Arbeitslosigkeit

engl. unemployment, franz. chômage m. Unter Arbeit kann jede zweckgebundene und zielgerichtete (→ Ziel) menschliche Tätigkeit verstanden werden. Das gemeingerm. Ar[e]beit »bedeutete ursprünglich im Deutschen noch bis in das Nhd. hinein ›schwere körperliche Anstrengung, Mühsal, Plage‹«. Im Laufe der Jahrhunderte verlor es »weitgehend den herabsetzenden Sinn« und »bezeichnete nun die zweckmäßige Beschäftigung und das berufliche Tätigsein des Menschen« (Duden 2007). Längst schon spielt Arbeit eine zentrale Rolle im Leben jedes → Individuums und in der → Gesellschaft. Arbeit als Erwerbstätigkeit hat nach Senghaas-Knobloch (1998, S. 13) vier → Funktionen: Erwerbssicherung, psychosoziale (→ Psyche; → Kopplung;  Sozialsystem) Funktionen, bürgerliche Integration, Sicherung des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements. Arbeitslosigkeit bezeichnet die Abwesenheit einer Erwerbstätigkeit und setzt damit Arbeit und Erwerbstätigkeit gleich. In Deutschland wird nach SGB III § 16 als ar­beits­los definiert, wer vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht, eine versicherungspflichtige Beschäftigung sucht, dabei den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht und sich bei der Agentur für Arbeit als ar­beits­los gemeldet hat. Diese → Gruppe erhält zur materiellen Absicherung Lohn­er­satz­leistungen (Arbeitslosengeld I) oder Leistungen nach dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (auch Hartz-IV genannt) (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. 2007, S. 57). Aus volkswirtschaftlicher Sicht besteht Arbeitslosigkeit, wenn das Arbeitskräfteangebot die Nachfrage nach Arbeits­kräften signifikant übersteigt.


Systemische (→ System) → Beratung beschäftigt sich mit Arbeitslosigkeit vor allem im Hinblick auf das arbeitslose Individuum und seine → Lebenswelt. Schon die klassische soziologische Studie Die Arbeitslosen von Marienthal von Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld u. Hans Zeisel aus den Jahren 1931–1934 (Jahoda et al. 1975) themati­siert die enormen individuellen, familiären und sozialen Auswirkungen von Ar­beits­losigkeit. Aus systemischer Sicht kann Arbeitslosigkeit Auswirkungen haben, die alle Lebensbereiche betreffen:



  • soziale Einbindung, soziale Kontakte (Arbeitslosigkeit als → Exklusion; → Inklusion)

  • soziale Anerkennung

  • Kompetenzerleben (Bewältigung von Arbeitsaufgaben) und Möglichkeit der Kompetenzentwicklung (Wachstum)

  • → Sinn: Erleben, durch Arbeit gesellschaftlich etwas Nützliches beizutragen

  • Selbstwirksamkeit (z. B. eingeschränkte Selbstwirksamkeit bei andauernder Arbeitslosigkeit und vielen gescheiterten Bewerbungsversuchen, → Opfererleben, erlernte Hilflosigkeit)

  • Lebensstrukturierung (z. B. Verlust von → Zeitstruktur)

  • Identität (Beitrag der beruflichen → Rolle zur eigenen Identität)

  • sozialer Status (z. B. Zuschreibung von Kompetenzen),

  • gesellschaftliche Teilhabe (z. B. reduziert durch eingeschränkte materielle → Ressourcen)

  • Gesundheit/→ Krankheit (z. B. Kündigung als traumatisierende → Krise; Absagen nach Bewerbungen als Mikrotraumata; → Abhängigkeit als Versuch der Bewältigung von Arbeitslosigkeit mit Suchtmitteln; Arbeitslosigkeit als chro­nifizierter Stresszustand)

  • Zukunftsorientierung (Vorherrschen von düsteren Zukünften)

  • → Familie und Partnerschaft (z. B. → Konflikte auf → Paarebene)

  • Erziehung, Werte (selbst gewählte Arbeitslosigkeit als Lebensentwurf, → Sozialisation in Familien mit langzeitarbeitslosen Eltern; → Elternschaft).


Arbeitslosigkeit wird aus systemischer Sicht dann zum → Problem, wenn es einen Beobachter gibt, der sie als Problem erlebt und definiert, z. B. der Arbeitslose selbst, Familienmitglieder oder gesellschaftliche Funktionsträger (z. B. Helfersysteme, welche von Dritten beauftragt, → Auftrag, mit Arbeitslosen arbeiten, vgl. die Diskussion über »unverschuldete« vs. »selbst gewählte« Arbeitslosigkeit). Zum Problemzustandserleben bei Arbeitslosigkeit gehört für den Betroffenen, dass es die genannte Soll-Ist-Diskrepanz gibt (Arbeit/keine Arbeit), welche mit vielfachen → Lösungsversuchen (z. B. Bewerbungen, Qualifizierungen) bisher nicht aufgelöst werden konnte; dass diese Diskrepanz und ihre Auswirkungen für den Beobachter bedeutsam sind und mit entsprechenden Musterelementen einhergehen wie Tunnelblick auf den Sachverhalt, Selbstabwertung, Opfererleben, defizitäre Erklärungen, Emotionen, physiologische Prozesse usf. (Schmidt 2010). Selbstrückbezüglich reduziert eine dadurch initiierte »Problemtrance« die Wahrscheinlichkeit einer Lösung.


Systemische Arbeit mit Arbeitslosen kann sich an drei sich ergänzenden Ziel­bereichen orientieren:



  • Veränderung des Sachverhaltes »Arbeitslosigkeit« (Auflösung der Soll-Ist-Diskrepanz): Auflösung der Problemtrance durch Erarbeitung einer Zielvision, Fokus auf Ausnahmen und gelebte Kompetenzen und Ressourcen in der Vergangenheit, die für den Erhalt einer Erwerbstätigkeit nützlich sein könnten, sowie kleine Schritten hin zur Zielvision mit der Organisation von → Feedbacks. Hier können beispielsweise die → Wunderfrage, → Skalierungen, Res­sour­cen­fragen, Bewältigungsfragen, hypothetische Fragen (→ Hypothetisieren), Ausnahmefragen sowie → Metaphern eingesetzt werden. Diese Veränderung lädt den Klienten im Sinne eines → Empowerments dazu ein, eigene Möglichkeiten zu erkennen und zu nutzen.

  • Neurahmung (→ Umdeutung) des noch andauernden Sachverhaltes »Arbeits­losigkeit« und/oder der Reaktionen auf den Sachverhalt: mit viel wertschätzendem Pacing – d. h. einem Mitgehen im verbalen und nonverbalen Ausdrucksverhalten – für das Leid des Klienten oder der Klientin werden Angebote dafür gemacht, welche Bedeutung dem Sachverhalt noch gegeben werden könnte: Welche Chance könnte in der → Krise »Arbeitslosigkeit« stecken? Für welches Wachstum könnte sie genutzt (utilisiert; → Utilisation) werden? Bewerbungsgespräche als »Trainingsmöglichkeit«: Welche entlastenden Erklärungen könnte es für den Sachverhalt geben (z. B. Arbeitsmarkt)? Umdeutung der Reaktionen auf den Sachverhalt (über die Gefühle; → Gefühl): Reaktionen wie Gefühle, Selbst­abwertungen werden beispielsweise normalisiert und als kompetenter Ausdruck achtenswerter Bedürfnisse gedeutet.

  • Umgang (Coping) mit dem noch andauernden Sachverhalt Arbeitslosigkeit. Angesichts eines andauernden erfolglosen Bewerbens hat man es als Berater oder Beraterin (→ Beratung) oft mit dem Auftragsmuster »sich Beklagender« zu tun (»Die einstellenden Firmen sollen sich ändern«), verbunden mit einem ausgeprägten Opfererleben (»Ich kann nichts tun!«). In diesem Fall kann an einer »zweitbesten Lösung« (im Verhältnis zum Sehnsuchtsziel »Erwerbsarbeit«) ge­arbeitet werden, nämlich am Umgang mit dem Sachverhalt »Arbeitslosigkeit«, solange er noch anhält (Schmidt, Dollinger u. Müller-Kalthoff 2010, S. 77). Dies kann beispielsweise sein, »Arbeit« nicht ausschließlich als »Erwerbstätigkeit« zu definieren, sondern auch andere Tätigkeiten mit einzubeziehen (Ehrenamt, soziales oder ökologisches Engagement, Kunst, Bildung), sodass die beiden Funktionen »Psychosoziales« sowie »bürgerliche Integration« gewährleistet werden können. Dies wird auch auf gesellschaftlicher Ebene angesichts der knapper werdenden Erwerbsarbeit diskutiert (Littig u. Spitzer 2011).


Verwendete Literatur


Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. (2007): Fachlexikon der sozialen Arbeit. Baden-Baden (Nomos).


Littig, Beate u. Markus Spitzer (2011): Arbeit neu. Erweiterte Arbeitskonzepte im Vergleich. Düsseldorf (Hans-Böckler-Stiftung).


Schmidt, Gunther (2004): Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg (Carl-Auer), 3. Aufl. 2010.


Schmidt, Gunther (2010): Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg (Carl-Auer), 4. Aufl. 2011.


Schmidt, Gunther, Anna Dollinger u. Björn Müller-Kalthoff (2010): Gut beraten in der Krise. Bonn (ManagerSeminare).


Weiterführende Literatur


Bundesministerium der Justiz (1997): Sozialgesetzbuch (SGB), Drittes Buch (III). Arbeitsförderung (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. März 1997, BGBl. I, S. 594) § 16 Arbeitslose). Verfügbar unter: http://bundesrecht.juris.de/sgb_3/__16.html [27.10.2011].


Jahoda, Marie. Paul F. Lazarsfeld u. Hans Zeisel (1975): Die Arbeitslosen von Marienthal: Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Senghaas-Knobloch, Eva (1998): Von der Arbeits- zur Tätigkeitsgesellschaft? Politikoptionen und Kriterien zu ihrer Abschätzung. Feministische Studien 2: 9–30.