Raum

engl. space, franz. espace m; bezeichnet sowohl eine Voraussetzung und konstitutive Bedingung von → Gesellschaft, wie er auch auf gesellschaftliche → Konstruktionsleistungen verweist. Jede soziologische Theorie des Raums wird dieser zweiseitigen Bestimmtheit Rechnung tragen müssen, und sie wird zugleich das Verhältnis von Raum und → Zeit klären müssen. Die Theoriegeschichte der Soziologie verzeichnet symmetrische und asymmetrische Auffassungen von Raum und Zeit. Ein gutes Beispiel für Symmetrie findet sich in der Chicago School, die Raum und Zeit gleichsinnig als → Kontexte sozialen Handelns versteht und Analysen, die stärker die zeitliche Einbettung des Handelns betonen (z. B. Karriereverläufe; → Lebenslauf), von Analysen unterscheidet, die Territorien und Gebiete in den Vordergrund stellen (siehe Abbott 1999, insbesondere Kap. 7). Das bedeutet, dass der für die Theorie zentrale Begriff des Handelns der Unterscheidung von Raum und Zeit neutral gegenübersteht. Für die Systemtheorie ist von vornherein ein asymmetrisches Verhältnis der Begriffe Raum und Zeit bestimmend. Nach Talcott Parsons hängt der Status eines Begriffs vom verwendeten theoretischen Bezugsrahmen ab. Der »action frame of reference« als der von Parsons für die Soziologie vorgeschlagene Bezugsrahmen sieht das Konzept des Handelns als eines, das die → Beziehung von Zweck und Mittel und die normative Ausgestaltung dieser Beziehung in den Vordergrund stellt. Das aber erweist den »action frame of reference« als einen unhintergehbar zeitlichen Bezugsrahmen. Der Begriff des Raums ist für Parsons mit Ortsbewegungen verbunden und gehört damit in einen anderen paradigmatischen Kontext (den der klassischen Mechanik) (Parsons 1937). Später in der Entwicklung seiner Theorie hat Parsons den Begriff des Raums mit Territorialität und der territorialen Kontrolle der Ortsbewegungen von → Personen verbunden (Parsons 1960). Das aber ist im Vergleich zur Theorie des Handelns ein relativ spezieller Kontext: der der Theorie des Staats und der societal community.
Auf völlig anderen Grundlagen konstruiert Niklas Luhmann ähnlich. Er arbeitet mit einer an Edmund Husserl angelehnten Theorie sinnhafter Erlebnisverarbeitung, die im Fall von Luhmann zugleich Theorie sinnhafter → Kommunikation ist (Luhmann 1971). Für diese Theorie stehen drei → Sinndimensionen im Vordergrund. Bewusstsein ist in einer ersten Hinsicht intentional, also immer das Bewusstsein von etwas, womit die Sachdimension des Sinns artikuliert wird. In einer zweiten Hinsicht unterstellt jedes Bewusstsein die Subjektivität eines anderen Bewusstseins, das dieselben Sachverhalte anders auffassen mag, sodass soziale Unterschiede des Sinnerlebens relevant werden. Drittens ist für das Bewusstsein die Erfahrung seiner Zeitlichkeit konstitutiv, die das Medium bildet, in welchem wir alle Unterscheidungen, also auch räumliche Unterscheidungen, bilden.
Vor diesem phänomenologischen Theoriehintergrund optiert Luhmann für einen strengen Soziodeterminismus, der alle Grenzen sozialer Systeme (→ Sozialsystem) als symbolische oder Sinngrenzen deutet und deshalb keine Möglichkeit für einen gleichsam sinnfreien Einfluss räumlicher Faktoren auf soziale Systeme einräumt. Auch wenn diese Sinntheorie Luhmanns überzeugt und man deshalb keinen Anlass sieht, die in die Systemtheorie eingeschriebene Asymmetrie von Raum und Zeit zu modifizieren, ist aber der enge Soziodeterminismus Luhmanns zu korrigieren. Es ist die Theorie sinnbestimmter sozialer Systeme mit einer Theorie der strukturellen → Kopplung dieser sozialen Systeme an ihre physikochemischen und biologischen → Umwelten zu verbinden, und erst, wenn dies geschieht, wird der Zweiseitigkeit des Raums auch in der Systemtheorie angemessen Rechnung getragen. Einerseits haben wir es mit der internen Konstruktion von sozialen Räumen zu tun, andererseits mit externen – u. a. räumlichen – Differenzen, die als Ökologien des Sozialen auch dann kausal effektiv sind, wenn sie in sinnverarbeitenden Systemen (noch) nicht verstanden worden sind.
Für die Analyse der Vermittlung der internen und externen Relevanzen des Raums entlehnen wir der kybernetischen Tradition (Wiener 1961) und der Parsons’schen Theorie (Parsons 1977) den Begriff der Kontrolle (siehe Stichweh 2003; 2008). Der kybernetische Begriff der Kontrolle bezeichnet auch bei Wiener und Parsons das Verhältnis von sozialen (sinnhafte → Information) und materiellen (ökologischen) Bedingungen der Gesellschaft. Die neuere Systemtheorie fügt diesem Verständnis den Begriff der Kommunikation hinzu. Aber auch Kommunikation ist ein Versuch, mit sinnhaften Operationen räumliche und zeitliche Konditionen des Sozialen zu kontrollieren, die als Konditionen wirksam bleiben, auch wenn sie von den Kontrollstrategien noch nicht erfasst werden. Welche Formen der Kontrolle des Raums durch soziale Systeme kommen infrage? Drei Formen seien im Folgenden unterschieden.
In einer ersten Perspektive erschließt sich die Gesellschaft den Raum mittels semantischer Unterscheidungen. Dazu gehören eine Unterscheidung wie« »Nähe« und »Ferne«, die zugleich räumlich und zeitlich definiert ist; die Differenz von »innen« und »außen«; die Unterscheidung von »Objekten« und »Stellen/Positionen«, die diese Objekte einnehmen; die »Öffnung« und »Schließung« von Raum und die »Unbegrenztheit« und »Unendlichkeit« von Raum. Mit diesem auszugsweise genannten Vokabular lässt sich eine dichte Semantik der Räumlichkeit entfalten, die als historische Semantik einen Teil der Kontrollversuche einer jeweiligen Gesellschaft ausmacht.
In einer zweiten Hinsicht kann man Kontrollstrategien identifizieren, bei denen es sich um Dimensionen des langfristigen evolutionären Wandels von Gesellschaft – auf dem Weg zur Weltgesellschaft der Gegenwart – handelt. Zu diesen Kontrollstrategien zählt die Substitution künstlicher für natürliche Bedingungen des Handelns (z. B. in der Ingenieurtechnik und der Landwirtschaft); die Invisibilisierung räumlicher Bedingungen in Sozialsystemen, die auf deren Kontrolle andererseits angewiesen sind (z. B. in der Mobiltelefonie); in Umkehrung des gerade genannten Musters die präzise Vermessung und Darstellung feinster räumlicher Details durch darauf spezialisierte soziale Mechanismen (die globale Adressenordnung, Logistik, GPS); die Überlagerung physikalischer Räume durch soziale → Netzwerke mit einer sozialräumlichen Eigenstruktur; die Verdrängung von Raumbewegungen (→ Migration) durch Bewegungen von Information und Kommunikation; schließlich die Entstehung der Eigenräume der → Funktionssysteme der Weltgesellschaft.
Ein dramatischer Wandel in der gesellschaftlichen Kontrolle von Räumlichkeit zeichnet sich mit der weltweiten Durchsetzung funktionaler Differenzierung als Eigenstruktur der Weltgesellschaft ab. Dies bedeutet eine Diversifikation der Räume, die die Gesellschaft beobachtet und als interne und externe Formen von Räumlichkeit exploriert. Es entstehen dann die divergierenden Vorstellungen von den Nah- und Fernräumen intimer Kommunikation; die territoriale Kontrolle von Räumlichkeit in der Folge des modernen Staats; der dekonstruktive und konstruktive Umgang mit Raum, auf den sich je verschieden, aber auch aufeinander reagierend Wissenschaft und Kunst spezialisieren; die Ablösung von naiven Raumvorstellungen (Himmel und Hölle), die die Evolution von Religion bestimmt; die durch Logistik und Adressenordnungen erschlossenen Räume der Wirtschaft.
Als eine Resultante der skizzierten Entwicklung sind zwei Gesichtspunkte zu notieren, die die Differenz von gesellschaftsinternen und gesellschaftsexternen Räumen noch einmal zuspitzen. Einmal könnte man aus gesellschaftlicher Perspektive betonen, dass der Raum immer mehr zum neutralen Medium wird, in das die Gesellschaft fast beliebige Formbildungen einzuschreiben imstande ist. Andererseits entstehen in den wissenschaftlichen → Forschungen, insbesondere in der Physik, Vorstellungen über gekrümmte, mikrologische und multidimensionale Räume, deren Realität einerseits unterstellt werden muss, die sich aber andererseits jeder Anschlussfähigkeit in der gesellschaftlichen Kommunikation entziehen (siehe Greene 2003). In dieser Hinsicht scheint sich die eingangs betonte Zweiseitigkeit des Raums als nicht durch soziokulturelle (→ Kultur) Evolution einholbar und insofern als unauflösbar zu erweisen.
Verwendete Literatur
Abbott, Andrew (1999): Department & discipline. Chicago sociology at one hundred. Chicago (University of Chicago Press).
Greene, Brian (2003): The elegant universe. Superstrings, hidden dimensions, and the quest for the ultimate theory. New York (Vintage).
Luhmann, Niklas (1971): Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: Jürgen Habermas u. Niklas Luhmann (Hrsg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 25–100.
Parsons, Talcott (1937): The structure of social action. New York (Free Press).
Parsons, Talcott (1960): The principal structures of community. In: ders. (ed.): Structure and process in modern societies. New York (Free Press), pp. 250–279.
Parsons, Talcott (1977): Social systems and the evolution of action theory. New York (Free Press).
Stichweh, Rudolf (2003): Raum und moderne Gesellschaft. In: Thomas Krämer-Badoni u. Klaus Kuhm (Hrsg.): Die Gesellschaft und ihr Raum. Opladen (Leske + Budrich).
Stichweh, Rudolf (2008): Kontrolle und Organisation des Raums durch Funktionssysteme der Weltgesellschaft. In: Jörg Döring u. Tristan Thielmann (Hrsg.): Spatial turn. Bielefeld (Transcript), S. 149–164.
Wiener, Norbert (1961): Cybernetics or control and communication in the animal and the machine. Cambridge, MA (MIT-Press).
Weiterführende Literatur
Dünne, Jörg u. Stephan Günzel (Hrsg.) (2006): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).