Familienrat

engl. family group conference; auch Familiengruppenkonferenz oder Verwandtschaftsrat genannt, ist ein in Neuseeland entwickeltes Hilfeplanverfahren (Helfen) in der Jugendhilfe und im Jugendstrafprozess als Antwort auf die Kritik an Hilfeplanprozessen, Eltern (Elternschaft), Kinder und Jugendliche nicht wirklich gestaltend zu beteiligen, sondern die vorgehaltenen Standardangebote von Organisationen fortzuschreiben, was zu Akzeptanzproblemen und Überformung lebensweltlicher (Lebenswelt) Unterstützungskulturen durch professionelle Hilfelogiken führt. Familiensysteme (Familie; System) entwickeln Unterstützungsleistungen vor dem Hintergrund von Nähe, Betroffenheit und traditionellen Hilfenormen. Die so entstehenden Hilfen sind alltagsnah, erwartungskonform (Erwartung), mit Reziprozitätserwartungen verbunden, die langfristig zur Stabilität des Familiennetzwerkes (Netzwerk) beitragen und die zugrunde liegenden Hilfenormen stärken. Profisysteme entwickeln Hilfeleistungen aus einer anderen Logik. Unterstützungsproduktion wird durch rechtliche Zuständigkeit und Verträge ausgelöst und orientiert sich an Diagnosen, die mit wissenschaftlich erprobten und dadurch notwendigerweise standardisierten Hilfeformen verkoppelt (Kopplung) sind. Adressaten Sozialer Arbeit geraten in Gefahr, allen Mitwirkungsgeboten des Sozialrechtes zum Trotz Verfahrensunterworfene zu werden. Der Familienrat ist ein juristisches und fachliches Verfahren des Hilfesystems, das dazu dienen soll, die nicht intendierten Nebenwirkungen von Verrechtlichung, Institutionalisierung und Professionalisierung zu minimieren, indem Raum für die Lösungswege von Betroffenennetzwerken geschaffen wird (vgl. Budde u. Früchtel 2009).


Mit der Organisation des Familienrats wird vom Jugendamt ein unabhängiger Koordinator beauftragt (Trennung von »Wächteramt« und Organisation/Moderation des Hilfeplanprozesses; Auftrag). Das kann eine Fachkraft des Jugendamtes, eines freien Trägers oder ein qualifizierter Bürgerkoordinator sein. Der Koordinator informiert die Kernfamilie über Ziel und Ablauf des Verfahrens sowie ihre Rechte, unterstützt sie darin, ihr privates Netzwerk zum Familienrat zu mobilisieren, erklärt allen Teilnehmern Anlass und Ablauf des Verfahrens sowie die Bedeutsamkeit ihres Mitwirkens für eine die lebensweltliche Autonomie sichernde Lösung des Problems. Die Koordination orientiert das Setting des Familienrats (Sprache, Ort, Termin, Rituale, Verpflegung) an der familiären Kultur. Fachkräfte haben im Familienrat eine »externe« Funktion. Sie müssen in Kinderschutzfällen zwar von der Sicherheit des Planes überzeugt werden, bestimmen aber nicht sein Design. Mit der fallzuständigen Jugendamtskraft stimmt die Koordination ab, wie die »Sorge« des Amtes (z. B. Sicherheit eines Kindes in der Familie), die Auslöser und Gegenstand der Lösungsüberlegungen sein soll, präzise formuliert werden kann und welche weiteren Fachkräfte anwesend sein müssen, die als »Informanten« dem familiären Netzwerk Sachinformationen zur Verfügung stellen können, welche für eine tragfähige Lösung berücksichtigt werden sollten.


In der ersten Phase der Installation des Familienrats stellen sich die Teilnehmer vor, prüft der Koordinator, ob mit allen Teilnehmern ein Kontrakt über die Aufgabe des Treffens besteht, berichten die eingeladenen Fachkräfte über ihren fallbezogenen Kenntnisstand und referieren Wissenswertes zur ihrer Meinung nach vorliegenden Problemkategorie, ohne dabei spezifische Lösungswege zu implizieren. Die Informationsphase endet mit der Kommunikation der Sorge, die das Jugendamt dazu veranlasst hat, den Familienrat zu installieren, sowie einer Auftragsformulierung an die Teilnehmer: »Machen Sie einen Plan, wie ...!« Danach verlassen alle Fachkräfte den Raum. Dieser konsequente Rückzug macht klar, wer die primäre Verantwortung für Entscheidung/Problemlösung hat, und symbolisiert Vertrauen in die Kompetenz der Familiengruppe (Gruppe). Nach der »exklusiven Familienzeit«, deren Dauer keiner Vorgabe unterliegt, präsentiert die Familie in der »Verhandlungsphase« ihren Plan, der jetzt von der Fachkraft des Jugendamtes daraufhin geprüft wird, ob er ihre vorher formulierte Sorge (auf)löst. Wenn Teile des Plans noch nicht ausreichend sicher erscheinen, formuliert sie eine »Restsorge« als Auftrag für eine zweite exklusive Familienzeit. Der verschriftlichte und von allen unterschriebene Plan benennt genaue Zuständigkeiten (wer tut was, wie lange?), Überprüfungsvereinbarungen (wer beobachtet die Umsetzung?) und den Termin für den Folgerat.


Durch die Einrichtung des Familienrats werden Problemursachen und Problemlösungen nicht individuellen (Individuum) Symptomträgern, sondern Familien, Verwandtschaften, Netzwerken und Bürgern des Umfeldes zugeschrieben. Die relationale systemische Perspektive wird damit auf einen weiten Kreis von Betroffenen erweitert. Die operative Geschlossenheit des Familiensystems gegenüber dem Hilfesystem wird verfahrensmäßig nachmodelliert, indem Informationssystem (Fachkräfte) und Ressourcensystem (Familiengruppe) zwar durch einen vorgegebenen Ablauf gekoppelt werden, aber dennoch klar abgegrenzte Funktionen zugewiesen bekommen und streng getrennt voneinander arbeiten (private Familienzeit). Dadurch wird die Selbstreferenz der familiären Bearbeitungsmechanismen funktionalisiert. Der Anstoß von außen besteht in der vorgegebenen Sorge des Jugendamtes (die keinen Lösungsweg implizieren darf) und in der Erweiterung des Kreises. Herauszufinden, wer zur Familiengruppe, wer zu den Fachkräften und wer zu den Entscheidern am Schluss gehören muss, ist methodische Konstruktionsleistung der Koordination, die Hilfeplanung betreibt, ohne sich vorher die Mittel auszudenken, mit denen man etwas bewirken will, und stattdessen eine Technik der Provokation von Gelegenheiten anwendet, die sich ergeben (oder nicht ergeben) und dann ausgenutzt werden können (vgl. Luhmann u. Schorr 1988, S. 129).


In Deutschland gibt es den Familienrat in der Jugendhilfe und in der Jugendgerichtshilfe. Im europäischen Ausland ist der Familienrat in Großbritannien, Irland, Schweden, Norwegen und in den Niederlanden verbreitet, wird aber auch in Belgien, Polen, Russland, Österreich und in der Schweiz genutzt. Als gesetzlich vorgeschriebenes Verfahren existiert der Familienrat außer in Neuseeland auch in Irland und einigen Provinzen Kanadas und Australiens. Eine rechtliche Verankerung auf der Ebene von Verwaltungsvorschriften ist in Großbritannien und Norwegen umgesetzt. In diesen Ländern wird der Familienrat auch in Gesundheitshilfe, Behindertenhilfe, Sozialpsychiatrie, Altenhilfe und Schulen als Hilfeplanungs-, Unterstützungs-, Mediations- oder Entscheidungsverfahren eingesetzt. In den Niederlanden werden »Eigen Kracht-conferenties« nicht als Verfahren des Hilfesystems, sondern als Ausdruck von Bürgergesellschaft (Gesellschaft) und bürgerschaftlichem Engagement begriffen.


Verwendete Literatur


Budde, Wolfgang u. Frank Früchtel (2009): Beraten durch Organisieren: Der Familienrat als Brücke zwischen Fall und Feld. Kontext 40 (1): 32–48.


Luhmann, Niklas u. Karl-Eberhardt Schorr (1988): Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Weiterführende Literatur


Ashley, Cathy a. Paul Nixon (2007): Family group conferences – Where next? Polices and practices for the future. London (Family Rights Group).


Früchtel, Frank, Wolfgang Budde u. Gudrun Cyprian (2007): Sozialer Raum und Soziale Arbeit – Fieldbook: Methoden und Techniken. Wiesbaden (VS), 2. Aufl. 2010.


Früchtel, Frank u. Andreas Hampe-Grosser (2010): Was leisten Familienräte? Nachrichtendienst des Deutschen Vereins NDV 11: 484–490.


Hamilton, Anne (2007): Ask the family. National standards to support family-led decision making and family group conferences (FGC) in Scotland. Edinburgh (Children 1st).


Hansbauer, Peter, Gregor Hensen, Katja Müller, u. Hiltrud von Spiegel (2009): Familiengruppenkonferenz. Eine Einführung. Weinheim/München (Juventa).