Migration

engl. migration, franz. migration f; Migration nimmt in Deutschland zu infolge einer höheren Mobilität innerhalb von Europa selbst, infolge der Globalisierung und des Bevölkerungsdrucks aus den Ländern des Südens. Fast 20 % der Einwohner Deutschlands haben einen Migrationshintergrund. Dies bedeutet eine Zunahme an bikulturellen Familien und zweisprachigen Kindern. Frauen stellen den größeren Anteil an Migranten. Das lat. Wort migrare bedeutet »wandern, auswandern, weg-, ausziehen, übersiedeln«, auch im übertragenen Sinne: »wegbringen, übertreten, überschreiten«. Alle Migranten teilen die gemeinsame Erfahrung eines kulturellen Übergangs und der Möglichkeit der Integration in eine neue Kultur. Dies schließt das Lernen der Landessprache ein, wie auch die Suche nach einer Arbeitsstelle, den Aufbau eines neuen sozialen Netzwerkes und die Konfrontation mit der Tatsache, Außenseiter im Gastland zu sein. Die Migrationserfahrung bedeutet Entwurzelung und ist ein besonderer Stressfaktor wegen des Verlustes des bisherigen sozialen Netzwerkes, der Isolierung, des Verlustes der gesellschaftlichen (Gesellschaft) Stellung und des sicheren Gefühls für die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten. Frühere Unterstützungssysteme (System) gehen verloren, die Aufenthaltsberechtigung ist oft ungesichert. Gleichzeitig leidet der Migrant an fehlender Zugehörigkeit, Schamgefühlen oder Traumata (Trauma), verbunden mit Schuldgefühlen gegenüber denen, die er zurückgelassen hat (Sluzki 2001, S. 101–115).


Immigrantengruppen (Gruppe) schließen ein: Flüchtlinge, Asylsuchende, Arbeitsmigranten, Heiratsmigranten, Green-Card-Besitzer, Studenten. Es gibt innerhalb dieser Migrantengruppen große Unterschiede im Hinblick auf Ethnizität, Sprache, Religion, soziale Klasse, Bildung, Geschlechtsrollen (Rolle), Familienhierarchie und Macht. Dies wird häufig unterschätzt. Dementsprechend gibt es eine Tendenz, die Immigrantengruppen zur Vereinfachung vergleichbar zu machen. Es gibt drei Arten von Migration: freiwillige, gezwungene und diejenige, zu der überredet wurde. Die freiwillige Migration ist selbst gewählt, trotzdem bleiben wichtige Menschen zurück, und der kulturelle Übergang ist nicht problemlos (Problem). Zwangsmigration findet statt bei Kindern und Katalogbräuten, bei Zwangsheirat, bei Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtlingen und bei politisch oder religiös Verfolgten. Oft ist sie verbunden mit Missbrauch, Scham und Gewalt (Falacov 1998).


Migration, zu der überredet wurde, ist nicht gewollt, sie schließt normalerweise Kinder und Ehepartner ein. Sie erfolgt häufig wegen Jobwechsel oder Heirat. Die systemische Theorie ist eine Metatheorie, die es erlaubt, eine Vielzahl von Methoden und Techniken in die Beratung und therapeutische (Therapie) Arbeit zu integrieren. Ein wichtiger Beitrag im Bereich der Psychotherapie (Psyche) ist, dass Störungen und Konflikte nicht a priori individualisiert (Individuum) und pathologisiert, sondern mit dem relevanten sozialen Kontext vernetzt werden. Die Geschichte des Individuums wird hier nur als ein Element gesehen, das in Verbindung mit dem kulturell-sozial-politischen Kontext des Klienten und seiner Familie und Gemeinschaft (Community) gesehen wird. Diese Depathologisierung des Individuums ist die Grundlage für eine produktive Therapie- und Beratungsarbeit mit Migranten. Entscheidend ist es, den jeweiligen Prozess des kulturellen Überganges bewusst in den Zusammenhang von »natürlichen« Entwicklungsprozessen im Rahmen der Migrationserfahrung zu stellen. Mit kulturellen Differenzen umzugehen ist daher eine Frage der Balance zwischen der Anerkennung der Unterschiede der Menschen und dem, was wir als gemeinsame Basis miteinander teilen. Es ist keineswegs immer einfach, zu unterscheiden, was universal für alle Menschen zutrifft und was einzigartig für ein Individuum ist. Zwischen diesen beiden Polen liegt das, was wir die kulturelle Ausprägung nennen.


Sozialer Konstruktivismus (Gergen 2002) und narrative Theorie sind für die Untersuchung von kulturellen Prägungen besonders geeignet, weil sie diese als den Hintergrund betrachten, vor dem Erfahrungen interpretiert werden, und weil sie kulturelle Geschichten als sozial konstruiert anerkennen. Die Geschichten der Klienten und des Therapeuten werden als Erzählungen gesehen, die sich ergänzen und in einen gegenseitigen Dialog treten. Ein solches Erzählungskonzept passt in eine fließendere und brauchbare Definition von Kultur, die den Prozess besser zu fassen in der Lage ist als ein statisches Konzept (Radice von Wogau 2004, S. 45–64).


Die wichtigste Aufgabe besteht darin, eine kulturelle Perspektive in alle Aspekte und Phasen der Therapie und Beratung einzubringen. Interkulturelle (Interkulturalität) Therapie ist eine Haltung und ein Weg, wie die Welt gesehen und verstanden werden kann. Sie beginnt mit interkultureller Kompetenz, die Respekt, Offenheit, Neugierde einschließt. Man setzt eine Brille auf, die interkulturelle Brille, die ein Bewusstsein für kulturelle Prägungen impliziert. Kulturell zu denken ist eine andere als die gewohnte Art, Menschen und Familien zu betrachten. Dies zu lernen erfordert Selbstreflexion, Informationen über die Weltanschauung des Klienten und eine Ausbildung in kultureller Kompetenz. Es handelt sich um Therapiemodelle, die stark auf die eigenen Ressourcen abzielen (Ziel) sowie auf alle Ansätze, die auf Empowerment und Selbsthilfe (Helfen) oder Netzwerken aufbauen. Interkulturelle Kompetenz wird normalerweise definiert als:


(1) Bewusstheit und Reflexion des Therapeuten hinsichtlich seiner eigenen kulturellen Wertvorstellungen,


(2) Informationen über die Kultur des Klienten, seine Glaubenssysteme, Weltanschauung, sozioökonomische Situation, Aufenthaltsgenehmigung, Familienstruktur, Hierarchieverständnis und Geschlechtsrollen sowie die Kenntnis, wie diese Informationen beschafft werden können, und


(3) Kenntnis von kulturell angemessenen Interventionen in respektvoller Form (Sue a. Sue 2003). Interkulturelle Kompetenz verlangt, die dominanten Werte des eigenen kulturellen Hintergrundes zu reflektieren. Daher beginnt man mit dem Berater/Therapeuten: mit sich selbst.


Der Berater/Therapeut muss sich über seine kulturellen Werte im Klaren sein, auch über die entsprechenden Implikationen seines theoretischen Modells. Er sollte seine eigene Kultur aus ethnischer, geografischer und professioneller Sicht definieren, sich seine eigene Erziehung bezüglich Menschen aus anderen Kulturen und mit anderer Hautfarbe sowie die damit verbundenen Stereotypen vor Augen führen. Kennt er die Situation, Außenseiter und unterprivilegiert zu sein? Um diese Situation konkret zu fassen, braucht es ein waches Bewusstsein im Hinblick auf die eigene Herkunft sowie Geduld, Zeit, Neugier, Offenheit, Flexibilität und in erster Linie Respekt für die andere oder den anderen. Therapeuten sind interkulturelle Übersetzer und begleiten die Integrationsprozesse der Klienten.


Um kulturell verlässliche Informationen über einen Klienten zu erhalten, merke: Der Klient ist der Experte, Sprachkenntnisse sind wichtig. Es wird nach der Migrationserzählung der Familie gefragt, nach Herkunftsort, Migrationsart (freiwillig, gezwungen), -planung, Gefühlen, Sprachkenntnis, Empfang im Gastland, Wohnverhältnissen, Arbeit, Schule der Kinder, Änderungen des finanziellen und sozialen Status, möglicher Diskriminierung, Ressourcen, Überweisungskontext und Problembeschreibung. Wichtig ist es, wie der Klient das Problem aus seiner Sicht beschreibt, wie er es in seiner Kultur lösen würde und bei wem er dort Hilfe suchen würde.


Alle – kulturell angemessenen – Interventionen können verwendet werden, z. B.: zirkuläres Fragen (Zirkuläres Fragen), systemische Hypothesen (Hypothetisieren), Genogramm, lösungsorientierte Kurztherapie (Lösung, Lösungsfokussierung), narrative Ansätze, Externalisierung, Metaphern, Familienaufstellung (Aufstellungen), Körperskulptur, Zeichnen, Musik, Tanz und alle anderen Methoden, sofern sie in den Prozess des Klienten passen. Training und Supervision sind notwendig, will man passende Interventionen bei kulturell unterschiedlichen Klienten lernen.


Verwendete Literatur


Falicov, Celia J. (1998): Latino families in therapy. A guide to multicultural practice. New York/London (Guilford).


Gergen, Kenneth J. (2002): Konstruierte Wirklichkeiten: Eine Hinführung zum sozialen Konstruktionismus. Stuttgart (Kohlhammer).


Hegemann, Thomas u. Ramazan Salman (Hrsg.) (2001): Transkulturelle Psychiatrie. Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen. Bonn (Psychiatrie Verlag).


Radice von Wogau, Janine, Hann Eimermacher u. Andrea Lanfranchi (Hrsg.) (2004): Therapie und Beratung von Migranten. Systemisch interkulturell denken und handeln. Weinheim (Beltz).


Rastogi, Mudita a. Volker Thomas (Hrsg.) (2009): Multicultural couple therapy. Los Angeles/London/New Delhi/Singapore/Washington, DC (Sage).


Schlippe, Arist von, Mohammend El Hachimi u. Gesa Jürgens (2003): Multikulturelle systemische Praxis. Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervision. Heidelberg (Carl-Auer).


Sluzki, Carlos (2001): Psychologische Phasen der Migration und ihre Auswirkungen. In: Thomas Hegemann u. Ramazan Salman (Hrsg.): Transkulturelle Psychiatrie – Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen. Bonn (Psychiatrie Verlag).


Sue, Derald Wing a. David Sue (2003): Counseling the culturally diverse: Theory and practice. New York (Wiley), 3rd ed.