Narrativ

engl. narrative, von lat. narratio = »Erzählung«; bezeichnet allgemein gesprochen eine sinnstiftende oder deutende Geschichte oder Erzählung.


Der Begriff des Narrativs wird von zahlreichen Wissenschaftszweigen in teils sehr unterschiedlicher Weise verhandelt. Somit kann nicht von einem einheitlichen Begriffsverständnis gesprochen werden, wenngleich sich einige für die systemische Praxis besonders relevante Anknüpfungspunkte identifizieren lassen, welche u. U. gerade dieser semantischen Pluralität geschuldet sind.


Während Literaturwissenschaft und Erzähltheorie Form, → Funktion, Gestalt und Ästhetik fiktionaler und nicht-fiktionaler Texte betrachten, fragt die narrativ infor­mier­te Soziologie u. a. nach den → Funktionsweisen sowie Entstehensbedin­gungen und -kontexten von gesellschaftlichen und kulturellen Narrativen sowie deren Einfluss auf die Mitglieder einer → Gesellschaft oder → Kultur. Besonders im eng­lischsprachigen Raum beleuchtet die narrative Psychologie diesen Einfluss indivi­dueller und gesellschaftlicher/kultureller Narrative auf die → Identitätsentwicklung und -konstruktion (→ Konstruktion) von Einzelnen genauer. In diesem Zusammenhang ist häufig von einer »narrativen Identität« die Rede (vgl. z. B. Kraus 2000).


Für den therapeutischen/beraterischen → Kontext wurde der Begriff des Narrativs vor allem durch die Arbeit von Michael White und David Epston erschlossen, die als Sozialarbeiter und Familientherapeuten in Australien und Neuseeland tätig waren. In den 1980er-Jahren entwickelten sie, beeinflusst von den systemtheoretischen Überlegungen Gregory Batesons (→ System), dem sozialen Konstruktionismus nach Kenneth Gergen, diskursanalytischen Überlegungen Michel Foucaults, poststrukturalistischen Ideen nach Jacques Derrida und nicht zuletzt auch machtkritischen Einwürfen aus feministischen und antirassistischen Diskursen den Ansatz der narrativen → Therapie (→ Macht). Seitdem wurde die narrative Therapie stetig weiterentwickelt und auf neue Anwendungskontexte übertragen (vgl. z. B. Olthof 2017).


Ob und inwiefern es sich bei der narrativen Therapie um einen genuin systemischen Ansatz, ein im systemischen Feld anwendbares Methodeninventar oder gar um einen Gegenentwurf zu den (historischen) Spielarten systemischer Praxis handelt, ist hierbei nicht ganz unumstritten (vgl. z. B. Levold 2022; Hayward 2009; Freedman a. Combs 1996).


Aus systemischer Sicht stellen Narrative in mindestens dreierlei Hinsicht ei­nen interessanten Praxiszugang dar. Auf der individuellen Ebene lässt sich der Frage nachgehen, welchen Einfluss über die Zeit individuell entwickelte und sozial erprobte (Selbst-)Erzählungen auf die Konstruktion und Aufrechterhaltung von Identitätsentwürfen der einzelnen → Person haben – und umgekehrt auch, inwiefern sich Identitätsentwürfe auf das Erzählte auswirken (→ Konstruktivismus). Narrative Ansätze sprechen in diesem Zusammenhang von Erzähllinien als einer zweckgebundenen Auswahl und Verknüpfung einzelner biogra­fi­scher Ereignisse:


»Im Leben eines Menschen gibt es viele verschiedene Ereignisse, aber nur einige davon werden zu Erzähllinien seiner Identität ausgestattet. Welchen Erzählfaden man in seinem Leben verfolgt, entscheidet darüber, wer man ist und wie man handelt« (Denborough 2017, S. 18 f.).


In therapeutisch-beraterischen Kontexten ließe sich hier die Frage stellen, wie passend (→ Viabilität) die bisherigen Erzählfäden für die Klienten und Klientinnen sind, d. h., ob sich gegenwärtig Erlebtes hinreichend in diese integrieren lässt.


Ferner lässt sich auch in sozialen Systemen (→ Sozialsystem) beobachten, wie Erzählungen, Geschichten, Mythen, Imperative und Erwartungen mehr oder weniger gemeinsam hervorgebracht werden und sich auf die funktionale Struktur des Systems auswirken können (→ Paar, → Familie,→ Organisation). Dies kann in offener Form (»Das ist die Geschichte unserer Beziehung«) oder in verdeckter Form passieren (»Beruflicher Erfolg ist in unserer Familie offenbar ein hohes Gut, wenn ich diesen Erzählungen Glauben schenke« als Erwartungs-Erwartung).


Auf gesellschaftlicher/kultureller Ebene lässt sich (z. B. mit Foucault) nach dem Einfluss von dominanten Diskursen auf das (Er-)Leben von Einzelpersonen und sozialen Systemen und das mögliche Repertoire an sozial gemeinhin anerkannten Narrativen fragen. Narrative Ansätze fokussieren hier u. a. die sog. »Master Stories«, mit denen das → Individuumspätestens im Prozess der (→ Sozialisation) konfrontiert wird und die markieren, welchen Inhalt, welche Form und Struktur eine »gute Erzählung« in der gegenwärtigen Gesellschaft haben soll oder kann. Hier wären exemplarisch z. B. Erzählungen/Vorstellungen über Geschlechterrollen, Elternschaft, Glück, Erfolg oder den »Sinn des Lebens« zu nennen.


In der systemischen Praxis sehen sich Klienten und Klientinnen häufig mit → Pro­ble­men konfrontiert, denen sie sich in ihrem momentanen Erleben nicht hinreichend gewachsen fühlen. Hier kann im Sinne einer Problemtrance eine »problemgesättigte Erzählung« vorliegen, welche das Erleben der Person um das bestehende Problem kreisen lässt und eine dichte, für die Person kohärente und biografisch begründete Abfolge einzelner »problematischer« Erfahrungen darstellt. Menschen neigen dazu, diese Probleme zu internalisieren, also im Sinne einer Selbstattribuierung als de­ckungs­gleich mit sich selbst als Person zu erleben. Hier lässt sich mit der Methode der → Externalisierung ansetzen, welche das Problem außerhalb der Person verortet und eine neue Positionierung zu problemgesättigten Erzählungen ermöglicht.


Ferner lässt sich der Versuch unternehmen, beispielsweise durch Biografie­ar­beit, lösungs- oder ressourcenorientiertes Fragen das Augenmerk auf biografische Er­eig­nisse und Erfahrungen zu lenken, in denen die Klienten und Klientinnen selbst Ausnahmen vom Problem erlebt haben, in denen sie in stärkerem Maße auf vorhandene → Ressourcen zurückgreifen konnten und die, zu einer »neuen« Erzähllinie verdichtet, einen möglicherweise passenderen Gegenentwurf zu vorherrschenden, problemgesättigten Erzählungen darstellen können.


Der machtkritische und durchaus emanzipative Charakter systemisch-narrativer Praxis ermöglicht es weiterhin, den Einfluss äußerer Narrative nachzuzeichnen, zu dekonstruieren und eigene, viablere Erzähllinien zu entwickeln. Im Sinne des sozialen Konstruktionismus können hier z. B. Erwartungen und Imperative aus dem Familien- oder Organisationssystem in den Blick genommen werden: »In meinem Unternehmen wird Verantwortung so erzählt, dass sie eine nahezu grenzenlose Ausbeutbarkeit der einzelnen Person beinhaltet.« Hier ließe sich erarbeiten, welches eigene Begriffsverständnis für das Leben und Erleben der Klientin oder des Klienten zuträglicher wäre und inwiefern die Geschichte der Überlastung am Ar­beits­platz so eine komplett neue Färbung bekäme. Geteilte oder gemeinsam erzeugte Narrative in Familien, Teams und Organisationen lassen sich auch durch → Zirkuläre Fragen in ihrer Wirkung und (vermuteten) Funktion sichtbar machen und gemeinsam dekonstruieren, wenngleich sie sich aufgrund ihres »gewachsenen« Charakters häufig als sehr stabil erweisen.


Besonders Personen aus gesellschaftlich marginalisierten Gruppen sehen sich mit dominanten Diskursen konfrontiert, die ihre eigene(n) Lebensrealität(en) nur unzureichend berücksichtigen und abbilden – seien dies nun z. B. queere Menschen, Menschen mit Flucht- und Migrationshintergründen, Menschen mit Behinderung, Menschen in → Armutslagen, usw. Hier besteht u. a. die Möglichkeit, das soziale → Netzwerk einer Person als Quelle »lokaler Diskurse« zu nutzen und gemeinsam »Gegennarrative« zu entwickeln und zu teilen, die sich normativen und einengenden Erzählungen entsagen und die der konkreten Lebensrealität der Einzelnen besser gerecht werden.


 


Verwendete Literatur


Denborough, David (2017): Geschichten des Lebens neu gestalten. Grundlagen und Praxis der narrativen Therapie. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).
Freedman, Jill a. Gene Combs (1996): Shifting paradigms. From systems to stories. In: dies. (eds.): Narrative therapy. The social construction of preferred realities. New York (W. W. Norton), pp. 1–19.
Hayward, Mark (2009): Is narrative therapy systemic? Context 10: 13–16.
Kraus, Wolfgang (2000): Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne. Herbolzheim (Centaurus).
Levold, Tom (2022): Sprechen und Erzählen. Für eine Erweiterung der narrativen Perspektive in der systemischen Therapie. In: Peter Jakob, Maria Borcsa, Jan Olthof u. Arist von Schlippe (Hrsg.): Narrative Praxis. Ein Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), S. 73–89.
Olthof, Jan (2017): Handbook of narrative psychotherapy for children, adults and families. Theory and practice. London (Carnac).


Weiterführende Literatur
Schmidt, Siegfried J. (2003): Geschichten und Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt).
Straub, Jürgen (2019): Das erzählte Selbst. Konturen einer interdisziplinären Theorie narrativer Identität. Gießen (Psychosozial-Verlag).
White, Michael (2010): Landkarten der narrativen Therapie. Heidelberg (Carl-Auer), 2. Aufl. 2021.
White, Michael u. David Epston (1990): Die Zähmung der Monster. Der narrative Ansatz in der Familientherapie. Heidelberg (Carl-Auer), 8. Aufl. 2020.