Symptomträger

engl. identified patient, auch Indexpatient, identifizierter Patient. Familien und soziale Institutionen, die sich mit den Belangen von Familien aufgrund ihrer Profession oder von Amts wegen beschäftigen (Therapeuten; [Therapie], Sozialarbeiter, Ärzte, Helfer aller Art, Ämter, Wohlfahrtseinrichtungen etc.), kommen miteinander in der Regel dadurch in Kontakt, dass ein Familienmitglied aufgrund seines Verhaltens – irgendeiner Symptombildung – als »problematisch« definiert wird. Wenn dieses »Symptom« nicht als Ausdruck einer individuellen (Individuum) psychischen (Psyche) oder körperlichen (Körper) Pathologie erklärt wird, sondern als Zeichen dysfunktioneller familiärer Kommunikationsmuster, so ist das als »Klient« bzw. »Patient« identifizierte Familienmitglied lediglich als Träger des Symptoms eines anderen, d. h. familiären Problems zu betrachten.


Das Konzept des »Symptomträgers« oder »identifizierten Patienten« ist nicht primär aus theoretischen Erwägungen entwickelt worden, sondern aufgrund praktischer Erfahrungen. Denn in Einzeltherapien konnte immer wieder die Erfahrung gemacht werden, dass mit der Besserung der Symptomatik eines Familienmitglieds ein anderes Familienmitglied eine Symptomatik oder Problematik entwickelte (Symptomverschiebung). Dieses Phänomen war mit den klassischen, auf das Individuum bezogenen Erklärungsmodellen nicht fassbar. Wenn durch die psychischen oder biologischen, d. h. innerhalb eines Individuums ablaufenden biologischen oder psychischen Prozesse, die Genese von Symptomen im Sinne des Krankheitsmodells zu erklären war, dann war nicht zu erklären, warum mit der »Gesundung« eines Familienmitglieds die »Erkrankung« eines anderen Familienmitglieds verbunden sein sollte – noch dazu mit einer jeden Ansteckungsverdacht ausschließenden anderen Symptomatik. Erst die Hypothese (Hypothetisieren), dass die familiären Kommunikationsmuster und Spielregeln die Bedingung für die Symptombildung darstellten, konnte hier plausible Erklärungen liefern. Auf diese Weise ließ sich auf funktionellere oder auch dysfunktionellere Kommunikationsmuster schließen, und der Fokus der Intervention bzw. das Ziel der Veränderung verschob sich vom Individuum und seiner Psyche auf die Familie und ihr Kommunikationsmuster. Wenn sich im Laufe einer Beratung oder Therapie dysfunktionelle Muster ändern, dann kann damit auch nachhaltig verhindert werden, dass es zu einem Wechsel des Symptomträgers innerhalb der Familien kommt. Bei den Studien über die Wirksamkeit individuumsbezogener Therapieformen wird solch ein Wechsel des Symptomträgers in der Regel nicht mituntersucht, was – aus systemtheoretischer (System) Perspektive – die gesamte wissenschaftliche Evaluation auf das Individuum bezogener psychotherapeutischer Methoden fragwürdig erscheinen lässt.


Bei Beratung oder Therapie stellt sich stets die Frage, welches das kleinste »beratbare« oder »therapierbare« System ist, mit dem gearbeitet werden kann, muss oder soll. Denn es ist erfolgversprechender, mit einer Familie zu arbeiten statt mit einem einzelnen Familienmitglied, mit einem Team statt mit einem Teammitglied usw., wenn die Verursachung der individuell sichtbar werdenden Probleme Kommunikationsmustern zugeschrieben wird. An ihrer Herstellung und Aufrechterhaltung sind immer mehrere Personen beteiligt, ohne dass ein Einzelner die Kontrolle über sie hätte. Auf der anderen Seite ist aber jeder der Beteiligten in der Lage, derartige repetitive Muster zu unterbrechen und Veränderung zu initiieren. Als Konsequenz des Konzepts des Symptomträgers muss in Beratung und Therapie die Aufmerksamkeit sehr genau auf die im Klientensystem konstruierten Kausalitäten für das jeweilige Symptom, die unterstellten Kausalitäten (z. B. Krankheit), die Bewertungen bzw. die daraus abgeleiteten Handlungsstrategien der Beteiligten fokussiert werden. Dem Ziel, den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Funktion des Symptoms oder Symptomträgers für das Klientensystem zu richten, können hypothetische Fragen dienen, wie etwa: »Was würde sich ändern, wenn das Symptom über Nacht verschwindet?«; »Wer ist nach X am meisten gefährdet, irgendwelche Probleme zu entwickeln?«; »Wer könnte sich als Sorgenkind anbieten, falls dies nötig wäre?«; »Was würde passieren, wenn nichts passiert und die Therapie/Beratung keinen Erfolg hat?«; »Wie würde sich X oder Y verhalten, wenn bewiesen würde, dass das Symptomverhalten nicht Ausdruck einer Krankheit ist?/nicht willentlich beeinflussbar ist?« Usw. Es geht dabei um die Dekonstruktion der allgemein akzeptierten Erklärungen in der Absicht, durch Umdeutungen andere Kausalitäten anbieten zu können, die jedem Einzelnen alternative, das alte, destruktive Interaktionsmuster störende bzw. neue, konstruktivere Muster etablierende Verhaltensoptionen eröffnen.


Verwendete Literatur


Bursten, B. (1965): Family dynamics, the sick role, and medical hospital admissions. Family Process 4: 206–216.


Byng-Hall, J. (1980): Symptom bearer as marital distance regulator: Clinical implications. Family Process 19: 355–365.


Satir, V. (1968): Symptomatology: A famliy production. Its relevance to psychotherapy. In: J. G. Howells (ed.): Theory and practice of family psychiatry. Edinburgh (Oliver & Boyd).


Weiterführende Literatur


Schwing, Rainer u. Andreas Fryszer (2006): Systemisches Handwerk: Werkzeug für die Praxis. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).