Umwelt

engl. environment, franz. environnement m; ist all jenes, das nicht das → System ist. »Als Ausgangspunkt jeder systemtheoretischen Analyse hat […] die Differenz von System und Umwelt zu dienen« (Luhmann 1984, S. 35). »Systembildung erzeugt Umwelt und nicht umgekehrt Umwelt Systeme«, so Krause (1996, S. 19). Indem Systeme ihre Grenzen definieren und sich ausdifferenzieren, konstituieren sie 


»Umwelt als das, was jenseits ihrer Grenzen liegt. Umwelt in diesem Sinne ist dann kein eigenes System, nicht einmal eine Wirkungseinheit, sondern nur das, was als Gesamtheit externer Umstände die Beliebigkeit der Morphogenese von Systemen einschränkt und sie evolutionärer Selektion aussetzt« (Luhmann 1986, S. 23).


Ein System vermag nach der Theorie autopoietischer Systeme (→ Autopoiesis) seinen Umweltkontakt durch Selbstkontakt ausschließlich auf der Grundlage seiner eigenen Elemente herzustellen. Die Umwelt ist notwendige Bedingung der Möglichkeit der Systemerhaltung. Umwelt steht daher für alles vom System Ausgeschlossene und repräsentiert »einfach alles andere« (Luhmann 1984, S. 249).
Systeme sind strukturell mit ihrer Umwelt gekoppelt (→ Kopplung). Etwa sind biologische Systeme über Medien wie Gravitation, Atmosphäre, Lichtwellen, Schallwellen an die Umwelt gekoppelt, in die sich bestimmte Formen (z. B. Farben, Töne, Gerüche etc.) einschreiben und ggfs. evolutionär durchsetzen. Richtigerweise ist hierbei zu sagen, dass es Beobachter und Beobachterinnen sind, die über → Beobachtungen (Unterscheiden und Bezeichnen) diese besagten Formen erzeugen und – etwa wie in der Sprache durch gesteigerte Wortverwendung – reproduzieren.
Für soziale Systeme, die bekanntlich als → Kommunikationen prozessieren, sind Umweltverschmutzung, das Schmelzen der Polkappen, Gefängnisse, Elektroroller, Zwergantilopen, d. h. überhaupt Gegenständ- oder Körperlichkeit jeder Art, aber auch Bewusstseine und Gefühle: Umwelt. Und von innen aus gesehen sind psychische und auch lebende Systeme autopoietische Systeme in der externen Umwelt der → Gesellschaft.
Für psychische Systeme gilt, dass sie in ihrer Umwelt Materie, Organismen inklusive des eigenen → Körpers und erheblich ausdifferenzierte soziale Systeme wie → Familie und → Organisationen vorfinden (erneut richtiger: hinbeobachten), mit denen sie strukturell über → Sprache gekoppelt sind.
Systeme können insofern ohne Umwelt nicht bestehen (vgl. Luhmann 1984, S. 34). Ein System kann sich in seiner Umwelt – 


»von der es sich unterscheidet und damit erst als seine Umwelt schafft! – nur halten, wenn es für seine Operationen in seiner Umwelt hinreichende Voraussetzungen vorfindet bzw. sich im Widerstand gegen die selbst geschaffenen Bedingungen der eigenen Möglichkeit erhält« (Krause 1996, S. 32). 


Eine der wichtigsten Konsequenzen des System/Umwelt-Paradigmas ist mit Luhmann, 


»dass man zwischen der Umwelt eines Systems und Systemen in der Umwelt dieses Systems unterscheiden muß. Diese Unterscheidung hat eine kaum zu überschätzende Bedeutung. So muß man vor allem die Abhängigkeitsbeziehungen (→ Beziehung) zwischen Umwelt und System unterscheiden von den Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Systemen. Diese Unterscheidung torpediert die alte Herrschaft/Knechtschaft-Thematik. Ob und wie weit sich Verhältnisse ausbilden lassen, in denen ein System ein anderes dominiert, ist nicht zuletzt abhängig davon, wie weit beide Systeme und wie weit das System ihrer Beziehungen von der jeweiligen Umwelt abhängen. […] Die Systeme in der Umwelt des Systems sind ihrer­seits auf ihre Umwelten hin orientiert. Über fremde System/Umwelt-Beziehungen kann jedoch kein System ganz verfügen, es sei denn durch Destruktion. Daher ist jedem System seine Umwelt als verwirrend komplexes Gefüge wechselseitiger System/Umweltbeziehungen gegeben, zugleich aber auch als eine durch das eigene System selbst konstituierte Einheit, die eine nur selektive Beobachtung erfordert« (Luhmann 1984, S. 37).


Die Differenz zur Umwelt, die im Falle psychischer wie sozialer Systeme durch → Sinngrenzen vermittelt wird, wird zum exklusiven Konstitutionsprinzip von Systemen, die sich mittels selbstreferenzieller Operationen und Prozesse im Modus von Gedanken oder Kommunikation reproduzieren.
Der Umwelt eines Systems kann wiederum alles zugeschrieben werden, was sich der selbstreferenziellen Operationsweise des Systems entzieht. Beispielsweise sind alle Kommunikationen des Funktionssystems Wirtschaft an der Leitunterscheidung zahlen/nicht zahlen ausgerichtet, während die Umwelt des Wirtschaftssystems alle nichtökonomischen Kommunikationen politischer, juristischer, familialer, religiöser, erzieherischer, wissenschaftlicher oder sonstiger Art umfasst. So gehören Kommunikationen zur Umwelt des Wirtschaftssystems, wenn sie auf Bedürfnisse oder die richtige Gesinnung abheben, auf Gerechtigkeit rekurrieren oder Entscheidungen im Hinblick auf moralische Standards bewerten.
Der hier Verwendung findende Umweltbegriff hat demnach eine strikt systemrelative Bestimmung. Systemrelativ ist der Umweltbegriff, da jedes Subsystem der Gesellschaft aufgrund seiner selbstreferenziellen (→ Selbstreferenz) Operationsweise eine eigene Umwelt konstituiert, die sich von der Umwelt anderer Subsysteme unterscheidet. Die Umwelt »ist« nicht objektiv gegeben, sondern erhält ihre Einheit erst durch das System und nur relativ zum System. Sie ist ihrerseits durch offene Horizonte, nicht jedoch durch überschreitbare Grenzen umgrenzt; sie ist selbst also kein System. Sie ist für jedes System eine andere, da jedes System nur sich selbst aus seiner Umwelt ausnimmt.
Nicht nur hat jedes soziale System eine eigene Systemumwelt, durch die ein System erst zu dem wird, was es ist. Zugleich ist – wie in der Gesellschaft – ein System immer schon Bestandteil der Umwelt aller anderen sozialen Systeme. So ist auch die Umwelt des Systems nie mit der Umwelt anderer Systeme identisch. So ist beispielsweise die ökonomische Kommunikation des Wirtschaftssystems für das Subsystem Religion systemeigene Umwelt, da deren Operationen nach der binären Codierung gläubig/ungläubig organisiert sind, während hingegen die religiöse Kommunikation zur Umwelt des Systems Wirtschaft gehört.
Zugleich ist die 


»Zurechnung auf Umwelt (externale Zurechnung) eine Systemstrategie. Das alles heißt jedoch nicht, dass die Umwelt vom System abhängt oder dass das System über seine Umwelt nach Belieben disponieren könnte. Vielmehr schließt die Komplexität des Systems und der Umwelt jede totalisierende Form von Abhängigkeit in der einen oder anderen Richtung aus« (Luhmann 1984, S. 36).


Die Differenz von Umwelt und System hat praktische Konsequenzen für das Verständnis von Kausalität: 


»Die Trennlinie von System und Umwelt kann nicht als Isolierung und Zusammenfassung der ›wichtigsten‹ Ursachen im System begriffen werden, sie zerschneidet vielmehr Kausalzusammenhänge, und die Frage ist: unter welchem Gesichtspunkt? Stets wirken an allen Effekten System und Umwelt zusammen – im Bereich sozialer Systeme allein schon deshalb, weil es ohne das Bewußtsein psychischer Systeme kaum zu Kommunikation kommen kann. Daher ist zu klären, warum und wie Ursächlichkeit auf System und Umwelt verteilt wird« (Luhmann 1984, S. 40). 


Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass auch Kausalität ein Beobachterschema unter anderen darstellt und gerade die Variation von Beobachterschemata zu therapeutisch nützlichen Systemirritationen beitragen kann.
Eine weitere praktische Aufgabe für → Beratung, → Therapie bzw. Versuche von Organisationsreformen (→ Reform [organisatorische]) erwächst daraus, im System die → Komplexität und das Interesse daran dadurch zu steigern, dass anstehende Umwelt-Anpassungen zu einer Reduktion von Komplexität im System führen, wenn nicht sogar die Bestandserhaltung des Systems als solches abstützen. 


»Kein System kann sich in seiner Umwelt erhalten, wenn es nicht Umweltanforderungen in Systemanforderungen übersetzen kann. Selbstabstimmungen bleiben dabei Abstimmungen, die sich selbst in ihren Beziehungen zu ihren Umwelten beobachtende oder als solche beobachtete Systeme zwischen sich und anderen Systemen in ihren Umwelten vornehmen« (Krause 1996, S. 79). 


Solche Abstimmungen können Entscheidungen zwischen → Inklusion und → Exklusion nach sich ziehen, die jeweils neue, zumindest veränderte System-Umwelt-Per­spektiven hervorbringen.


Verwendete Literatur
Krause, Detlef (1996): Luhmann: Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. Stuttgart (Lucius und Lucius), 4. Aufl. 2005.
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen (Westdeutscher Verlag).


Weiterführende Literatur
Baraldi, Claudio, Giancarlo Corsi u. Elena Esposito (1997): GLU – Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (Hrsg.) (1987): Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Wiesbaden (Springer VS), 4. Aufl. 2005.


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