Engagement und Verantwortung in hypnosystemischer Therapie und Beratung

Gunther Schmidt hat mit der Erfindung und stetigen Weiterentwicklung des hypnosystemischen Ansatzes große, neue und bedeutende Spiel- und Wirkungsräume für die Arbeit in Psychotherapie, Beratung und Organisationsentwicklung eröffnet. Mit der Gründung der Systelios-Klinik vor nahezu zwanzig Jahren ist es ihm und seinen Kolleg:innen auch gelungen, diesen Raum im klinischen Kontext zu etablieren, in der Arbeit mit Klient:innen genauso wie in der besonderen Form von Selbstorganisation, die Systelios auszeichnet.
Gunther Schmidt gründete, neben vielem anderen, Anfang der 2000er Jahre auch das Helm-Stierlin-Institut mit. Im Gespräch mit Rüdiger Retzlaff erläutert Gunther Schmidt die Bedeutung einer wertschätzenden und allparteilichen Haltung in der Begegnung von Therapeut:innen und Klient:innen, ohne darauf zu verzichten, auch als Therapeut:in eigene Angebote zu machen, wie es in der Figur des "Realitätenkellners" metaphorisch präzise gefasst ist. Therapeut:innen als relevante Umwelten für Klient:innen sind verantwortlich dafür, wie sie diese Umwelten gestalten, was sie darin anbieten und wie sie damit umgehen, was Klient:innen darin und damit machen.




Bleiben sie informiert, bleiben Sie im Gespräch. Im Podcast Heidelberger Systemische Interviews mit dem Carl-Auer Verlag und dem Helm-Stierlin-Institut.
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Transkription des Interviews


Retzlaff Ja. Herzlich willkommen zu den Heidelberger Systemischen Interviews. Es ist mir eine besondere Freude, dich, Gunther Schmidt, heute in dieser Reihe begrüßen zu können, noch dazu hier Im Weiher 12 in Heidelberg. Es ist für Systemiker eine sehr bekannte Adresse. Du bist ja in Deutschland einer derjenigen, die am längsten dabei sind. Du hast in der Abteilung von Helm Stierlin als erster Student gewirkt. Danach hast du da durchgearbeitet, die i.g.s.t. mit gegründet, das Milton-Erickson-Institut gegründet und du warst intensiv auch bei der Gründung des Helm-Stielrin-Instituts dabei. Und wir kennen uns, glaube ich, noch aus der Zeit, als du mal am Psychologischen Institut in Tübingen einen Vortrag gehalten hast. Da habe ich dich angesprochen, und danach habe ich anhand von Interviews von dir über Zirkuläres Fragen gearbeitet. Aber das ist schon sehr lange her. Das war ja eine Zeit, auf die ich gerne mal zu sprechen kommen wollte, in der es eine große Faszination an Sprache gab, und die Idee: Information, das verändert etwas und das bewirkt ganz viel in den Familien. Und jetzt gibt es ja auch die Idee: Reden allein reicht nicht. Von Paul Watzlawick der schöne Satz, dass Sprache gar nicht das wichtigste Medium für Veränderung ist, es gibt ja auch viele andere. Und ich erlebe dich als jemanden, der auch sehr aktiv ist in Therapie jenseits von Sprache auch. Wie stehst du heute zu dieser Idee von Anstöße geben, kognitive Veränderungen bewirken, auf der Ebene der Episteme arbeiten, und dergleichen mehr?


Schmidt Na ja, also als wir begonnen haben mit der systemischen Arbeit, das war damals für uns all, glaube ich, unglaublich befreiend und faszinierend. Und da war auch immer der, ich nenne es mal lieber der Glaube dabei: Na ja, wir müssen auch noch nicht einmal mal das Individuum mehr in seiner internalen Dynamik betrachten. Ändern wir die Interaktionen, ändert sich das Individuum mit. So auch bei Selvini mit Paradoxon und Gegenparadoxon. Mit Sprüchen wie: Es gibt keine einseitige Macht in Beziehungen, oder Kontrolle, wenn es Macht im System gibt, dann liegt die in den Spielregeln des Systems, ändern sich die Spielregeln, ändern sich die Individuen mit. Dann haben wir aber die Autopoiesis-Konzepte von Maturana, Varela und so weiter kennengelernt. Und da wurde mir dann schlagartig deutlich: Das ist ein Missverständnis. Denn wir können natürlich interaktionelle Wechselwirkungen eventuell sehr stark beeinflussen. Das bedeutet noch lange nicht, dass ein autonomes Individuum deswegen gezwungen ist, etwas zu ändern. Das kann immer noch so bleiben. Also war es wieder wichtig für mich, auch die internalen Prozesse anzuschauen. Deswegen habe ich mich dann auch noch entschlossen, zu Milton Erickson selbst zu gehen und dessen Konzepte kennenzulernen, die ohnehin sozusagen die Mutter der systemischen Konzepte auf eine Art sind, was zwar manche Leute nicht mehr wissen, die reden lieber über Bateson, Haley, und so weiter. Und da habe ich ganz klar kapiert: Wir müssen auch diese unwillkürlichen Prozesse am meisten beeinflussen, denn aus denen entstehen eigentlich die Symptome. Die sind aber erstmal schneller und stärker und nicht unbedingt verbal. Und da wurde dann deutlich – zum Beispiel in den 90er Jahren besonders beliebt, 200er, Wittgensteins Zitat "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt" – wenn man jetzt aber diese Konzepte nimmt und auch die in der Zwischenzeit weitergegangen Forschung zur Polyvagal-Theorie und so weiter, dann zeigt sich: Das Ende meiner Sprache ist noch lange nicht das Ende meiner Welt. Da fängt es erst richtig an. Wenn wir unwillkürliche Prozesse erreichen wollen, dann müssen wir mit allen Sinneskanälen arbeiten, sehen, hören, schmecken, riechen, empfinden mit dem ganzen Körper. Das ist aber kein Gegensatz zur Kognition. Es muss nur ergänzt werden. Also kognitive Prozesse sind unheimlich wichtig und hilfreich. Aber sie reichen nicht aus, unwillkürliche auch nicht. Also müssen wir die Kooperation zwischen bewusst Willentlichem und Unwillkürlichem stärken. Und alles, was in meinen hypnosystemischen Konzepten läuft, zielt genau darauf ab.


Retzlaff Ich weiß nicht, ob du dieses Buch über Spielräume noch im Sinne ist, das ich mal geschrieben habe. Da geht es ja auch sehr stark darum, Erfahrungsräume zu schaffen, also dass Menschen eigentlich – vielleicht auch ein bisschen im Sinne der alten humanistischen Verfahren – ich will gar nicht sagen, "selbst aktualisiert im Hier und Jetzt", aber auch spielerisch rangehen und bestimmte Muster verlassen. Und dadurch in einer anderen Weise sich miteinander organisieren, aber natürlich auch nach innen organisieren.


Schmidt Genau. Und dazu gehört aber halt auch eine bestimmte Art von Kontexterleben. Spielräume ist ein sehr schönes Wort, weil es den Raumbegriff – der ist ja nicht nur rein physikalisch zu sehen –, den Erlebnisraum betrifft. Der fängt schon mit sich selber an. Wenn ich zum Beispiel ein Symptom erlebe bei mir, oder etwas Unerwünschtes, und ich gehe dann abwertend dagegen vor, dann wird der Spielraum schon wieder enger. Ich muss also auch schon lernen können, oder eine Haltung entwickeln können, wie ich neugierig, wertschätzend mit meinen eigenen unerwünschten Prozessen umgehen kann, wie ich die verstehen, nutzbar machen kann und auch, wie ich zu Kontexten beitragen kann. Aber da brauchen auch die Regelungen, in Organisationen zum Beispiel, die Sicherheit, Wertschätzung, Verbundenheit und Fairness ermöglichen. Und dann kommt der Spielraum zustande.


Retzlaff Da gibt es ja fast ein Dogma in der systemischen Therapie, dass man eigentlich keinen Einfluss nimmt. Ich glaube, dass das gar nicht geht. Ich bin immer ein Gestalter von Kontexten. Und wenn du sagst, dass wir Einfluss nehmen, dass Leute sich selbst organisieren können, dann geht es ja auch ein Stück um eine affektive Rahmung, also dass wir Bedingungen schaffen, zum Beispiel für Selbstexploration, für Kreativität, wenn Leute angespannt sind oder gestresst sind oder "depri" sind, und nicht unbedingt in einem Zustand, der optimal ist für das Generieren von Lösungen.


Schmidt Also vielen Dank dafür, das ist ein wichtiger Punkt aus meiner Sicht. Hypnosystemisch würde ich das so beschreiben: Wir haben nicht ein Ich, sondern viele Ichs. Und wenn jetzt jemand kommt und es geht ihm richtig schlecht, dann kann man aus den ganzen Forschungen zum autobiografischen Gedächtnissystem auch klar zeigen kann sind trotzdem die Potenziale, die Kompetenzen für hilfreiche Entwicklungen schon in ihm. Das nützt ihm aber gar nichts im Moment, weil er keinen Zugang dazu kriegt und meistens auch nicht weiß, wie das geht, dass man da Zugang kriegt. Deswegen halte ich diese Konzeption in der systemischen Arbeit für fatal, richtig für fatal. Sie ist nicht hilfreich. Da wird auch was verwechselt. Da wird der Inhalt eines Angebots verwechselt mit der Beziehungsgestaltung dabei. Und auf der inhaltlichen Ebene kann ich alles Mögliche anbieten. Das ist nie ein Problem, wenn es nicht von oben herab geschieht, in dem Sinne "Ich bin der Wissende und glaube, du hast es noch nicht kapiert". Ich gehe davon aus, eine gute Psychotherapie ist für mich erst eine gute Psychotherapie, wenn sie auch eine gute Weiterbildung für die Leute enthält. Nicht Psychoedukation, weil das Wort Psychoedukation heißt für mich schon wieder ein Oben-Unten.


Retzlaff Ja, unbedingt.


Schmidt Aber ein Angebot von Weiterbildung, in dem man die Leute informiert: "Also wenn Sie das so machen können oder so, könnte es sein, dass bei Ihnen das so und so eher hilfreicher wirkt. Probieren Sie es doch mal aus." Also ich nenne mich deswegen schon lang – im Spaß – nicht mehr Therapeut, sondern Realitätenkellner, indem ich Multiple-Choice-Menüs anbiete bei über die Fragen: Wenn Sie es so machen würden, wenn Sie sich so sehen würden, so bewerten, wenn Sie so mit sich umgehen, wenn Sie so kommunizieren würden, so, oder so, wie würde es sich auswirken, bezogen auf ihr angestrebtes Erleben, hilfreich oder nicht? Das innere Wissen ist bei den Leuten da, aber die Idee, wie sie die Unterschiedsbildung machen können – Veränderung entsteht durch Unterschiedsbildung – die ist oft nicht vorhanden. Da, finde ich, haben wir eine ethische Bringschuld.


Retzlaff Ich finde es auch immer seltsam, wenn Leute in einer Beratungsstelle arbeiten, als Berater bezahlt werden, und Leute kommen, die Ratschläge wollen und die nicht bekommen.


Schmidt Ja, auf eine Art ist das missachtend.


Retzlaff In der humanistsichen Aufklärung stellt man ja Wissen zur Verfügung, stülpt es nicht über, sondern eher so: Das ist ein Weg, und das ist ein Weg, und das wahrscheinlich ein Abweg.


Schmidt Ich glaube sogar, wenn man das auf so eine Art macht, indem man es anbietet, immer transparent, mit "Produktinformation, wie ich das nenne, also erläuternd, dann erhöht man sogar die Würdigungsmöglichkeit für die Leute und ihre Wahlmöglichkeiten. Kybernetik, Heinz von Foerster, "Handle stets so, dass du mehr Wahlmöglichkeiten has", das wird durch solche Angebote verstärkt, und damit kommt eine achtungsvolle Kooperation von kompetenten Kooperationspartnern zustande.


Retzlaff Ich habe bei Jeff Zeig, der ja auch bei dir zu Gast war und wir waren zusammen essen, was Schönes gefunden. Er hat eben gesagt, dass Therapeuten eine evokative Sprache benutzen sollten, Erlebnisräume eröffnen, und man Erfahrungsräume anbietet, die ein anderes Erleben ermöglichen. Das, finde ich, ist eine sehr schöne Formulierung, und man ist schon auch aktiv dabei.


Schmidt Natürlich, unbedingt. Ich versuche das auch in meinen Weiterbildungen immer zu betonen: Alles, was die Therapeuten oder Berater anbieten, kann für die einzigartigen Menschen, mit denen wir arbeiten, niemals ein Wissen sein. Es ist mmer eine Hypothese, aber die kann ich doch anbieten. Und dann aber fragend. Und die oberste Autorität, die auswählt oder ablehnt, ist eben dann der Klient, der Empfänger der Botschaft. Der bestimmt ja ohnehin die Bedeutung, wissen wir doch aus der Autopoiese. Ich gehe nicht mehr davon aus, dass ich eine Intervention mache. Ich will eine machen. Aber ob es eine wird, bestimme nicht ich, sondern der Empfänger der Botschaft. Dann kann ich ja gleich fragen. Evozieren heißt ja eigentlich aufrufen. Es ist also schon da, es wird wieder wachgerufen.


Retzlaff Ich muss gerade schmunzeln, denn es gibt ja eine Diskussion über die systemische Therapie im Kassenverfahren. Aber das hat auch bestimmte Vorteile. Da ist es nämlich ganz klar in den Regeln: Der Chef der Therapie, der Behandlung, ist der Patient, ist das Subjekt, der ist Auftraggeber, und ich diene dem und mach ihm Vorschläge. Und wenn ihm das nicht passt, dann wird nicht behandelt, sondern wir handeln zusammen.


Schmidt Du bist Dienstleister.


Retzlaff Das ist aufgeklärt.


Schmidt Ja, und für eine Dienstleistung wird man bezahlt, aber dann natürlich im Sinne des Auftraggebers.


Retzlaff Das bedeutet aber auch, wenn man solche Räume gestaltet oder bestimmte Angebote macht, man bringt sich ja schon auch als Person ein. Ich habe dich immer als sehr engagierten Menschen erlebt. Von Dirk Revenstorf kommt in einem Artikel über "Das Kuckucksei der pharmakologischen Forschung" so ein schöner Satz vor, den ich mir gemerkt habe: Klienten wollen als Therapeuten, als Gegenüber, keine blasse , die sagt, willst du dich ändern oder nicht, es bleibt dir überlassen, das ist Larifari. Und das heißt, das Engagement von uns, glaube ich, ist auch Teil von diesen Erfahrungsräumen, also diese Inspiration, das Wecken von Hoffnung zum Beispiel, ist was ganz anderes, als zu sagen, also ich weiß dann auch nicht ...


Schmidt Das ist ganz entscheidend: unsere Arbeit ist Beziehungsarbeit, und nicht nur reine Technik ohne diese Beziehungskomponente. Und dies setzt voraus, dass der andere erleben kann "Hey, ich bin wichtig für den, ich bin bedeutsam, und der ist engagiert für mich, und dem ist es nicht gleichgültig, was mit mir ist". Das ist überhaupt die tragende Basis dessen, was nachher dann kommt. Das weiß man doch aus der ganzen Evaluationsforschung. Die Technik ist schon wichtig, aber zweitrangig auf eine Art sogar, die Beziehungsgestaltung ist erstrangig. Gerade wenn es zum Beispiel um Traumatherapie geht, da habe ich das jetzt schon öfter wieder gehört von Leuten. Schauen wir auf so systemische Konzepte wie Neutralität – die fanden wir alle klasse, wir haben sie immer propagiert. Ich nutze schon lange nicht mehr den Begriff der Neutralität, weil ich in vielen Supervisionen schon den Eindruck habe, dass Neutralität von manchen systemisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen so verstanden wird: Ich bin Neutrum, ich beziehe auch keine klare Stellungnahme. Dann bist zu aber nicht in Beziehung. Martin Buber hat schon gesagt, das Ich entsteht in der Begegnung mit dem Du. Aber da brauchst du ein Du brauchst, das dich wertschätzt, also wichtig nimmt. Und dann habe ich schon von Leuten gehört, gerade im Traumabereich: Na ja, die Leute haben sich schon sehr bemüht, aber eigentlich waren sie irgendwie nicht so richtig spürbar, und daraus habe ich geschlossen, die schützen sich vor mir, ich bin halt doch eine größere Belastung, die niemand aushält. Also ist klar: Ich halte ich aus, ich bin dabei, ich unterstütze dich. Klar, du bist autonom. Deswegen rede ich lieber wieder von Allparteilichkeit.


Retzlaff Ich finde, das ist ein sehr viel ein warmherzigerer Begriff. Und man kann sich dann auch erlauben, mal zu validieren und zu sagen, das ist wirklich schlimm, was du da erlebt hast. Das brauchen Menschen ja auch.


Schmidt Ich hatte gerade heute Morgen jemanden, der erzählte von der Geschichte seiner Familie, jüdischer Herkunft, und was die alles erlitten haben. Das hat mich so berührt, dass Tränen in mir aufstiegen. Da mache ich keinen Hehl draus, sage, ich könnte grade heulen. Ich habe dann nicht wirklich geheult. Natürlich, wenn das dann plötzlich zu meinem Spielraum wird, ist das schlecht. Das ist ja nicht die Idee. Aber diese Berührung, das ist sowas von hilfreich.


Retzlaff Ganz klar. Es geht um Mitgefühl. Nicht Mitleiden, sondern Mitgefühl haben. Auch das sind ganz wesentliche Qualitäten. Es gibt ja Forschung über allgemeine Therapiefaktoren, die ich sehr spannend finde. Das hat mich schon als junger Student wahnsinnig inspiriert, in den 70er Jahren, dass da gesagt wurde, dass Heilrituale von Schamanen in Brasilien, Gruppentherapie neuer Prägung und Lordes, ähnliche Züge aufweisen. Also genau solche Faktoren. Hoffnung auch. Die Idee, da ist was drin, da ist was möglich. Und ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Faktor, oder?


Schmidt Das finde ich sehr entscheidend. Und das ist natürlich wieder auch ein zusätzliches Argument für die ganzen ressourcen- und kompetenzorientierten Konzepte, schon in der in der Vorannahme, wenn jemand kommt und wenn er zum Beispiel 20 Jahre schon furchtbar gelitten hat, kann man sagen: Ja, Sie haben gelitten, es ist sehr schlimm und ich begleite Sie darin. Und eins ist klar: Die Fähigkeiten für hilfreiche Prozesse sind schon in Ihnen, und wir suchen die und finden die. Das ist ein unglaublicher Hoffnungsquell, und dieser Hoffnungsquell trägt dann.


Retzlaff Das bedeutet doch auch, dass man sich in der Beziehung auch ganz schön einbringt. Das ist ja immer ein Risiko. Und das kennen die Vertreter anderer Therapieverfahren auch. Stelle ich mich zur Verfügung, als Resonanz vielleicht, oder bleibe ich außen vor? Und ich glaube, wenn man außen vor bleiben würde – das geht gar nicht so richtig – ein großer Teil der Wirkung würde verpuffen.


Schmidt Und man selber verarmt auch ein bisschen dabei. Insofern ist es auch für einen Therapeuten sehr schade, wenn er sich gar nicht einbringt. Ich erinnere mich in Lindau, das war sehr witzig damals. – Na ja, witzig ... Der Professor Stolze hat mich da immer wieder eingeladen. Das war aber in erster Linie eine tiefenpsychologische Hochburg damals. Da habe ich zu ihm mal gesagt: Herr Stolze, wo mehr diese pathologieorientierten Konzepte gelten, da bin ich doch gar nicht passend. Er hat gesagt: Nein, wir brauchen so Leute, kommen Sie ja wieder. Na ja, und dann habe ich es so gemacht. Und in Seminaren saßen dann oft ganz bekannte, aber sehr kritisch und abwertend guckende Lehranalytiker, die renommierten, bei mir drin. Aber witzigerweise, nach dem zweiten Jahr, sind zwei drei zu mir gekommen und haben gefragt, ob sie nicht bei mir mal ein paar Sitzungen machen können. Ich habe gefragt: Sie als erfahrener Lehranalytiker? Und einer hat gesagt: Ja, ich werde so depressiv in meiner Arbeit. Dies ist ein Ergebnis davon, dass man sich nicht einbringt, glaube ich, unter anderem.


Retzlaff Wobei mein Eindruck ist, dass Lindau sehr viel bunter geworden ist.


Schmidt Gott sei Dank.


Retzlaff Und das ist schon sehr schön. Ich komme auf das Thema von Buntheit. Ich bin auch Gutachter für systemische Therapie, für die Kassenanträge. Und es geht häufig so – allein weil die Vorgaben so sind – um Biografie, und dann leiten manche Kollegen daraus ab: Wir haben jetzt die Störung, weil die Kindheit so war, oder sie machen so eine Gleichung: Trauma gewesen, jetzt ganz klar deswegen die und die Beschwerden. Und ich denke, das ist ja furchtbar linear.


Schmidt Ja klar.


Retzlaff So kann das als Systemiker eigentlich nicht sehen. Wir gehen ja eher davon aus, dass in einer bestimmten gegenwärtigen Situation Probleme auftreten aufgrund von Mustern, die wir in uns tragen, die vielleicht auch mit beeinflusst sind von der Vergangenheit. Aber wir haben ja einen sehr großen Gestaltungsspielraum auch. Natürlich machen Traumen etwas mit Leuten, was sie aus den traumatischen Erfahrungen oder aus der Kindheit machen.


Schmidt Da würde ich gern etwas dazu sagen. Das ist etwas, da werde ich oft sehr engagiert. Aus hypnosystemischer Sicht kann man diese Annahme, weil die Kindheit so war, war das und das, also die Ursache des Lebens heute, in ein paar Minuten widerlegen. Erstens mal – aus der Hirnforschung wissen wir das genau – Erleben wird immer in der Gegenwart erzeugt. Im Gehirn gibt es streng genommen gar keine Vergangenheit und Zukunft. Was relevant wird, sind Bilder oder Prozesse der Gegenwart. Aber es kommt einem so vor, als ob es Zukunft oder Vergangenheit wäre. Angst, zum Beispiel, kann man schon gar nicht wegen der Vergangenheit haben. Angst setzt immer eine Imagination einer bedrohlichen Zukunft voraus, in der man sich selber hilflos fühlt. Das ist eine zukunftsorientierte Sache. Aber ich mache es gerade in Traumabereich so: Da fange ich bei Vorträgen schon so ein bisschen offensiv an, damit es da eine kontroverse Diskussion gibt, die ich mir erhoffe. Ich sage gleich zu Anfang: Die Vergangenheit bestimmt im Leben niemals das Erleben in der Gegenwart. Sie ist eine starke Einladung, ja. Aber bestimmen? Im Leben nicht. Warum? Was bestimmt die Wirkung? Die Gestaltung der Gegenwart. Und die kann man unterschiedlich machen, weil ich tausende von Erlebnismöglichkeiten in mir habe, die in der Gegenwart aufgerufen werden können. Wenn ich in der Gegenwart jetzt ein Erleben aufrufe, mit geschützter Haltung, Schutz und Übersicht und Abstand zu den Dingen, dann kann ich sogar mit einem Flashback, der mich vorher überflutet hat, konstruktiv und sogar nutzbar machend umgehen. Das liegt nicht an der Vergangenheit. Klienten sagen dann oft bei uns – in der Systelios-Klinik haben wir ja viele solche Klienten– ich habe das und das Schlimme erlebt, das ist die Ursache dessen, dass es mir heute so gut. Ich vergleiche das dann mit toten Systemen: wenn Sie ein Auto wären, wäre das adäquat wäre, dann gilt, wenn die Zündkerze kaputt ist, dann springt´s halt nicht an. Ursache, Wirkung. Mit dem Auto können Sie machen, was Sie wollen, wenn Sie die Ursache nicht beheben, wird die Wirkung bleiben. – Aber seitdem Sie es erlitten haben, ist da immer die Wirkung gleich gewesen? Natürlich nicht. Es gibt in der Gegenwart immer Variationen. Und da, finde ich, haben Therapeuten die ethische Pflicht, zu prüfen und verstehbar zu machen, wie kann's den kommen – wo man die sogenannte Ursache doch gar nicht mehr verändern kann – dass es in der Gegenwart immer Unterschiede gibt? Na weil die Potenziale schon da sind, und die werden dann aktiv aufgerufen.


Retzlaff Yalom hat mal was geschrieben, was ich auch bei Haley gehört habe, nämlich dass – nach deren Einschätzung ein bisschen pessimistisch –die therapeutischen Ansätze heute eher so ein bisschen ein bisschen flacher sind, also in dem Sinne: Alle arbeiten mit Teilen, das ist wunderbar, alle arbeiten mit Achtsamkeit, so ziemlich alle machen was mit Ressourcen – ja, wo sind da eigentlich noch die Unterschiede? Und dann lese ich solche Fallkonzeptionen, Teile so und Ressourcen anders und so, das Ganze bleibt dann aber so linear, das bleibt so wie auf einem Blatt Papier, und das Ganze kommt nicht so richtig ins Leben. Und das Systemische ist ja eigentlich auch eher, dass man eine Familiengeschichte nimmt, oder eine persönliche Geschichte nimmt, und schaut, wie Leute mit sich und der Welt umgehen und was sie daraus machen. Und dann hat man die Teile dabei, dann hat man auch bestimmte Geschichten, die Einschränkungen sind oder öffnend sind. Aber das ist doch anders, als wenn ich, sozusagen, diese Summe der Teile für das Ganze halte.


Schmidt Da fehlt entscheidend was. Das hat mich eigentlich schon seit sehr früher Zeit, aber in den letzten Jahren immer mehr, beschäftigt. Angefangen mit den Konzepten von Viktor Frankl, mit denen ich mich intensiv auseinandergesetzt habe. – Wenn ich mich dann zum Beispiel frage: Teil eins bis x und das und jenes und was machen die Leute, auch in ihrer Systemorganisation? Wofür machen sie das denn? Dann komme ich immer mit den Klienten bei der Sehnsucht nach erfüllenden Sinn an. Und das geht über die übliche Organisationsbetrachtung von Interaktion und Mustererkennung hinaus. Das gehört natürlich dazu, aber die treibende Kraft ist: Die Menschen sind offensichtlich sinnorientierte Wesen. Und wenn der Sinn nicht in den Fokus gerückt wird, dann bleibt es irgendwie flach. Das "flach" zu nennen finde ich gar nicht schlecht. Das merkt man richtig, wenn sie sich damit beschäftigen und sie finden dann so was plötzlich was, da musst du gar nichts machen, da ist es ganz ruhig, und ganz kraftvoll, und auch würdigend. Und das macht mir eigentlich den Sinn aus bei der Arbeit.


Retzlaff Ich glaube, es ist auch ein wesentliches Moment, das in dieser Theorie der Salutogenese von Antonowsky auftaucht – was gar nicht so bekannt ist – dass der das als ein systemisches Familienkonstrukt gesehen hat, dass eine Familiengruppe eine bestimmte Einstellung zum Leben hat. Familien-Welt-Anschauung, sagen die. Eine tiefe Grundüberzeugung, "es lohnt sich" oder "wir halten zusammen" oder "wir kriegen das schon hin". Und das wäre eigentlich das Prinzip Hoffnung, von dem wir es vorhin schon hatten. Das Gegenteil von der Opfer-Position, die viele von unseren Klienten doch einnehmen. Das ist für mich wie so eine Art Linse, die alles grießgrau färbt. Man sagt: Einmal Opfer, immer Opfer. Wenn man das mal anfängt, dann bestätigt man sich natürlich in der Sicht, dass man immer Opfer bleiben wird.


Schmidt Wenn die Salutogenese anführst: Stichwort Kohärenzerleben, sense of coherence. Da ist das ja schon drin, dass man das Erlittene beispielsweise mit einem Sinn versehen kann. Aber nicht so: Es hat Sinn, sondern ich gebe ihm einen Sinn. das ist einen Riesenunterschied. Und dann aber auch schauen, dass ich daraus Planungen für die Zukunft mache, und zwar solche, die mir den Eindruck machen, ich kann auch wirklich da selbstwirksam etwas dafür tun. Und das ist typischerweise halt auch nicht nur individuell ¬– natürlich wirkt es sich dann da aus – aber wenn du in einer Familie lebst, in der schon immer gesagt wird "die da oben, wir da unten, wir können nichts machen und du musst dich mit abfinden", dann ist der sense of coherence natürlich schwach ausgeprägt. Aber eigentlich ist es etwas, was im sozialen System geprägt werden muss. Und so sollten wir auch mit den Leuten arbeiten, finde ich. Deswegen sind für mich diese Sinnfragen immer so zentral.


Retzlaff Ich glaube, man muss sich aber auch trauen. Man verlässt dann ein Stück weit Neutralität, möglicherweise. Aber wenn man nicht neutral sein muss, dann kann man sich auch einbringen. Dann entsteht ein Dialog, dann entsteht Ich-Du-Beziehung.


Schmidt Ich bin nicht neutral ... Und die Ich-Du-Beziehung entsteht aber nur, wenn du dich einbringst, aber dabei die bleibende Unterschiedlichkeit des Anderen und seine Autonomie respektierst.


Retzlaff Und gehört nicht eigentlich auch dazu, dass man riskiert, dass man sagt: Ich bin anderer Meinung?


Schmidt Selbstverständlich.


Retzlaff Und auch mal Konflikte hat.


Schmidt Selbstverständlich. – Ich habe das oft. Letze Woche war ein Klient da, der massiv selbstabwertend mit sich umgeht. Dann sag ich ihm aus meiner Sicht und nach meinen Erfahrungen – ich habe Erfahrungswerte, jede Menge – : Wenn Sie da eine andere verständnisvollere Beziehung zu sich selber aufbauen würden, dann würde es, nach meiner Einschätzung, Ihnen besser gehen. Das hat er sich fünfmal angehört, und dann gesagt: ja, mache ich aber nicht, ich bin ein blöder Depp. Ich sage: Wissen Sie, ich würde Sie gern gewinnen. Ich bleibe dabei. Ich kann Sie noch nicht gewinnen, aber ich werde sie immer wieder anbaggern – das sage ich auch genau so – weil ich davon überzeugt bin. Sie müssen es aber nicht machen. – Das Interessante ist, dass das, wenn ich es so mache, die Leute als verstärktes Interesse an ihnen erleben, denn ich respektiere ja ihre andere Wahl. Ich sage nicht: Jaa, wenn Sie sich nicht einlassen oder so was, das hat natürlich keinen Sinn. Ich sage: Natürlich, Sie haben gute Gründe, es so zu machen; ich gehe davon aus, anderes wäre hilfreicher, aber ich respektiere, wenn sie es nicht wählen, aber ich werde Sie immer wieder einladen, bis es Ihnen auf den Wecker geht.


Retzlaff Dann haben wir als Therapeuten aber eigentlich wieder eine sehr viel stärker verantwortliche Position, nämlich für uns selber, als das lange Zeit in der systemischen Therapie vorgetragen wurde.


Schmidt Das hat mich schon immer gestört in der systemischen Arbeit. In der Aufnahme der Autopoiesis-Forschung, da war dann immer so schön die Auffassung: Das System ist autonom, hat sich immer selbst zu regulieren, wir können es höchstens verstören, aber dann ist alles Selbstverantwortung. Das sehe ich nicht so. Wenn man Luhmanns Systemtheorie nimmt, zum Beispiel, da kann man doch klar sagen, wir sind Umwelten füreinander und für die Art, welche Umwelt ich für dich, wenn du der Klient wärst, bin, da bin ich verantwortlich, nicht der Klient. Natürlich kann er immer noch alles machen, autonom. Aber ich kann eine förderliche, eine langweilige oder gelangweilte oder sogar eine abwehrende Umwelt werden. Und dafür bin ich verantwortlich. Therapeuten sind für ihre Beiträge verantwortlich, und dafür sollten sie auch die Verantwortung übernehmen.


Retzlaff Eine handlungsleitende Metapher von vielen Therapeuten war ja so: Man muss sich durchsetzen, Grenzen setzen, oder so was. Das ist dann ziemlich aus der Mode gekommen. Eine andere: Man bietet nur so Ideen an. Aber man kann ja auch Leute gewinnen, man kann sie verführen oder man kann sie begeistern, inspirieren, oder man kann spielen.


Schmidt Man kann werben, locken, einladen. Ich verstehe meine "Interventionen" immer als Einladung, aber die kann ich natürlich so dahinrotzen, sozusagen, oder ich kann sie so machen: Oh wow, das habe ich ja noch gar nie gedacht, Interessiert mich aber. Und insofern sind wir auch Verkäufer von Realitäten. Und dann wäre es gut, wir verkauften sie so, dass wir kundenorientiert den Kunden achten, aber ihm auch Hoffnung machen können.


Retzlaff "Selling the intervention" haben die das bei Watzlawick beigebracht. Und dazu gehört auch einiges dazu, dass man einfach Lust und Laune und Begeisterung bekommt.


Schmidt Ja, warum soll ich als Klient etwas übernehmen, wo schon der Therapeut depressiv guckt, wenn er es anbietet?


Retzlaff Ja, ich glaube bei dir kommt auch eine große Begeisterung rüber, und ich glaube, das ist auch extrem inspirierend für Klienten, auch für Kursteilnehmer, aber natürlich auch für unsere Arbeit. Und wenn man selber an das glaubt, was man macht, das macht ja einen wesentlichen Unterschied.


Schmidt Wenn man mit der Haltung arbeitet, ist meine Erfahrung, selbst wenn ich viele Therapie hintereinander mache, habe ich danach mehr Energie als vorher. Das glauben manche Leute gar nicht, aber das erlebe ich ständig. Das hat aber nur mit der Haltung zu tun.


Retzlaff Ja. Vielleicht ist das einen wunderschönen Punkt, um einen Punkt zu machen. Eine Frage, die Matthias Ohler und ich auch gerne stellen: Gibt es auch irgendetwas, was du gerne ansprechen, aussprechen wolltest, was jetzt noch nicht zur Sprache gekommen ist?


Schmidt Vielleicht etwas so für die Systemiker, wir richten uns ja auch unsere systemischen Kollegen. Das ist indirekt schon angesprochen worden, dass wir uns mit unseren eigenen Prozessen viel beschäftigen und dass wir unsere eigenen Prozesse als wichtige Quelle unserer Arbeit nehmen und deswegen nicht nur mit den Klienten und über sie sprechen, sondern uns auch mit uns beschäftigen und das als eine wertvolle Quelle sehen. Die Nutzung der eigenen Prozesse in der Begegnung mit Leuten. Ob ich ärgerlich werde, ob ich traurig oder müde werde, gelangweilt, oder so was. Das sind alles wertvolle Prozesse, die aber keine Aussage über den Klienten darstellen. Da hört man manchmal so: Der Klient nervt mich, oder der macht das und das. Wir nehmen sie so wahr. Und damit ist es achtenswerte Information über unsere Bedürfnisse in der Begegnung. Sich damit mehr einzubringen und dann aus dieser reinen Metaebene – die wir ruhig beibehalten kann – mit in eine zweite Ebene zu gehen. Sowohl als auch, in die direkte Begegnungsebene. Das auszubauen, das wäre toll. Und sich damit auch natürlich mit den nonverbalen, nicht-kognitiven Prozessen mehr zu beschäftigen. Wir haben halt einen Körper dabei, wenn wir uns begegnen.


Retzlaff Okay, Gunther, ich danke ich Dir ganz herzlich für dieses schöne Interview. Super, dass das geklappt hat. Und bis auf Weiteres zu einem neuen Interviewtermin hier bei den Heidelberger Systemischen Interviews.


Schmidt Ich danke dir!