Zeitstrahl

engl. timeline, auch memorylane, franz. frise f chronologique, ist eine Methode, die es ermöglicht, Anamneseinformationen im → Beratungsgespräch oder in der Falldokumentation zu visualisieren und zu ordnen. Dem systemischen (→ System) Berater bzw. der Beraterin dient er dazu, Symptome (→ Symptomträger) und → Probleme im → Kontext der Geschichte des Klientensystems zu verstehen (→ Verstehen). Er ist damit ein Hilfsmittel zur Kontextualisierung. Sinnvoll lassen sich drei Aspekte der Geschichte des Systems unterscheiden:
die Entwicklungsgeschichte des Systems (→ Familienanamnese, Geschichte einer → Organisation oder eines Teams)
die Geschichte der Problem- oder Symptomentwicklung, vor allem bei Systemen mit chronifizierten Problemen (Symptomanamnese, Störungs- und Problemanamnese)
die Geschichte bisheriger → Lösungsversuche: solcher aus eigenen → Ressourcen oder solcher mit professioneller Hilfe (→ Helfen; Anamnese bisheriger Lösungsversuche).
→ Informationen zu diesen jeweiligen Bereichen können in einem → Zeitstrahl dokumentiert werden. Sie werden so im zeitlichen Ablauf dargestellt und visualisiert. Das schafft Überblick und lässt Zusammenhänge erkennen. Der Zeitstrahl ordnet die Informationen des Helfers zur Geschichte des Systems und erlaubt es, das Problem im Kontext der Geschichte des Systems zu sehen. Im Folgenden sind nützliche Fragen zu den drei Aspekten der Geschichte des Systems aufgeführt; diese Fragen helfen, den Zeitstrahl zu erstellen.
Entwicklungsgeschichte des Systems: Welche markanten Ereignisse haben das System und seine Geschichte geprägt: Heirat, → Scheidung/Trennungen, Außenbeziehungen, Wohnortwechsel, → Arbeitslosigkeit, Neuzugänge (etwa bei Teams), Geburten, → Todesfälle, → Krankheiten, Wechsel wichtiger Schlüsselfiguren oder Bezugspersonen? Je nach Arbeitsfeld können bestimmte Aspekte besonders wesentlich sein. So ist etwa innerhalb der Jugendhilfe bedeutsam, wer in den jeweiligen Zeiträumen die zentrale Bindungsperson für das → Kind war und wann Wechsel bzw. Trennungen von Bindungspersonen stattfanden. Gerade die Bindungsgeschichte ist bei Kindern oft ein wichtiger Schlüssel zum aktuellen Verständnis ihrer Situation und ihrer → Beziehungsgestaltung. Bei Organisationen und Teams geht es um andere Fragen: Von wem und unter welchen Bedingungen wurden sie gegründet? Wann haben sie sich vergrößert? Was waren gravierende Veränderungen in ihrem Umfeld? Wann kamen wichtige Konkurrenzorganisationen dazu oder schieden aus? Welche Rahmenbedingungen haben sich wann in der Vergangenheit geändert? Gab es Trägerwechsel, Strukturveränderungen, → Personalwechsel an entscheidenden Stellen des Systems? Wurden die Finanzierungsmodalitäten verändert?
Störungsentwicklung: Wann sind Auffälligkeiten/Probleme erstmals aufgetreten? Wann wurden sie stärker? Wann schwächer? Wann haben sie sich verändert? Wie sahen Schwankungen der Auffälligkeiten über die Zeit aus? Wann traten neue, andere Probleme auf? Und welche anderen Veränderungen traten gleichzeitig mit ihnen auf?
Bisherige Lösungsversuche: Was haben die Betroffenen zur Lösung der Probleme selbst ausprobiert und mit welchen Ergebnissen? Was haben informelle Helfer und Helferinnen geraten? Wann sind welche professionellen Helfer und Helferinnen eingestiegen und wann wieder ausgestiegen? Welche Maßnahme lief von wann bis wann? Oft braucht man bei diesem Aspekt viel Geduld und eigenes Interesse, weil die Mitglieder des Systems ein großes Bedürfnis haben über die aktuellen Schwierigkeiten reden zu wollen und zudem wenig Sinn darin sehen, über wenig erfolgreiche Lösungsversuche zu reden. Hier hilft beharrliches und aktives Nachfragen weiter, das aber mit Respekt vor Grenzen und Belastbarkeit der Klienten und Klientinnen gepaart sein sollte. Diese Informationen sind sehr nützlich, sie müssen aber nicht komplett in einem Gespräch oder ganz am Anfang erfasst werden.
Folgende Gestaltung des Zeitstrahls hat sich bewährt:
Es empfiehlt sich ein Flipchartblatt im Querformat, wenn der Zeitstrahl zusammen mit den Klienten und Klientinnen erstellt wird. Die Zeitachse selbst mit den Jahres- oder Monatsangaben liegt in der Mitte oder im oberen Drittel der Skizze. Je nach Fall muss jeweils eine sinnvolle Unterteilung in Zeitabschnitte gefunden werden. Dabei kann es sein, dass die weit zurückliegenden Zeiträume enger zusammen liegen, weil es wenig darüber zu dokumentieren gibt. Zeiträume dagegen, in denen viel passierte, erhalten größere Abschnitte.
Oberhalb des Zeitstrahls werden die wichtigen Ereignisse der Familienentwicklung bzw. der Geschichte der Organisation eingetragen.
Direkt unterhalb des Zeitstrahls wird die Entwicklung der Störung/Symptome dargestellt.
Das untere Drittel der Skizze ist für die bisherigen Lösungs- und Hilfeversuche reserviert.
Die jeweiligen Ereignisse können gut in ein Kästchen gesetzt werden, welches durch einem Pfeil mit dem entsprechenden Zeitpunkt auf der Zeitlinie verbunden ist. Auf der Zeitlinie sollte man das dazugehörige Datum eintragen (meist nur Monat und Jahr, oft nur ungefähr).
Innerhalb der Beratung kann der Zeitstrahl verschieden eingesetzt werden und unterschiedliche → Funktionen erfüllen:
Er kann → Kommunikationsmittel zwischen der Familie und dem Berater bzw. der Beraterin sein, indem der Berater oder die Beraterin ihn mit der Familie erstellt. So erhalten Helfer und Helferinnen und Familie gemeinsam einen Überblick über die Geschichte. Klienten und Klientinnen mit lange bestehenden Problemen, vielen Lösungsversuchen und ereignisreicher Geschichte haben oft selbst den Überblick verloren. Gerade zu Beginn einer neuen Behandlung hilft dieser Überblick, bisherige Lösungsansätze zu würdigen und realistische → Ziele für die neue Lösungssuche zu formulieren. Weiterhin hilft der Zeitstrahl, zu Beginn einer Zusammenarbeit Symptome oder Probleme zu kontextualisieren, weil die Geschichte bildlich vor der Familie und dem Helfer oder der Helferin liegt.
Er kann vom Berater oder von der Beraterin und seiner Institution auch zur Dokumentation genutzt werden. Durch die bildliche Darstellung und die große Verdichtung vieler Informationen erlaubt er einen schnelleren und effektiveren Überblick über die verschiedenen Aspekte der Anamnese, als es viele Seiten Fließtext tun würden.
Der Zeitstrahl lässt sich auch im → Raum symbolisch darstellen, indem mit einem Seil oder Band eine Zeitlinie auf den Boden gelegt wird. Jetzt kann der Berater bzw. die Beraterin mit den Klienten und Klientinnen diese Linie abschreiten und Zeitpunkte, zu denen wichtige Ereignisse stattfanden, mit einem Blatt markieren, auf dem das jeweilige ungefähre Datum notiert ist. Für das Ereignis kann zudem ein Symbol dazugestellt werden. Im gemeinsamen Abschreiten der Zeitlinie mit einem → Paar, einem Team oder einer Familie wandert man so durch die Geschichte des Systems, verweilt an den markanten Zeitpunkten und bespricht, was damals geschah, welche Folgen es hatte, welche Auswirkungen auf die aktuelle Situation. Zeit und Geschichte werden so in eine → Skulptur gesetzt.
Verwendete Literatur
Schwing, Rainer u. Andreas Fryszer (2007): Systemisches Handwerk. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).