Organisationen als autopoietische Systeme?
Ein modelltheoretisches Problem fehlender theoriegenealogischer Legitimation bei Luhmann?

Nach “Organisation und Entscheidung” von Niklas Luhmann, 2000, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, müssen wir davon ausgehen, dass Niklas Luhmann Organisationen als geschlossene, als autopoietische Systeme versteht, auch wenn er dort auf Seite 59 schreibt:


Durch Vollzug von Kommunikation reproduziert jede Organisation [daher] nicht nur sich selbst, sondern, wie jedes soziale System, immer auch Gesellschaft.


Modellbautechnisch bedeutet Organisation als autopoietisches System, dass Luhmann damit Gesellschaft zur Umwelt von Organisationen macht, wenn er ihnen operative Geschlossenheit, beziehungsweise Autopoiese so zuschreibt, dass auch Gesellschaft zur Umwelt von Organisationen wird.


Das würde bedeuten: Er macht Kommunikation zu Umwelt von Kommunikation.


Wir wissen:


Luhmann hat keine eigene Autopoiese-Theorie entwickelt.


Er bezieht seine Autopoiese-Theorie aus der Biologie.


Er baut seine Theorie-Genealogie auf der theoretischen Biologie und damit zusammenhängender empirischer Forschung auf und bezieht daraus seine Legitimation für das Verwenden des Autopoiese-Begriffs.


Er bezieht seinen Autopoiese-Begriff von Humberto Maturana:


So schafft er sich Genealogie von Theorie und Anwendung - und Legitimation seines Autopoiese-Begriffs.
So schafft er sich faktische Härte.


Wenn er Organisationen als autopoietische Systeme, als operativ geschlossene Systeme1 bezeichnet, intendiert er dann auch, Organisationen gegenüber Gesellschaft zu schließen?
Was inkonsistent wäre, denn aus welchem Grunde sollte Kommunikation nicht anschlussfähig an Kommunikation sein?


Oder beschreibt er uns die Organisation als partizipierend an der operativen Geschlossenheit des Gesellschaftssystems und die Organisation sich somit als Teilsystem der Gesellschaft auch ihre gemeinsame Umwelt - Psychen, Autos, Steine, Berge, Wind und Wasser, Elektrizität, Sterne, Galaxien ... - mit ihr teilend?


Wenn nicht, dann würde folgen:


Kommunikation kann sich in der Umwelt von Kommunikation befinden.


In dem Falle bricht Luhmann mit der biologischen Theorie der Autopoiese, da sich nun Elemente des lebenden Systems in seiner Umwelt befinden könnten - das lebende System also quasi per gusto entscheiden kann, was zu ihm gehört und was nicht, wo es anfängt und wo es aufhört.


Aber genau das können lebende Systeme nicht, und falls Luhmann das anders gesehen haben sollte, ist er uns hierfür seine eigene funktionierende Theorie der Autopoiese für lebende Systeme ohne klare Abgrenzung zu ihrer Umwelt schuldig geblieben:


Auch wenn er es wusste, hat er uns nicht darüber aufgeklärt, wie er gedachte, das tote (offene) System zum (geschlossenen) Leben zu erwecken.


Mit Organisationen als geschlossene, autopoietische Systeme mit Gesellschaft als Umwelt, würde Luhmann den Autopoiese-Begriff Maturanas aus wissenschaftstheoretischer Modellbauperspektive so ändern, dass er rückwirkend nicht mehr biologisch funktioniert:


Er verliert damit seine theoretische Rückwärtsbindung und darüber seine theoretische Fundierung für seinen Begriff.


Er würde damit behaupten, dass sich die Organisation in Gesellschaft ihre Umwelt aussuchen kann:


Hier höre ich auf, da fängt Umwelt an.


Das Einzige, was demnach Anschlussfähigkeit der Gesellschaft an die Organisation verhindert, ist das Nicht-Einbauen-Wollen der Kommunikation in die Organisation durch die Organisation.


Das hieße: Organisation kann Umwelt durch Ablehnung schaffen.


Das kann kein biologisches System!


Kein biologisches System kann sich auf diese Weise aussuchen, wo seine Umwelt anfängt oder aufhört.


Keine Amöbe kann das, kein Sonnentierchen, kein Nervensystem, keine Zelle.
Und auch der Löwe kann sich nicht davon ernähren, dass er sich die Gazelle in den Bauch wünscht.


Biologische Systeme konstituieren sich zwar autonom, aber was sie in sich verbauen, liegt im Rahmen ihrer organisatorischen Möglichkeiten, und das für sie Unfassbare, nämlich ihre Umwelt, bleibt außerhalb.


Fazit:


Wenn Luhmann den Autopoiese-Begriff Maturanas so verändert, dass er rückwirkend nicht mehr an theoretische Biologie und ihre empirische Forschung anschlussfähig ist, also für sie nicht mehr funktionieren kann, kann er die biologische Autopoiese-Theorie nicht mehr als Begründung für seine Zwecke verwenden.


Dann muss Luhmann oder jemand anderer für ihn eine eigenständige und viable Autopoiese-Theorie liefern.


Die faktische Härte, die er sich durch Stützen auf biologische Zusammenhänge einzukaufen versucht hat, geht ihm verloren.


 


Lesen Sie hier inhaltliche Kritik am Autopoiese-Begriff für Organisationen und warum wir darüber auch nicht von "Struktureller Kopplung" zwischen Organisationen sprechen können:


Autopoiesis und Strukturelle Kopplung für Teilsysteme wie Organisationen und Konflikte?


---



1“Autopoietische Systeme sind operativ geschlossene und in genau diesem Sinne autonome Systeme. [...] Der Begriff der operativen Schließung lässt keine „Gradualisierung" zu; er lässt es, anders gesagt, nicht zu, dass das System auch in seiner Umwelt oder die Umwelt auch im System operiert...” Luhmann,“Organisation und Entscheidung”, Wiesbaden 2000, S. 51