DPG-Jahrestagung 2022

DPG-Jahrestagung 2022

Auf der Tagung wollen wir uns mit dem Spannungsfeld von Virtualität und Realität beschäftigen, und wir wollen diesem Spannungsfeld als Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker begegnen. Der Titel reflektiert, dass die Digitalisierung, forciert durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen massiven Kontakteinschränkungen, auch die Psychoanalyse und ihre klinische Praxis erreicht hat. Die Widersprüche und Paradoxien des Titels benennen den Gefühlszustand, wie das Weltgefühl des gut informierten und doch die Übersicht verlierenden Zeitgenossen, und spiegeln die Pole der Auseinandersetzung wider, die in der Diskussion der Vorbereitungsgruppe und im gesellschaftlichen Diskurs eine bedeutende Rolle spielen.

Seit Beginn des 21. Jahrhundert folgt Krise auf Krise: Internationaler Terrorismus, Finanzkrise, transnationale Migrationsströme, rasender Populismus, der sich in den digitalen Echokammern zersplitternde öffentliche Raum und die Klimaerwärmung. Themen vorangegangener Jahrestagungen, wie Die phantastische Macht des Geldes, Heimatlos, Trauma und Transformation, zeigen, wie wir mit einer psychoanalytischen Reflexion darauf reagiert haben.

Wir leben in einer Zeit rasanter gesellschaftlicher Beschleunigung und zugleich herrscht Erregter Stillstand.

Die mediale Revolution trifft historisch auf gewaltige ökonomische und gesellschaftliche Umbrüche. In der Soziologie wird zunehmend von Spaltung der Gesellschaft gesprochen. Gemeint ist damit nicht nur eine Spaltung in arm und reich, gesichert und prekär, sondern vor allem eine in Repräsentanz und Nicht-Repräsentanz, in Anerkennung und nicht Anerkennung. Aus der überfordernden Komplexität der Globalisierung, der Relativierung von Strukturen wie Familie und Nation, der gesellschaftlichen Ungleichheit, dem Kontrollverlust durch Migrationsbewegungen resultiert eine massive Identitätsunsicherheit. Erlebt wird diese aber vor allem als große persönliche Kränkung. Aus dem Gefühl nicht repräsentiert, nicht gesehen und entwertet zu werden, resultiert der Kampf um Repräsentanz und Anerkennung, der in den sozialen Medien erbittert ausgetragen wird. Handelt es sich um eine kollektive Regression auf Spaltungsprozesse, deren paranoid-schizoide Dynamik medial verstärkt wird? Trifft es zu, dass anstelle anerkannter Hierarchien – einem gesellschaftlich geteilten Über-Ich – auseinanderdriftende Parallelgesellschaften entstehen, die eigene, voneinander abgekoppelte Entwürfe von Realität und Wahrheit vertreten? Wie können wir dann noch in Kontakt kommen und miteinander diskutieren? Bringt die globalisierte virtuelle Welt einen Zuwachs an Freiheit, wie er noch in den 1990er Jahren in Aussicht gestellt wurde, oder führt sie zu moralischer Verantwortungslosigkeit und gesellschaftlicher Unverbindlichkeit?

Zentral scheint die Frage, wie sich die virtuellen Welten im Erleben und Leiden der Einzelnen niederschlagen. Während einige sich zu fluiden Identitäten verführen lassen, entwickeln andere eine massive Identitätsunsicherheit oder starre Abwehrformen. Führt der Mangel an realer Körperlichkeit und Sexualität zu einer Dominanz virtueller Objektvorstellungen und masturbatorischer Selbststimulation und zu einer Schwächung der menschlichen Beziehungsfähigkeit? Wie wird die Vorstellung von Sex und Gender bei Kindern und Jugendlichen beeinflusst? Ermöglicht die Cybersexualität in fluide Genderrollen zu schlüpfen, präödipale Phantasien auszuleben, die keinen realen Körper als Gegenüber benötigen, oder bleibt die individuelle psychosexuelle Entwicklung, weil es kein adoleszentes Moratorium mehr gibt, auf der Strecke?

Eine Herausforderung stellt die Virtualität für die Klinik dar. Das beginnt mit den Chancen und Grenzen der virtuellen, medial ausgeführten Therapiesitzungen. Aber vor allem werden wir mit neuen Formen der Spiel- oder Handysucht, der Beziehungsstörungen, Körperschemastörungen und des pathologischen Narzissmus konfrontiert. Kann man hier von einem neuen, technischen Unbewussten sprechen? Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob die virtuelle Welt von Smartphones, Social Media und Technokultur Veränderungen oder gar eine Revision der psychoanalytischen Kulturtheorie erfordert.

Scheint es zu hoffnungsvoll, Virtualität als Übergangsraum aufzufassen, in dem Berührung vorstellbar ist? Ermöglichen virtuelle Begegnungen Berührt-Sein, das real ist, indem es verändert, oder brauchen wir für die emotionale Berührung die körperliche Präsenz von Selbst und Anderem? Aber ist die Realität so real, wie wir glauben? Müssen wir in Anbetracht aktueller gesellschaftlicher Verwerfungen und dem fortschreitenden Klimawandel realisieren, wie verändert, verletzt und gefährdet unsere Lebenswelt ist, wie sie zersplittert, oder von Zersplitterung zumindest bedroht ist? Wird die Realität mit virtuellen Mitteln umdefiniert oder verleugnet, um diese Wahrnehmung zu vermeiden?

Angesichts virtueller Verführungen und realer Probleme schwankt das Subjekt zwischen Grandiosität und Hilflosigkeit, manischer Abwehr und Angst. In seiner psychischen Realität findet es sich den mächtigen Kräften des Virtuellen und der äußeren Realität ausgesetzt. Damit ist die psychoanalytische Perspektive markiert, mit ihr kommen die Phantasien, Wünsche, Ängste, Befriedigungen, Überzeugungen und Bewältigungsmöglichkeiten des Subjekts ins Spiel. Wie kann das Subjekt sich als Akteur zwischen Virtualität und äußerer Realität behaupten, unter welchen Bedingungen wendet es sich zum Destruktiven oder zum Entwicklungsfördernden?

12. 05.2022

Details

Beginn: 12.05.2022, 15:00
Ende: 15.05.2022, 14:00
Adresse: DPG-Geschäftsstelle Goerzallee 5 12207 Berlin
Art der Veranstaltung: Tagung
Ticketkauf: https://dpg-psa.de/News/dpg-jahrestagung-2022.html

Veranstalter:innen

Name des Veranstalter:in: Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG)
Telefon: +49 30 8431 6152
E-Mail: geschaeftsstelle@dpg-psa.de
© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH Alle Preise in Euro und inkl. der gesetzlichen Mehrwertsteuer, zzgl. Versandkosten.