Irritation

engl. irritation, franz. irritation f, von lat. irritare = »reizen, erregen, provozieren«; bezeichnet zunächst allgemein: Störung. In der soziologischen Systemtheorie gewann der Begriff eine besondere Bedeutung unter den Themen von Steuerung und Intervention (Willke 2005).


Irritation bezeichnet das von einem autopoietischen (AutopoiesisSystem wahrgenommene, aber informationell noch nicht verarbeitete »Rauschen« seiner Umwelt. Der Aufbau sozialer (Sozialsystem) und psychischer Systeme »folgt dem order from noise principle (von Foerster)« (Luhmann 1987, S. 291 f.; von Foerster 2003, p. 13 f.). Umwelteinwirkungen determinieren autopoietische Systeme nicht, da die Festlegung auf Bestimmtes von den systemeigenen Netzwerken eigener Operationen (Kommunikation; Psyche) zur Fortsetzung der Autopoiesis selbst erzeugt wird. Umwelteinwirkungen können vom System zunächst nur als Irritation wahrgenommen werden. Irritation – auch »Perturbation« (Luhmann 1998, S. 790) genannt – regt zur Fortsetzung der autopoietischen Operationen eines Systems an. Sie versetzt das System in eine Situation, in der es entscheiden muss, ob es Strukturveränderungen vornehmen sollte oder nicht. Irritation beschreibt damit einen Systemzustand, der zur weiteren Durchführung der Autopoiesis anregt, aber dabei zunächst offenlässt, ob systemeigene Strukturen geändert werden müssen oder nicht. Der Begriff der Irritation bezieht sich im Weiteren aber nicht auf das allgemeine, sondern eher auf das spezifische System-Umwelt-Verhältnis. Der Begriff findet seinen theoretischen Ort im Zusammenhang von Autopoiesis und struktureller Kopplung. Hiermit sind die System-zu-System-Beziehungen gemeint. Autopoietische Systeme unterhalten mediale Beziehungen zu anderen sinnhaften (Sinn) Systemen (Psyche; Kommunikation) oder nichtsinnhaften Systemen (zur organischen Umwelt). Dabei setzen sie bestimmte Eigenarten anderer autopoietischer Systeme strukturell und dauerhaft voraus. Sie greifen auf die Komplexität anderer Systeme zurück, um Eigenkomplexität zu bewältigen. Dies erzeugt die Möglichkeit von Systemerhaltung. Strukturelle Kopplungsbeziehungen sind auf relative Dauer gestellt und wirken als bemerkter oder unbemerkter Gründungszusammenhang für System-zu-System-Beziehungen. Strukturelle Kopplungen erfolgen über Personen, Organisationen und Programme. Das allgemeine »Rauschen« (Irritation) gewinnt durch strukturelle Kopplung informationell erst an Bedeutung. Strukturellen Kopplungsbeziehungen geht Irritation voraus. Strukturveränderungen werden vom System nur auf der Grundlage eigener Sinnkonstitution vorgenommen. Da sich Sinn infolge von Selbstreferenzialität psychischer und sozialer Systeme nicht von außen steuern lässt, ist Sinnirritation der verbleibende Weg für autonome (Autonomie) Systemveränderungen. Die Orientierung an der Verfügbarkeit von Handlungsoptionen scheint das aussichtsreichste Irritationspotenzial zu besitzen, da so die nicht deckungsgleichen Beobachtungsperspektiven deutlich werden und sich wechselseitig instruktiv zur Frage von Sinnkonstitution und Sinnmodifikation verknüpfen können (Willke 2005, S. 88 f). In der Praxis geht es um die Irritation von selbst- und fremdreferenziellen Sinnverweisungen. Irritation gewinnt auf allen drei Systemebenen (Gesellschaft, Organisation, Interaktion) an Bedeutung:


(a) Auf der Ebene von Gesellschaft agiert etwa Soziale Arbeit als Sensor gesellschaftlicher Inklusions- und Exklusionsprobleme (Inklusion; Exklusion). Im Kern geht es um Inklusionsvermittlung, Exklusionsvermeidung und Exklusionsbetreuung (Bommes u. Scherr 2000, S. 131–140). Die Profession bringt sich als Irritationspotenzial für operative Kopplungsbeziehungen in gesellschaftliche Funktionssysteme ein, insbesondere in Politik, Recht, Bildung und Erziehung, Gesundheit, Verbreitungsmedien, Wissenschaft und Wirtschaft (Lambers 2010, S. 123–126, 139–142).


(b) Auf der Ebene von Organisation steht Entscheidungshandeln im Mittelpunkt systemischer Praxis. Entscheidungshandeln ist der spezifische Operationsmodus von Organisationen. Das Problem von Entscheidung wird zum Problem von Kontextsteuerung, da direkte Steuerung von Organisationen nicht möglich ist und damit nur die Irritation ihrer Kontexte bleibt (Willke 2004). Hierfür sind Verfahren der systematischen Selbstbeobachtung angezeigt. Entscheidungshandeln ist auf die Beobachtung von Beobachtungen angewiesen, d. h. auf die 2. Ebene von Beobachtung. Komplexität, Selektivität von Information, Mitteilung und Verstehen und daraus gegebene doppelte Kontingenz erfordern zwangsläufig die Reflexion der eigenen Beobachtung und darin gegebener »blinder Flecken«. Organisationen bilden hierzu Verfahren der Metakommunikation (Kommunikation über Kommunikation) aus in Form systematischer und methodisch extern angeleiteter Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Bei Fach- und Leitungskräften findet Selbstbeobachtung als Fall- und Teamsupervision (Supervision), kollegiale Fallberatung (Beratung) und Coaching statt. Coaching und Supervision sind gewissermaßen Grenzgänger zwischen Person und Organisation. Sie leiten mit ihren Reflexionsthemen oftmals zur Ebene von Organisationsstruktur (z. B. Führungs-, Aufbau- und Ablaufstruktur) als Reflexionsthemen von Organisationsberatung und -entwicklung hinüber. In wissenschaftlicher Reflexion schließlich werden die genannten Beobachtungsthemen zu metakommunikativen Beobachtungen der 3. Beobachtungsebene (wissenschaftliche Reflexionen der Beobachtungen von Beobachtungen). Metakommunikative Verfahren der 2. und 3. Beobachtungsebene stellen für Organisationen mithin ein reichhaltiges Potenzial zur Selbstirritation zur Verfügung.


(c) Auf der Ebene von Interaktion findet Irritation ihren Raum in einer Vielzahl von Methoden und Techniken/Verfahren selbstreferenzieller Problembearbeitung. Beispiele hierfür sind in den re- und dekonstruierenden Verfahren (Dekonstruktion) beschrieben. Diese Verfahren sind gekennzeichnet durch selbstreferenzielle Problembearbeitung des Klienten mit den Merkmalen von Freiwilligkeit, Eigeninteresse und Eigenverantwortung. In ihrer Zielbestimmung sind sie somit prozessimmanent, zirkulär angelegt (Zirkuläres Fragen) und nicht extern, linear vorgegeben. Über methodische Aspekte hinaus geht das sogenannte Empowerment. Es ist als Form einer professionellen Grundhaltung bekannt geworden, die von der Selbstreferenzialität im Erleben und Handeln ausgeht und Erwartungen an Hilfekonstruktionen durch eine Haltung zur Selbstermächtigung – in dekonstruierender Absicht – aufzulösen sucht.


Verwendete Literatur


Bommes, Michael u. Albert Scherr (2000): Soziologie der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in Formen und Funktionen Sozialer Hilfe. Weinheim/München (Juventa).


Foerster, Heinz von (2003): Understanding understanding: Essays on cybernetics and cognitions. New York (Springer).


Lambers, Helmut (2010): Systemtheoretische Grundlagen Sozialer Arbeit. Opladen (Budrich).


Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Willke, Helmut (2004): Einführung in das systemische Wissensmanagement. Heidelberg (Carl-Auer), 3., überarb. u. erw. Aufl. 2011.


Willke, Helmut (2005): Systemtheorie II. Interventionstheorie. Grundzüge einer Theorie der Intervention in komplexe Systeme. Stuttgart (Lucius & Lucius).


Weiterführende Literatur


Schlippe, Arist von u. Jochen Schweitzer (2009): Systemische Interventionen. Göttingen (Vandenhoek & Ruprecht).


Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1 u. 2. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).