Schulverweigerung

engl. school refusal, auch truanting, franz. absentéisme m scolaire, refus m de l’ecole; das Verb »sich verweigern« im Sinne von »sich widersetzen, nicht kooperieren« als Ausdruck eines Nichtwollens und der Ablehnung, einer Aufforderung nachzukommen, wird hier im Kontext Schule und Schulpflicht verwendet. Der englische Begriff school refusal meint Fehlen in der Schule, in das die Eltern involviert sind, bei truanting sind die Eltern unwissend. Das Maß der elterlichen Partizipation in Bezug auf das Phänomen führt zu verschiedenen Interventionen.


Unter einer Vielzahl von Schulproblemen unterscheidet man hierzulande grundsätzlich drei Formen von Schulverweigerung, die auch als Mischformen in Erscheinung treten. Mit Schulphobie (1) ist eine Trennungsangst des Schülers gemeint, die Angst, von den Eltern getrennt zu sein. Hinter dem Begriff »Schulangst« (2) steht die Angst des Schülers vor Situationen, die in erster Linie an Schule gebunden sind, Angst z. B. vor Lehrkräften, vor Leistungsversagen, vor Mitschülern, vor dem Schulweg. Schulschwänzen (3) meint ein Verhalten eines Schülers, das zum mentalen bzw. physischen Fernbleiben vom Unterricht führt. Im deutschen Sprachraum werden weitere Begriffe wie Schuldistanzierung, Schulunlust, Schulmüdigkeit, Schulbummelei, Schulaversion, Schulverdrossenheit, Schulabsentismus, Schulversäumnis, Schulvermeidung, Unterrichtsvermeidung verwendet. Derzeit wird zwischen aktiver und passiver Schulverweigerung, die auch als Mischformen auftreten, differenziert. Aktive Schulverweigerung meint wiederholtes unentschuldigtes Fehlen oder eine aktive Störung bzw. demonstrative Ablehnung des Unterrichts. Unter passiver Schulverweigerung versteht man, obgleich nicht eindeutig eingrenzbar, häufiges entschuldigtes, aber inhaltlich nicht nachvollziehbares Fehlen oder physische Anwesenheit ohne Interesse am Unterrichtsgeschehen.


Im systemischen (System) Verständnis kann man den jungen schulverweigernden Menschen als Akteur in verschiedenen Kontexten verstehen. Gemeint ist damit in erster Linie sein direkter Schulkontext, d. h. das Leben in Klassenzimmer und Schulhof, wie auch sein familiärer (Familie), sozialer und Peerkontext. Nichtsystemische Ansätze konzentrieren sich auf die Mikroebene, die sich mit individuellen Kompetenzen und Ressourcen des Schülers befassen, während sich der systemische Ansatz dieser Faktoren bewusst ist, sich aber auf andere Kontexte konzentriert. Schulverweigerndes Verhalten kann als eine Lösungsstrategie des Schülers in Konfliktsituationen angesehen werden, die er als Konstrukteur seiner Lebenswirklichkeit im Kontext seiner sozialen, kulturellen Herkunft und der sozioökonomischen Stellung seiner Eltern, seiner Familie, seiner Peergroup, seiner schulischen Erfahrungen, seiner Biografie und seiner Lebenserfahrungen entwickelt.


Fördert Schule als Sozialisationsort die Entwicklung der Sozialkompetenz und einer gesunden Persönlichkeit, wächst mit Fehlzeiten ein höheres Risiko für psychische Störungen (Psyche) wie auch für die Entwicklung kriminellen Verhaltens (Delinquenz) oder von Suchterkrankungen (Abhängigkeit). Schulversäumnis als strafbarer Tatbestand für eine Kindeswohlgefährdung bindet Eltern an ihre Verantwortung und Initiative auch im Falle von Unfreiwilligkeit (Conen 1999). Das bedarf einer besonderen Zusammenarbeit der großen Instanzen Schule/Schulamt, Jugendamt und ggf. Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das Verfahren des systemischen Case Managements (Kleve 2011) ermöglicht es, hier eine lebensweltorientierte (Lebenswelt) und ökonomische Fallarbeit zu entwickeln und die Hilfen (Helfen) einzusetzen, die nötig sind. Case-Manager arbeiten konsequent ressourcenorientiert, schaffen Arbeitskontexte, organisieren (Organisation) und moderieren eher die Netzwerke der Schüler und ihrer Familien wie auch die der professionellen Fachkräfte, als dass sie in eine intensive Beziehungsarbeit mit den Schülern und ihren Familien gingen. Eine lösungsneutrale Haltung, die »das Fernbleiben von der Schule für eine grundsätzlich honorige und sinnvolle Verhaltensweise« konnotiert genauso wie das Hingehen (Schweitzer u. Ochs 2003), hilft, einen Kommunikationsprozess zwischen allen Beteiligten anzuregen. In sogenannten Familienklassen(-zimmern)/ Familienschulstunden/Familienschulen (Multifamilientherapie) treffen Familien, in denen ein Kind Schulprobleme (Problem) oder schulverweigerndes Verhalten zeigt, auf andere Familien in gleicher Problemlage (Asen u. Scholz 2009). In die jahrgangsübergreifenden Schulgruppen, die von systemisch ausgebildeten Lehrern und Familientherapeuten moderiert werden, kommen bis zu zehn Schüler, die Lernschwierigkeiten in Verbindung mit emotionalen Störungen oder/und dissozialen Verhaltensweisen aufweisen, mit mindestens einem Elternteil oder einer anderen relevanten Erziehungsperson wöchentlich für zwei bis drei Stunden (je nach Setting ein- bis viermal pro Woche) über einen Zeitraum von vier bis neun Monaten und bearbeiten hier Schul- und Familienprobleme. Im Konzept elterlicher Präsenz (Omer u. von Schlippe 2004) tritt die Beziehung zwischen Eltern und Lehrern in den Vordergrund der Lösungsentwicklung bei Schulproblemen. Eltern stehen vor der anspruchsvollen Aufgabe, mit den beiden anderen Seiten der Triade (Schule, Schüler, Eltern) loyal als Eltern ihres Kindes und Partner der Schule zu kooperieren. Das gängige Verständnis von Elternarbeit aus schulischer Sicht muss sich dabei an einem Paradigmenwechsel orientieren, Eltern als Experten ihrer Kinder und als Partner für erfolgreiche Bildungskarrieren von Schülern zu sehen. Mit dieser Haltung verändern sich auch Wahrnehmungen, die die Zusammenarbeit mit Eltern als mühsam und konfliktreich beschreiben.


Verwendete Literatur


Asen, Eia u. Michael Scholz (2009): Praxis der Multifamilientherapie. Heidelberg (Carl-Auer).


Conen, Marie-Luise (1999): »Unfreiwilligkeit« – ein Lösungsverhalten. Familiendynamik 24 (3): 150–165.


Kleve, Heiko (2011): Case Management. Eine methodische Perspektive zwischen Lebensweltorientierung und Ökonomisierung Sozialer Arbeit. In: Heiko Kleve, Britta Haye, Andreas Hampe-Grosser u. Matthias Müller: Systemisches Case Management. Falleinschätzung und Hilfeplanung in der Sozialen Arbeit. Heidelberg (Carl-Auer), 3., überarb. Aufl.


Omer, Haim u. Arist von Schlippe (2004): Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).


Schweitzer, Jochen u. Matthias Ochs (2003): Systemische Familientherapie bei schulverweigerndem Verhalten. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 52 (6): 440–455.