Homöostase beschreibt diese Fähigkeit lebender Organismen, einen stabilen Gleichgewichtszustand anhand von negativer Rückkopplung aufrechtzuerhalten. Im Zusammenhang mit der Kybernetik wurde das Konzept auch auf technische und soziale Systeme übertragen. Anhand positiver Rückkopplung wird in Bezug auf soziale Phänomene (wie → Konflikte) eine Verhaltensweise vermehrt, was mit einer sich verstärkenden, eskalierenden Dynamik einhergeht – auch bezeichnet als Schismogenese (Bateson 1985, S. 158; vgl. auch Lutterer 2002, S. 55; Nagel 2021, S. 56) oder umgangssprachlich als Teufelskreis. Weitere zentrale Ideen der Kybernetik sind neben der Rückkopplung die damit einhergehende Idee der Zirkularität und der Begriff des Unterschieds (Ashby 1974; Spencer-Brown 1969; Bateson 1985, S. 582). Die Kybernetik findet heute in vielen verschiedenen Bereichen Anwendung, z. B. in der Technik, Wirtschaft, Medizin, Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft.
Kybernetik 2. Ordnung, auch bekannt als Kybernetik der Kybernetik und als Kybernetik beobachtender Systeme (von Foerster 1974, S. 1), bezeichnet die Lehre selbstregulierender Systeme, die aus untersuchtem System und Beobachtenden bestehen, sowie eine Epistemologie und intellektuelle Bewegung, die mit einem Paradigmenwechsel einhergeht. Die Entwicklung hin zur Kybernetik 2. Ordnung geht neben von Foerster auf eine Reihe von Konferenzen von 1946 bis 1953 zurück. Bei den als legendär in die Geschichte eingegangenen zehn Macy-Konferenzen kamen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen zusammen, die die Kerngedanken der Kybernetik in einem interdisziplinären Austausch entwickelten. Unter den Teilnehmenden fanden sich neben Wiener und von Foerster unter anderem John von Neumann, Warren McCulloch, Paul Lazarsfeld, Claude E. Shannon, Ross B. Ashby sowie das damalige Anthropologenpaar Margaret Mead und Gregory Bateson.
Waren die Beobachtenden bei technischen und biologischen Systemen noch außen vor, wird bei der Betrachtung von sozialen Systemen plötzlich die Rolle der Beobachtenden selbst zentral. An die Stelle der ontologischen Frage, was ist, rückt damit die epistemologische Frage, wie wir erkennen. Von Foerster über die damalige Zeit: »Hier ging es nicht um ein Etwas, hier ging es ums Sehen« (Pias 2003, S. 19). Die Entwicklung vollzieht einen Paradigmenwechsel, eine epistemologische Wende, die sich von der bis heute im Alltags- und Wissenschaftsverständnis häufig gängigen aristotelischen linear-kausalen Logik und eindeutigen Ursache-Wirkungs-Zuschreibungen zugunsten einer systemisch-mehrwertigen Logik und ganzheitlichen Betrachtungsweise abgrenzt. Diese neue Denkweise geht mit grundlegenden theoretischen und praktischen Konsequenzen einher: Die eigene Rolle beim Beobachten und Erkennen, der eigene blinde Fleck und somit das Nichtwissen müssen möglichst mitreflektiert werden. Beobachtungen und Vorgaben sind nicht mehr absolut, sondern stehen zur Disposition. Die klare Trennung und der Dualismus von Subjekt und Objekt, von Geist und Materie sowie von Beobachtenden und Beobachtetem verschwinden zugunsten einer neuen, kybernetischen Epistemologie. Diese prägt im weiteren Verlauf maßgeblich das Neurolinguistische Programmieren von Bandler und Grinder (1981), die Kommunikationstheorien Watzlawicks (1969) und Schulz von Thuns (1981), sowie die systemischen Ansätze.
In Bezug auf praktische Interventionen legt eine kybernetische Erkenntnistheorie Lösungsfokussierung an Stelle von Ursachenforschung nahe sowie die Berücksichtigung blinder Flecke und der Rückbezüglichkeit von Verhalten in sozialen Systemen, Selbstbeobachtung und die Reflexion von Beobachtungen. Kybernetische Prämissen, die sich in der systemischen Praxis wiederfinden lassen, sind die Berücksichtigung zirkulärer Zusammenhänge, die Rolle der Beobachtenden sowie die Bedeutung der eigenen Verhaftung in der Welt. Neuere Untersuchungen zeigen, dass sich in der Praxis erprobte Konfliktlösungsverfahren – wie Mediation (nach v. Hertel 2003), Faires Streiten (Willms u. Risse 2011) und Gewaltloser Widerstand (Omer u. v. Schlippe 2004) – anhand kybernetischer Konzepte theoretisch fundieren lassen (Nagel 2021).
Untrennbar von der neuen Denkweise sind die Verpflichtung zur Selbstreflexion und damit zusammenhängende Fragen der Ethik. Wiener weist bereits 1961 im Vorwort der Neuauflage von »Kybernetik« darauf hin, dass die Entwicklungen der Kybernetik ein positives sowie auch ein negatives Potenzial bergen. Von Foerster befasst sich später ausführlich mit dem Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Ethik (1993a, 1993b). Die damit einhergehende gesellschaftliche Relevanz der kybernetischen Erkenntnistheorie (s. hierzu Bateson 1985, S. 435) hat bis heute, in Anbetracht des Klimawandels, gesellschaftlicher Konflikte und wirtschaftlicher Probleme, nicht an Aktualität verloren.
Verwendete Literatur
Ashby, W. Ross (1974): Einführung in die Kybernetik. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 2. Aufl. 1985. [Orig. (1956): An introduction to cybernetics. London (Chapman & Hall Ltd.).]
Bandler, Richard u. Grinder, John (1981): Metasprache und Psychotherapie. Die Struktur der Magie I. Paderborn (Junfermann). [Orig. (1975): The structure of magic I: A book about language and therapy. Michigan (Science and Behavior Books).]
Bateson, Gregory (1985): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 6. Aufl. 1996. [Orig. (1972): Steps to an ecology of mind. Collected essays in anthropology, psychiatry, evolution and epistemology (Chandler Publishing Company).]
Foerster, Heinz von (1974): Cybernetics of Cybernetics or the control of control and the communication of communication. Minneapolis (Future Systems), 2. Aufl. 1995.
Foerster, Heinz von (1993a): KybernEthik. Berlin (Merve Verlag).
Foerster, Heinz von (1993b): Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Foerster, Heinz von u. Monika Bröcker (2002): Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Heidelberg (Carl-Auer).
Foerster, Heinz von u. Bernhard Pörksen (1998): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Heidelberg (Carl-Auer).
Glasersfeld, Ernst von (1992): Declaration of the american Society for Cybernetics. In: Negioţă, Constantin V. (ed.): Cybernetics and applied systems. New York (Marcel Decker), pp. 1–5.
Hertel, Anita von (2003): Professionelle Konfliktlösung. Führen mit Mediationskompetenz. Frankfurt a. M. (Campus), 3., überarb. Aufl. 2013.
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Lutterer, Wolfram (2002): Gregory Bateson. Eine Einführung in sein Denken. Heidelberg (Carl-Auer), 2., erw. Aufl. 2009.
Mead, Margaret (1968): The cybernetics of cybernetics. In: Heinz von Foerster a. American Society for Cybernetics (eds.): Purposive Systems. Proceedings of the 1st annual symposium of the American Society for Cybernetics. New York (Spartan Books), pp. 1–11.
Müller, Albert u. Karl H. Müller (2011): Systeme beobachten. Über Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Kybernetik zweiter Ordnung und Konstruktivismus. In: Bernhard Pörksen (Hrsg.): Schlüsselwerke des Konstruktivismus. Wiesbaden (Springer VS), 2., erw. Aufl. 2015.
Nagel, Lina (2021): Kybernetik, Kommunikation und Konflikt. Gregory Bateson und (s)eine kybernetische Konflikttheorie. Heidelberg (Carl-Auer).
Omer, Heim u. Arist von Schlippe (2004): Das Handbuch zum Gewaltlosen Widerstand. Eine Anleitung für Eltern. In: dies. (Hrsg.): Autorität durch Beziehung. Gewaltloser Widerstand in Beratung und Therapie. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 3. Aufl. 2006.
Pias, Claus (2003): Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953 (Band 1). Zürich/Berlin (Diaphanes).
Pörksen, Bernhard (1998): Die Entdeckung des Möglichen. Über den Kybernetiker und Erfinder Heinz von Foerster. Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen 1: 62–67.
Schulz von Thun, F. (1981): Miteinander reden 1-3: Störungen und Klärungen/Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung/Das »Innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Hamburg (Rowohlt).
Spencer-Brown, George (1969): Laws of Form. London (Allen & Unwin).
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Wiener, Norbert (1992): Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Mensch und Maschine. Düsseldorf (Econ). [Orig. (1948): Cybernetics or control and communication in the animal and the machine. New York (Wiley).]
Willms, Siglind u. Johannes Risse (2011): Das Ritual »Fair Fight« (Faires Streiten). In: dies. (Hrsg.): Zum Frieden befreien. Selbsthilfe durch Co-Counselling. Fühlen, Denken und Handeln versöhnen. Osnabrück (Sozio-Publishing), 3., überarb. Aufl. 2014, S. 176–189.
Weiterführende Literatur
Günther, Gotthard (1978): Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik. Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen. Hamburg (Meiner).
Levold, Tom (2014): Kommunikation und Beobachtung: Die Kybernetik 2. Ordnung. In: ders. u. Michael Wirsching (Hrsg.): Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch. Heidelberg (Carl-Auer), S. 53–58.
Malik, Friedmund (1984): Strategie des Managements komplexer Systeme. Ein Beitrag zur Management-Kybernetik evolutionärer Systeme. Bern (Haupt), 11. Aufl. 2015.
Pörksen, Bernhard (2011): Schlüsselwerke des Konstruktivismus. Wiesbaden (Springer VS), 2., erw. Aufl. 2015.
Simon, Fritz B. (2006): Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Heidelberg (Carl-Auer), 9. Aufl. 2020.
Walker, Wolfgang (1996): Abenteuer Kommunikation. Bateson, Perls, Satir, Erickson und die Anfänge des Neurolinguistischen Programmierens (NLP). Stuttgart (Klett-Cotta), 7. Aufl. 2017.