Suizid

engl. suicide, lat. suicidium, sui cadere = »absichtliche, willentliche Selbsttötung«, auch »Freitod«, früher »Selbstmord«. In Deutschland sterben pro Jahr etwa 10.000 Menschen durch Suizid, das sind etwa 25 Menschen pro Tag. Mehr als durch illegale Drogen, Mord und Totschlag, Verkehrsunfälle und AIDS zusammen. Ca. 75 % der Suizide werden von Männern begangen. Das durchschnittliche → Alter zum Zeitpunkt des Suizids liegt für Männer bei 58,2, für Frauen bei 59,7 Jahren. Die Zahl der Suizide ist in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen: 1980 nahmen sich beispiels­weise noch rund 50 Personen pro Tag das Leben (Statistisches Bundesamt 2021). Weltweit sterben jährlich etwa 700.000 Menschen durch Suizid. Bei unter 15- bis 19-Jährigen ist Suizid weltweit die vierthäufigste Todesursache. Der wichtigste Risikofaktor ist ein vorheriger Suizidversuch, v. a. in reichen Ländern auch psychische Krankheiten (insbes. Depressionen und Alkoholabhängigkeit [→ Abhängigkeit]), in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen sind es oft auch finanzielle → Probleme. Weltweit werden ca. 20 % der Suizide in ländlichen Regionen mit Pestiziden unternommen (WHO 2021).


Wie Suizid bewertet wird, ist je nach sozialem, kulturellem (→ Kultur) und weltanschaulichem → Kontext sehr unterschiedlich. In der antiken Philosophie ist Suizid ein Ausdruck menschlicher Freiheit, daher der Begriff »Freitod«. Seneca geht davon aus, dass es eine sittliche Pflicht sein kann, das Leben aufzugeben, wenn die Vernunft es gebietet (Seneca 2014). In der christlichen Tradition hat sich das Verhältnis zum Suizid dann grundlegend gewandelt: Augustinus erklärte die Selbsttötung zum Verbrechen, da sie das göttliche Gebot »Du sollst nicht töten« verletze. Thomas von Aquin machte daraus im 13. Jahrhundert eine Todsünde, daher der Begriff »Selbstmord«. In der buddhisti­schen Tradition werden Handlungen, deren Motivation die Begierde ist, als leidverursachend abgelehnt. Begierde nach Nicht-Sein, vibhhava trishna (i. w. Sinne jede Form – potenziell – selbstzerstörerischen Verhaltens), ist eine der drei grundlegenden Begierden. Ist der Suizid nicht durch Begierde, sondern durch Mitgefühl motiviert, kann er gerechtfertigt sein – wie z. B. die Selbstverbrennungen von Mönchen während des Vietnamkrieges oder im heutigen Tibet. Goethe beschreibt in »Die Leiden des jungen Werthers« den Suizid aus romantischer, aber unerfüllbarer Liebe. Werther ist damit auch ein Symbol für den Suizid als Ausdruck eines tragischen Lebensgefühls. Der Roman löste damals eine Suizidwelle aus (Goethe 1998). Kant leitet aus Vernunftgründen ab, warum der Suizid gegen den kategorischen Imperativ verstößt und daher abzulehnen ist (Kant 1785). In der existenzialistischen Philosophie von Albert Camus gibt es nur ein ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist die dringlichste aller Fragen (Camus 2000). Auch in der Debatte um die Legitimität von assistiertem Suizid bei unheilbarer → Krankheit oder um den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit am Ende des Lebens (»Sterbefasten«) wird deutlich, dass nicht jede Selbsttötung als klinisches »Symptom« aufgefasst werden kann und den Eingriff von »Helfern« rechtfertigt.


Freud erklärt den Suizid durch destruktive Impulse des überstarken Über-Ichs und deutet den Suizid als Form des Sadismus (Freud 1999, Bd. 8). Im Suizidversuch erkennt er den Wunsch zur Selbstbestrafung (ebd., Bd. 12, S. 289 f.) und in vielen schweren Unfällen Suizidabsichten (ebd., Bd. 8, S. 395). Soziologie: Durkheim spricht von »egoistischem« Suizid, wenn er als Folge einer mangelhaften Integration des → Individuums in die → Gesellschaft bzw. als Folge des Rückzugs des Individuums selbst auftritt. Das soziologische Konzept des »altruistischen« Suizids, insbesondere zur Entlastung von Angehörigen bei schwerer Krankheit, dürfte angesichts der demografischen Entwicklung bedeutsamer werden (Lindner-Braun 1990). Ringel (2017) entwickelte in seiner klassischen Studie das Konzept des »präsuizidalen Syndroms«, das nach seiner Untersuchung an 745 Suizidanten den meisten Suiziden vorangeht: 



  1. Einengung der Wahrnehmung

  2. gehemmte und auf die eigene Person gerichtete Aggression

  3. Suizidfantasien.


Laut WHO sind die wichtigsten Maßnahmen zur Suizidprävention (→ Prävention):



  1. Die Erschwerung des Zugangs zu Mitteln für suizidale Handlungen (Pestizide, Medikamente, Schusswaffen)

  2. Wirksame Behandlung von Menschen mit (schweren) psychischen Störungen

  3. Nachbetreuung von Personen, die einen Suizidversuch unternommen haben

  4. Sachgemäße und verantwortliche mediale Berichterstattung

  5. Weiterbildung für »primary health care workers«. 


Außerdem wird darauf hingewiesen, dass nur wenige Suizide ohne Vorwarnung geschehen und dass es deshalb wichtig ist, auf Suizidankündigungen – auch durch implizite Botschaften – zu achten. Viele Suizide geschehen in Zeiten der Besserung während einer (therapeutischen und medikamentösen) Behandlung, d. h. dann, wenn ein Mensch wieder die Energie und Willenskraft entwickelt, Gedanken der Angst, → Einsamkeit und Verzweiflung in aktiven Handlungen auszudrücken (Weltgesundheitsorganisation 2014).


In der systemischen Praxis wurde der Begriff des »suiziddeterminierten → Systems« geprägt (Lauterbach 1988), d. h., eine suizidale Handlung wird als interaktive Botschaft im → Kontext eines (sozialen) Systems (→ Sozialsystem) verstanden. Frage: Was möchte dieser Mensch wem durch diese Handlung mitteilen? Bei einem Suizid(-versuch) sind (mindestens) vier relevante Systemebenen zu berücksichtigen: 


Der Klient/die Klientin: Suizid kann als → Lösung für ein → Problem in einer Situation gesehen werden, in der der Mensch keine andere Möglichkeit zur Lösung sieht. Grundfrage ist also: Für welches Problem ist dieses Verhalten eine Lösung? Wichtig ist es, Suizidabsichten immer dann zu explorieren – z. B. durch zirkuläre Fragen (→ Zirkuläres Fragen) –, wenn Anzeichen dafür vorliegen, dass Suizid ein wichtiges Thema sein kann. Therapeutisch geht es gemäß dem ethischen Imperativ von Heinz von Foerster darum, neue und andere Möglichkeiten zu eröffnen. Hier hilft die → Metapher des inneren Parlaments, in dem es neben lebensverneinenden immer auch lebensbejahende Stimmen gibt (von Schlippe u. Schweitzer 2012) bzw. die systemische Arbeit mit inneren Persönlichkeitsanteilen: Welche Absichten hat der suizidale Teil? Was braucht er? Welche anderen Möglichkeiten hat er, um seine (guten) Absichten zu realisieren? Welche nicht-suizidalen Teile gibt es (Holmes 2013)? Suizidversuche können auch als Entwicklungskrisen und Übergangsrituale gesehen werden (Mücke 2007). 


Familiensystem: ein Familienmitglied, das sich suizidiert hat, übt innerhalb des Systems weiterhin starke Wirkungen aus. Die Arbeit mit Familienaufstellungen (→ Aufstellungen) zeigt, dass suizidale Neigungen im Sinne einer Nachfolge­dynamik auch transgenerational weitergegeben werden können (Hellinger 2013). Der Umgang mit → Schuld und Scham, aber auch Wut und Ärger, hat hier eine große Bedeutung. Als hilfreich erweisen sich neben Familienaufstellungen auch → Gruppenangebote für Hinterbliebene nach einem Suizid. 


Die Beraterin/der Berater: Es gilt insbesondere, Möglichkeiten der (achtsamen) Selbstsorge zu pflegen und eigene biografische Vorerfahrungen mit Suizid zu integrieren und nicht abzuspalten. Ein Navigieren zwischen Allmacht und Ohnmacht scheint hier besonders bedeutsam (Simon u. Weber 1987). 


Helfersystem: Suizidgefährdung ist – neben Fremdgefährdung – einer der beiden Gründe für zwangsweise geschlossene Unterbringung. Wichtig ist deshalb die klare Unterscheidung zwischen (therapeutischer) Hilfe (→ Helfen) und (notwendiger) sozialer Kontrolle (von Schlippe u. Schweitzer 2012), die immer auch dem Selbstschutz der Helfer und Helferinnen dient. Es liegt nahe, dass Helfer und Helferinnen die Nicht-Verhinderung eines Suizids als Scheitern erleben. Deshalb ist das Prinzip der geteilten Verantwortung wichtig. Bedeutsam ist auch die Perspektive auf die institutionelle Dynamik bei Suizidhandlungen. Wie reagiert das Helfersystem auf die suizidale Handlung? Was könnten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen tun, dass in ihrer Einrichtung die Suizidrate steigt? – Nach einem Suizid ist auch im Helfersystem angemessene Trauerarbeit notwendig.


Verwendete Literatur
Camus, Albert (2000): Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Hamburg (Rowohlt).
Freud, Sigmund (1999): Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. (Fischer).
Goethe, Johann Wolfgang von (1998): Die Leiden des jungen Werther. Werke Bd. 6. Hamburger Ausgabe. München (DTV).
Hellinger, Bert (2013): Ordnungen der Liebe. Heidelberg (Carl-Auer), 10. Aufl. 2013.
Homes, Tom (2007): Reisen in die Innenwelt. Systemische Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen. München (Kösel). 3., überarb. u. erg. 2013.
Kant, Immanuel (1785, 1983): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Werke Bd. 6, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
Lauterbach, Matthias (1988): Suiziddeterminierte Systeme. In: Thomas Keller (Hrsg.): Sozialpsychiatrie und systemisches Denken. Bonn (Psychiatrie-Verlag), S. 123–130.
Lindner-Braun, Christa (1990). Soziologie des Selbstmords. Opladen (Westdeutscher Verlag).
Mücke, Klaus (2007): Ambivalenzfrei ist nur der Tod. Systemische Suizidprophylaxe in sozialen Krisen. Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung 25: 35–49.
Ringel, Erwin (2017): Der Selbstmord: Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung – Eine Untersuchung an 745 geretteten Selbstmördern. Remchingen (Edition Klotz).
Schlippe, Arist von u. Jochen Schweitzer (2006): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung 2. Das störungsspezifische Wissen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 6., unv. Aufl. 2015.
Schlippe, Arist von u. Jochen Schweitzer (2012): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung 1. Das Grundlagenwissen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 3., unv. Aufl. 2016.
Seneca (2014): Das Große Buch vom glücklichen Leben. Köln (Anaconda).
Simon, Fritz B. u. Gunthard Weber (1987): Vom Navigieren beim Driften. Die Bedeutung des Kontextes der Therapie. Familiendynamik 12: 355–362.
Statistisches Bundesamt (2021): Todesursachen – Suizide. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/suizide.html [22.07.2021].
Weltgesundheitsorganisation (2014): Preventing suicide – a global imperative. Deutsch: Stiftung Deutsche Depressionshilfe (2016): Suizidprävention – Eine globale Herausforderung. Leipzig (Stiftung Deutsche Depressionshilfe).
WHO (2021): Suicide – key facts. Verfügbar unter: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/suicide [24.07.2021].