Das Ende des Marktfundamentalismus
Mit der gegenwärtigen Corona-Krise erleben wir das Ende der Epoche des Marktfundamentalismus.
Seit der von Ronald Reagan und Margaret Thatcher („es gibt keine Gesellschaft“) vertretenen Ideologie, dass der Markt fast alle Entscheidungen, die das öffentliche Leben betreffen, besser regeln könne als der Staat, hat ein kontinuierlicher Prozess der Deregulierung in der westlichen Welt stattgefunden. Gestützt wurde dies durch die pseudo-wissenschaftlichen Konzepte der Chicago-Schule der Volkwirtschaft, die letztlich allein die Interessen ihrer Geldgeber vertraten (ein Problem der privaten Finanzierung von Wissenschaft); dazu gehört auch das lächerliche Modell, dass die Orientierung am Shareholder-Value ein geeignetes Verfahren der Unternehmenssteuerung sei.
Verbunden mit der marktfundamentalistischen Ideologie war das Misstrauen gegen den Staat, der als Teil nahezu aller Probleme, nicht aber als Teil ihrer Lösung betrachtet wurde.
Wenn man es soziologisch ausdrücken will: Das Funktionssystem Wirtschaft hatte die Priorität gegenüber allen anderen Funktionssystemen inkl. der Politik gewonnen.
Die Folge dieser fatalen Umstrukturierung der westlichen Gesellschaft war, dass das, was Märkte generell auszeichnet, auch in anderen Bereichen stattfand: Das Matthäus-Prinzip wurde wirksam, d.h. die Reichen wurden reicher, die Armen immer ärmer. Unregulierte Märkte verstärken nun einmal Unterschiede – das ist eines ihrer Merkmale und liegt in der Logik ihres Funktionierens (habe an anderer Stelle ausführlich darüber geschrieben).
Eine weitere Folge: das Aufkommen des Populismus. Er hat zwar keine Lösungen anzubieten (ganz im Gegenteil: z.B. fordert die AfD „Mehr-desselben“ im Blick auf die Deregulierung von Märkten), aber er kann von der Unzufriedenheit derer profitieren, die wahrnehmen, dass etwas nicht „stimmt“, wie bei uns Entscheidungen, die jeden betreffen, zustande kommen (aus meiner Sicht: dass wirtschaftlichen Erwägungen Priorität gegeben wird).
Das alles hat nun ein Ende gefunden: Der Staat, d.h. das politische System, hat wieder die Führung übernommen, Corona sei Dank! Und die politisch Verantwortlichen kümmern sich nunmehr um eine Umwelt der Gesellschaft – den menschlichen Körper (als Kollektiv-Singular verstanden). Weltweit – mit ein paar Staaten als Kontrollgruppe (Weißrussland, Nord-Korea, Schweden, Brasilien etc.) – wird das Leben der Bürger eingeschränkt, um der Gesundheit einer – wie immer definierten – Minderheit willen. Die Wirtschaft bzw. die wirtschaftlichen Folgen haben zurückzustehen.
Wie immer man das bewerten mag, der Primat der Wirtschaft ist in Frage gestellt. Märkte sind zwar ziemlich intelligente Systeme, wenn es um wirschaftliche Fragen geht wie etwa die Allokation von Ressourcen. Sie sind aber dumm und gefährlich, wenn es um die Regelung andere gesellschaftlicher Funktionssysteme geht: das Gesundheitssystem, das Erziehungssystem, die Wissenschaft, das Rechtssystem, …, kurz, wo immer es um den Aufbau oder Erhalt öffentlicher Infrastrukturen geht. Da darf man nie auf den Markt vertrauen. Da ist der Staat gefragt.
Interessant ist, dass (wenn man den Umfragen trauen darf) 90% oder mehr sich an die jetzt verhängten staatlichen Maßnahmen wie Ausgangsverbot etc. halten. Offenbar genießt der Staat immer noch so viel Vertrauen, dass die mündigen Bürger sich an diese Gebote halten. Denn durchsetzen könnte man solche Regeln gegen den Widerstand von Millionen Menschen nicht…
Interessant ist, dass in den Ländern, wo das Misstrauen dem Staat gegenüber am größten ist und Populisten wie Trump die Macht ergriffen haben, die Corona-Sterberate ziemlich hoch ist. Erklären lässt sich dies m.E. damit, dass dort eine dem Marktfundamentalismus folgende Politik zum Abbau des Gesundheitssystems entscheidend beigetragen hat (z.B. die von der Troika veranlasste Sparpolitik in Spanien). Im Falle von Trump wird das gesäte Misstrauen gegen den Staat („deep state“) zur selbsterfüllenden Prophezeiung: der Staat, vor allem sein Präsident, hat in den USA versagt, die vielen Toten sind Trumps Tote!
